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DIE KULTUR DER DEKADENZ
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3 t? I: 04
ECKART VON SYDOW
DIE KULTUR DER DEKADENZ
IM SIBYLLEN -VERLAG ZU DRESDEN
19 2 1
ALLE RECHTE VORBEHALTEN,
BESONDERS AUCH DAS DER ÜBERSETZUNG COPYRIGHT 1921 BY SIB YLLRN -VERLAG , G. M. B. H., DRESDEN
GESCHRIEBEN IN DEN JAHREN 1915 — 1916 UND 1920 IN STRASSBURG UND LEIPZIG
YOUNG UNIVERSn
PROVO. UTAH
CHARLES BAUDELAIRE
ZUM GEDÄCHTNIS
VORWORT
Das vorliegende Buch gehört zu einer Reihe von Arbeiten, deren gemeinsames Thema die denkerische Betrachtung und Untersuchung der Lebensverneinung bildet. Nachdem hier zunächst die „Kultur der Dekadenz“ durchforscht ist, wird sich das nächste Buch mit der „Metaphysik der Lebens* Verneinung“ beschäftigen.
ECKART VON SYDOW
t
INHALT
Einleitung: Die Dekadenz als geschichtliche Epoche und als Wesensfunktion . . . . .
Erstes Kapitel: Die Dekadenz im metaphy' sischen Bewußtsein
Das Wesentliche* ...........
Der Weltschmerz ..........
Das dekadente Welterlebnis und der Abgrund . Die Scheu vor dem Leben .......
Das Gefühl der Sinnlosigkeit des Daseins . .
Gegensätzlichkeiten ...........
Die Sehnsucht nach Betäubung ......
Der dekadente Kultus des Heros und des Dandy Der dekadente Lebensdurst .......
Der dekadente Hochmut ........
Der Frohsinn des Dekadenten .
Ausstrahlungen im Subjektiven .......
Die Reue .............
Die Lust am eigenen Schmerz . .
Die Blasiertheit ...........
Die Langeweile ...........
Die Übersättigung ..........
Das Grauen . .
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47
50
50
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64
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81
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Ausstrahlungen im Objektiven . . |
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83 |
Das dekadente Naturgefühl .... |
♦ ♦ ♦ |
83 |
Die dekadente Metaphysik .... |
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87 |
Das dekadente Zeiterlebnis .... |
♦ ♦ ♦ |
88 |
Die dekadente Geschichts<Philosophie . |
♦ ♦ ♦ |
91 |
Der individuelle Ursprung des Weltschmerzes |
95 |
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Zweites Kapitel: Die Dekadenz im S |
oziaL |
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Leben |
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Das soziale Fremdheitsgefühl. . . . |
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105 |
Neigung zur Mystifikation .... |
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110 |
Die dekadente Mitleidigkeit .... |
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113 |
Die dekadente Schadenfreude . . . |
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116 |
Dekadenz im Staatsleben . . . . ' . |
♦ ♦ ♦ |
118 |
Der Heimatlose |
♦ ♦ ♦ |
122 |
Dekadenz im Familienleben .... |
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124 |
Der dekadente Lebemann ..... |
♦ ♦ ♦ |
126 |
Dekadenz der Geselligkeit .... |
♦ ♦ ♦ |
148 |
Das Kaffeehaus ....... |
♦ ♦ ♦ |
148 |
Dekadente Freundschaf tslosigkeit . . |
♦ ♦ ♦ |
152 |
Dekadente Schüchternheit .... |
♦ ♦ ♦ |
154 |
Beruf slosigkeit ........ |
♦ ♦ ♦ |
161 |
Bohemien und Weltenbummler . . . |
♦ ♦ ♦ |
165 |
Verarmung . . . |
♦ ♦ ♦ |
180 |
DrittesKapitel: Die Darstellung derDek |
adenz |
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in der Kunst |
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Allgemeine ästhetische Reflexionen . . |
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187 |
Dekadentes Kunstgewerbe .... |
♦ ♦ ♦ |
196 |
Dekadente Architektur ...... |
♦ ♦ ♦ |
198 |
Dekadente Musik ....... |
♦ ♦ ♦ |
203 |
Dekadente Malerei ....... |
♦ ♦ ♦ |
206 |
Dekadente Plastik ....... |
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210 |
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Mimischer Ausdruck der Dekadenz Dekadente Romankunst ♦ ♦ ♦ ♦ Das dekadente Drama . . . . . Dekadente Lyrik ♦ . .
Schlußkapitel
Das Verführerische der Dekadenz ♦ .
Die Dekadenz als kulturelles Mittel
. . 217 • * 222 * * 227 . * 233
* . 249
• * 258
Zusätze
Hamlet .............. 27 5
Th. Gautiers „ Mademoiselle de Maupin“ . ♦ .279 Reuelosigkeit der eigentlichen Verbrechernaturen . 281 Die Stellung Baudelaires zum Problem der De* kadenz .♦♦.♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦ 284 Hermann Bangs „Die Vaterlandslosen“ .... 287
Huysmans* Roman „A Rebours“ . . . . . .291
E. Tardieus „L'Ennui“ ......... 294
Anmerkungen ............ 297
Personen^ und Sachregister ....... 321
Andere Arbeiten von Eckart v. Sydow ♦ . . 327
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EINLEITUNG
*
DIE DEKADENZ
ALS GESCHICHTLICHE EPOCHE UND ALS WESENSFUNKTION
Dies Buch ist Abschied und Vorwegnahme, Verurteilung und Preislied in Einem. Mitten in den Trümmern des zu- sammengebrochenen Alten stehend, müssen wir mit aller Kraft des neuen Aufbaues unserer Welt eingedenk sein. Aber indem wir alles Alte forträumen wollen, erblicken wir da und dort Dinge, mit denen unser Wesen und Werden so eng verbunden war, daß wir sie nicht wegzuschleudern wagen in Kehricht und Müll. Wir heben sie langsam in Augenhöhe, und unser Blick trübt sich von innen. Und doch drängt Welt und eigene Lebendigkeit zu ihrer Ver¬ nichtung — bei Gefahr des gegenwärtigen Lebens, das immer stärker zum Primitiven hin will. Wir können nicht wider¬ stehen, die innere Gewalt der geistigen Weltbewegung ist so allmächtig, daß unsere Augen längst anderen Dingen zu¬ gewandt sind, wenn auch unser Herz noch Altes überdenkt, Altes übertränt.
Die junge Generation, in deren frühe Reifezeit der wider¬ lichste aller Kriege fiel, hat nicht ein so schweres Schicksal von innen und außen her; sie weiß, was not tut: primitive Größe, brüderliche Mystik, unmittelbare Metaphysik. Bau¬ meisterliche Gesinnung, aus welcher der deutsche Idealis¬ mus seine schöpferische Kraft zog, ist nach drei Generationen in Deutschland wieder mächtig geworden, will wieder Säulen aus Granit den festen Bau der Geistigkeit tragen sehen.
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Satt haben wir es: das ewige Gerede vom Flusse des Da* seins, der alles unsicher hin und her schwanken mache; wir wollen ihm wieder Dämme entgegenstellen, damit er dorthin ströme, wo er unseren Absichten dient* Wir wollen uns nicht mehr treiben lassen, sondern schöpferisch tätig sein: voll von wiedererwachtem Verantwortlichkeitsgefühl und voll Sehnsucht zu absolutem Glück, Nach der traurigen Ebbe der letzten Jahrzehnte hebt sich die Kraft, so im Gött* liehen mächtig ist, zu neu heranströmender Flut.
Die Älteren aber sind unter der Schneide des Schwertes,
wandeln auf dem schmalen Grenzpfad zwischen Heute*
Morgen und Ehedem. Zu ihren engsten Erinnerungen ge*
hört freilich nicht das, dessen negative Schattenseite die so*
genannte Dekadenz ist: die bürgerliche Kultur der kleinen
Gebärde und der profitablen Lebenskunst. Bürgerlichkeit:
das heißt uns im innersten Kern: Mangel an metaphysi*
schem Tiefen*Sinn, Verhaftet* Sein dem Irdischen des aller*
engsten Kreises, dessen Peripherie rotiert, unablässig rotiert
um den einen saugenden Mittelpunkt: die Rentabilitäts*
berechnung. Nein, dies ist's wahrlich nicht, was wir be*
••
klagen, so wir traurig in den Zusammenbruch des Uber* kommenen blicken. Unsere Augen suchen im kleinherzigen Gewimmel jener Zeit gewisse Gestalten, deren Wuchs sich abhub von dem der anderen: Menschen mit durchgeistigten Zügen und etwas vornübergebeugter Haltung, die an schwere innere Lasten denken ließ. Sie waren keine Schutzhüter der bürgerlichen Gemeinschaften. Einsam standen sie mit Vorliebe am Rande der planetarischen Drehscheibe des bürgerlichen Geistes: Schildwachen, dem Chaotischen, Jen* seitigen zugewendet, lebende Grenzpfähle zwischen Drinnen
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und Draußen — oft auch nur lebendige Fragezeichen. Diese Menschen allein sind es, die wir beklagend in den Sturz der bürgerlichen Gesellschaft gerissen, mitgerissen sehen; wird ihre Kultur wiederkommen? fragen wir leise und zwei' feind. Sie hingen eben doch ganz eng zusammen mit dem Geiste der Bourgeois — wenn man von ihm reden darf. Denn allein diese festgewordene Gesellschaftsschichtung ermöglichte ihnen das ruhige Hinabsehen in den Abgrund, den sie um sich und in sich fühlten; jede lebensgefährdende Drohung von außerhalb hätte sie anderen Dingen, die inner' halb der menschlichen Gemeinschaftlichkeit lagen, zwang' voll zugewendet — ihr Bewußtsein vom Negativen unend' lieh geschwächt.
Oder geschähe ihnen nur recht im Zusammenbruch? „Ihr Mund floß ja über von Klagen und Verwünschungen— nun vollzieht sich äußerlich ihr inneres Geschick!“ So darf man nur sprechen, wenn man sie von rein bürgerlichem Standpunkte aus betrachtet: ohne die einer Gesetzlichkeit der unabwendbaren Wiederkehr bewußte metaphysische Stimmung. Sobald man aber jene Enge verläßt und auch in den Geistern der Verneinung Ewig' Menschliches fühlt, dann überfällt einen wie ein Sturzbach das Verständnis ihres besonderen, von den Gradlinig'Dahinlebenden so fernen Da' seins. Die Verwandtschaft wird deutlich: irgendwie gleich' artiges Herzblut muß im Schöpferischen wie im Ver' neinenden pulsieren!
Aber: ist Dekadenz bloß Verneinung? Oder ist nicht dies ihr eigentlich Wesenhaftes, daß ihr Charakter so überaus hin und her schwankt von kältester Verneinung bis zur heißesten Bejahung?! Wenigstens faszinieren doch die
2 v. Sydow, Dekadenz
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menschlichen Repräsentanten der dekadenten Lebensrichtung durch die vielseitig gewandelte und wandlungsfähige Art ihres Daseins und ihrer Unterhaltung, durch die schillernde Vielfältigkeit ihrer Einstellungsmöglichkeiten* Und mischt sich in ihr überwiegendes Verneinen nicht doch oft genug eine hingerissene Begeisterung, die weit höheren Flug des Enthusiasmus wagt, als er dem durchschnittlichen Mensch* lein gelingen will ? I
In der T at darf das Them a : „Kultur der Dekadenz“ keines* wegs für einerlei gesetzt werden mit dem Thema: „Deka* denz der Kultur“* Denn dies zweite bedeutet ja eine Kultur, die abstirbt, in sich zusammenbricht. Aber „Kultur der Dekadenz“: diese Formulierung erlöst das Gemeinte aus dem organischen Zusammenhang der Abhängigkeit, erfüllt es mit dem Stolz der Selbstgewißheit und hebt es zur Würde der „Funktion“ — mit all der Selbständigkeit, die solchen Funktionen eigentümlich ist* Das was mit „dekadenter Kultur“ bezeichnet wird, erhält dann einen höheren Rang, wird zum Prinzip, dessen eine (neben anderer) Erscheinungs* form auch die des Niedergehens sein kann* Das Wort der „Dekadenz der Kultur“ bezeichnet ein historisches, das der „Kultur der Dekadenz“ ein philosophisches, metaphysisches Thema. Und nur dem philosophischen Sinne: der Wesens* schau, wollen wir unsere Aufmerksamkeit widmen*
Wir setzen dabei freilich dies eine als bewiesen voraus: daß es überhaupt eine solche Lebenstendenz gibt, die mit „dekadent“ bezeichnet werden darf. Wir gebrauchen ja all* täglich dies Wort* Ein Wort, dessen fremdländischer Klang doch nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß auch in Mitteleuropa diejenige Menschenart existiert, die in Frank*
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reich mit ihm bezeichnet wird. Ein ziemlich scharf um*
grenzter Gefühlskomplex steht bei diesem Wort vor uns.
Man möchte sagen: ein mehr malerischer, als eigentlich
zeichnerischer Eindruck wird dadurch heraufbeschworen.
, • •
Irgendetwas, wie Grauviolettes, vom Violett ins Grau Uber* gehendes gewissermaßen. Etwas Stimmunghaftes, etwas Schwebendes und zugleich Verklingendes — reich in sich Schillerndes. Eine düstere Wolke von Gefühlen, die uns betrüben — die Wolkigkeit einer seelischen Stimmung von Seelen, die gepeinigt sind vom Bewußtsein der Minder* Wertigkeit des Daseins und aller, aller, aller Daseinsmög* lichkeiten, also von der Existenz überhaupt. Wie scharf brennt sich solche Bewußtheit ein in die Wesensart und die Lebensführung so veranlagter Menschen! Mag man sie mit Freundlichkeit überschütten — niemals wird sich die Sorgen* falte auf ihrer Stirn glätten, ihre Augen werden nicht die geheime Feuchtigkeit verlieren, auf der ihr Blick schwimmt. Ihnen verdüstert sich jede Hoffnung auf Glück, das ihnen , andauernde Zufälle in handgreiflichste Nähe rücken — wo* zu die Hand rühren, sie ausstrecken zum Griffe, gar steifen, da doch alles, alles in Staub und Asche zerfällt?! Der De* kadente ist darum der Tatlose — vielzusehr vom Gefühle der Nichtswürdigkeit des Daseins und auch seines Lebens geschwächt, als daß er zu einer entscheidenden Tat schreiten könnte oder gar möchte. Wie unangenehm ist ihm der Aktive, Tätige! Wieviel lieber sitzt er im Kaffeehaus und genießt dessen buntes Vielerlei und hinter solchem buntesten Maskenspiel dessen eigentlichen Träger und Kern, das große, große Nichts.
Aber doch ist dies Verhalten nur der allgemeine Ton seines Daseins. Denn plötzlich ergreift ihn manches Mal die Ge*
2*
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walt des Lebens : Enthusiastik stürzt ihn in die Strudel der Umgebung, und im Herzen loht ihm Stichflammenhaft das innigste Gefühl für die Großheit des Lebens hoch* Aus der stumpfen Ruhe schreckt ihn plötzlicher Tätigkeitsdrang auf und läßt ihn in guten Stunden Quintessenzen brauen, nach deren Genuß der Geschmack von Leistungen sogenannter „gesunder Geister“ schal dünkt.
Das Verhalten der Dekadenten, die bedeutende Menschen sind, ist eben widerspruchsvoll in sich: voll Schwermut, durch die hindurch ein Doppelstrahl hoher Lebenslust zuckt. Ihr paradoxes Dasein ist also nicht eine einheitliche, klare Existenzform. Sondern sie vereinigt negative mit anders* artigen Elementen, die man als absolute oder mystische, und mit anderen, die man als heroische bezeichnen muß. Diese dreifache Vielfältigkeit ihrer Tendenzen ist der eigene tümliche Reiz, der zunächst Fremdgesinnte ihnen näher* führt, da man fühlt: hier lebt ein Wesen, das reicher an Lebensmöglichkeiten ist als andere.
Dennoch ist diese Lebenshaltung an sich trotz aller Sonder* barkeiten, die unsere Analysen ergeben werden, kein durch* aus antinormales, ja auch nur unnormales Dasein. Sie findet sich in gleicher Präzision im Leben jedes geistig angeregten Menschen, sobald man seine Pubertätszeit analysiert. Denn diese Zeit ist voll von negativen Elementen. Der Jüngling wird in seinem ganzen Gemütsleben schwankend, weil seine ganze Lebenseinstellung schwach wird, soweit sie noch überlieferte Dinge enthält — da jene Periode eben die ist, in welcher alles Neuschöpferische sich revolutionär kundtut. So weiß er nicht, welchen Beruf er wählen soll. Er neigt zum Herumstreichen. Mit Geld versteht er nicht
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hauszuhalten. Seine unruhige Sinnlichkeit drängt ihn zur käuflichen Liebe hin. Er löst sich bewußt von der Heimat- lichkeit los. Ein Widerwille gegen alles staatliche Anordnen empört ihn. Seine Stimmung ist müde, oft verzweifelt. Das intellektuelle Leben zeigt die gleichen Spuren des Schwan¬ kens: er wird unaufmerksam in der Schule, sein Gedächtnis ist unzuverlässig, der logische Gedankengang wird sprung¬ haft, sein Handeln ist zerfahren. Überdies regen sich in ihm zerstörerische Wünsche.
Aber zugleich bewährt sich doch auch mit ständig sich steigernder Kraft die neuschöpferische Intensität des Reifen¬ den, seine Unabhängigkeit und aus seiner Eigenheit neu hervorquellende Lebenshaltung. So kann man die Pubertäts¬ zeit bezeichnen als die Vereinigung von Greisentum (näm¬ lich der Kindheit) und neuschöpferischer Produktivität. Es ist im Grundriß beides: Pubertät und Dekadenz, einander gleich geartet. Dies aber unterscheidet den Dekadenten vom Jüngling, daß dieser den seelischen Zustand der Dekadenz nur vorübergehend durchlebt, während der Dekadente ihm dauernd verhaftet bleibt. Man kann daher von einem ge¬ wissen Alter ab sagen, ob eine dekadente Lebensweise eben dekadent oder nur das Kennzeichen der Pubertät sei.
Wie aber will man dies im Hinblick auf eine viele Millionen von Menschen und mehrere Lebensalter hindurch dauernde Kulturerscheinung tun? Hier muß mit Notwendigkeit alles vage und verschwommen werden — das Fragezeichen ist überall hinter solche Behauptungen zu setzen, die eine be¬ stimmte geschichtliche Epoche als dekadent bezeichnen
möchten und einen bestimmten Stand. Man kann nie wissen,
• •
ob eine geschichtliche Tatsache als Dekadenz oder als Uber-
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gangserschcinung zu bewerten ist* Darum erscheint es uns auch als sehr müßig, in Nordaus Art zu fragen, ob die jüngst durchlebte Zeit etwa dekadent gewesen sei oder ob ihre zum Teil sonderbaren Dinge nur als Übergangs* Phänomene zu bewerten wären*
Die Frage nach der Struktur der Dekadenzerscheinungen
als solchen aber ist keineswegs damit aufgehoben. Nur wird
sie nicht mehr als historische, sondern als wesenhafte Proble*
matik aufzufassen und durchzuführen sein* Der Typus
des dekadenten Menschen ist zu analysieren! Nicht nur in
seiner rein einzelseelischen Gegebenheit, sondern auch in der
mit anderen Menschen ihn verquickenden Organisation, die
man als „Kultur“ bezeichnet, — einer Kultur, deren Zweige
nach alter Gepflogenheit am bequemsten nach den Kate* ••
gorien der Ästhetik, Ethik und Metaphysik unterschieden werden mögen*
Bei solchen Analysen glaube ich nicht eine vorübergehende Zeiterscheinung zu betrachten. Zu oft ist diese Menschen* art in der Geschichte aufgetreten, zu große Menschen und Künstler sind in ihren Reihen zu finden, als daß es sich um verlierbare Güter des Geistes handeln könnte* Nein: hier muß eine Gesetzlichkeit kosmischer Art vorliegen, die zum mindesten darin besteht, daß diese Lebensweise immer wieder auftaucht* Und insofern ist unser Augenmerk nicht nur auf die Vergangenheit und Gegenwart gerichtet, sondern auch auf die Zukunft eingestellt. Denn falls ich recht habe mit dem Glauben an die Unverlierbarkeit dieser Mensch* lichkeit, dann ist alles gegen nichts zu wetten, daß wir sie in absehbarer Zeit wieder erleben werden. Und falls die Meinung richtig ist, die an eine sozusagen spiralförmige
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Entwicklung nach oben hin glaubt — dann tut man um so mehr gut daran, sich diese Lebensweise, deren Aussterben allgemein vorausgesagt wird, aus der Nähe anzusehen* Denn dann kehrt sie in einiger Zeit in höherer Potenzierung wieder in unseren Lebensrhythmus zurück, um uns aufs neue zu ergreifen* Und so schreite auch diese ältere Gene* ration stolz, ihrer ewigen Wiederkehr bewußt und gewiß, in den grauen Abend der freudlosen Tage unseres ihr so widerwärtigen Jahrzehntes.
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ERSTES KAPITEL
DIE DEKADENZ IM METAPHYSISCHEN BEWUSSTSEIN
DAS WESENTLICHE
Der Welt-Schmerz
Das metaphysische Leben ist im Gefühle gegründet und in dem Bewußtsein des Rein*Schöpferischen* Dies Grund' bewußtsein steckt schon in den untergeordneten Kultur* stufen; der Kunst und Ethik* Aber dort findet es nicht seinen reinen Ausdruck, weil die Kunst noch das Werk zusammenfügt und weil das sittliche Bemühen das Indi* viduum durch den Zusammenhang mit den anderen Menschen beschränkt* Erst als Metaphysiker ist der Mensch entlassen aus der Knechtschaft, die ihm durch das Ver* hältnis zur Natur und zur Menschenwelt mehr oder minder stark droht* In der Metaphysik ist er ganz auf sich und seine eigene Lebendigkeit gestellt, ist er also ganz er selbst. Die Metaphysik ist so der nicht individualisierbare Ausdruck der Subjektivität des Gefühles, ist die freieste Bewußtheit des allgemeinsten Schöpfertums* Aber eines Schöpfertums, das sich nicht in die Gegebenheiten, wie in ein Bett, hinein* legt oder das sie durch die ins Äußere hinübergreifende Tat modelt, — sondern das derart in sich, in seiner ur* eigenen Vorstellung, Willenshaftigkeit und Gefühlsart lebt, daß jene beiden untergeordneten Schichten in diesem Letzten, im Gefühle, zurückgehalten und hier bewahrt bleiben. Denn
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alles Wertvolle ist zunächst beschlossen in der rein geistigen Subjektivität und Allgemeinheit. Das Erlebnis, das sich hierin letztlich vollzieht, ist die Einkehr des Menschen in sich selbst, in den ursprünglichsten innersten Kern seiner selbst. Er wird hier zum Absoluten.
Bei dem Positiv-Gesinnten, fest in der Welt und in sich Stehenden, ist das gefühlsmäßige Bewußtsein gestimmt zur Freude und zur Zufriedenheit. Denn Glückseligkeit erfüllt den, dessen Sinn in völligem Gleichmaß in sich ruhend sein eigenes Wesen als Ganzheit und Abgeschlossenheit spürt. Der Widerschein dieses in sich geschlossenen Glaubensgefühles durchstrahlt dann gleichmäßig die Objek- tivität. So wird denn auch die Umwelt zur abgerundeten ichhaften Ganzheit. Es ersteht die Wirklichkeit als ein Kosmos, als eine Totalität im Gefühl.
Im Gegensätze zu dieser bejahenden Tendenz des Lebens- bewußtseins stehen die Gefühle, die aus dem Negativen stammen: in der passiven Negativität der Dekadenz das Gefühl des Leidens an der Existenz der Welt und des Ichs, und in der Dämonik das Gefühl der Verzweiflung; die typische Stimmung Hamlets ist müdes Leiden, die des „Satans“ wilde Verzweiflung.
Der Welt-Schmerz ist das vielgenannte Gefühl, das unter dem Namen bald des „Mal du siede“, bald des „Ennui“ als Charakteristikum einer großen literarischen Epoche: der Romantik, gilt — ein Leiden, das kein bestimmtes Objekt neben anderen Objekten hat, sondern auf das Ob¬ jektive schlechthin, auf die Welt sich richtet. Nicht also der drohende Tod, nicht Ungerechtigkeit, nicht Hunger und Entbehrungen, nicht bestimmt abgegrenzte Umstände und
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Zustände sind es, auf die sich dies Gefühl richtet, sondern die Totalität der Wirklichkeit überhaupt ist das, was solches Leiden erregt. Daß der Mensch lebt — dies ist es, was ihm Kummer bereitet, und nicht eine bestimmte Ursache, die ihn irgendwie peinigend trifft. Das Leiden hat damit seinen umgrenzten Charakter verloren, es ist rein funk' tionell geworden, jedoch derart funktionshaft, daß es nicht dem Abstrakten im eigentlichen Sinne, dem Wissenschaft' liehen, anheimfällt, sondern daß es das denkbar umfäng' lichste Objekt, das zu finden ist, ergreift: die Wirklichkeit als solche. Alles erscheint nun düster und unheilvoll, das ganze Dasein gewinnt das Aussehen einer Tragödie. Alles wird melancholisiert. Alles wird in seiner negativen Form erlebt. Da diese Negativität in der Welt besteht, hat der Melancholiker nicht schlechthin unrecht ; was ihn zum Um gerechten stempelt, ist allein seine Einseitigkeit.
Man könnte auf sein Wesentlichstes die unvergleichlichen Worte beziehen, mit denen die alttestamentarische Apo' kryphe „Weisheit Salomos“ im 17. Kapitel die Beschrei' bung der ägyptischen Finsternis beschließt: „Sie waren alle zugleich mit einerlei Kette der Finsternis gefangen. Wo etwa ein Wind hauchte oder die Vögel süß sangen unter den dichten Zweigen oder das Wasser mit vollem Lauf rauschte oder die Steine mit starkem Poltern fielen oder die sprin' genden Tiere, die sie nicht sehen konnten, liefen oder die grausamen wilden Tiere heulten oder der Widerhall aus den hohlen Bergen schallte: so erschreckte es sie und machte sie verzagt. Die ganze Welt hatte ein helles Licht und ging in unverhinderten Geschäften; allein über diesen stand eine tiefe Nacht, welche war ein Bild der Finsternis, die über
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sie kommen sollte; aber sie waren sich selbst eine schwerere Last, denn die Finsternis,“
Theophile Gautiers Lieblingswort lautete: „Rien ne sert ä rien, et d'abord il n'y ä rien; cependant tout arrive, mais cela est bien indifferent1.“ Leopardi klagt: „Bitter ' keit und Überdruß — das heißt leben ; das Leben ist nichts anderes: die Welt ist nur Kot. Von nun an ruhe dich aus. Verzweifle auf ewig. Unserer Rasse hat das Schicksal nur den Tod beschieden.“ — Und an anderer Stelle analysiert er diesen Gefühlskomplex genauer: „Diese Neigung (zur Verzweiflung) hat bei mir ihren Ursprung nicht in einem Unglück, das mir zugestoßen ist oder dessen Eintreffen ich voraussehe, sondern im Lebensüberdruß, einem Über* druß („l'ennui“), der so heftig ist, daß er einem Schmerz oder einem Krampf gleicht, und in dem Vergnügen, das ich empfinde, wenn ich die Eitelkeit jedes Dinges, das ich im Laufe des Tages treffe, erkenne, sehe, schmecke, betaste. So daß nicht allein meine Intelligenz, sondern alle meine Empfindungen, selbst die des Körpers, von dieser Eitelkeit erfüllt sind, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, der sonderbar, aber meinem Gedanken angemessen ist. Und zunächst wirst du nicht sagen können, daß meine Auffassung unvernünftig sei. Gewiß will ich gern zugeben, daß sie großenteils aus irgendeinem physischen Mißbehagen stammt; aber sie ist nichtsdestoweniger sehr vernünftig. Ja noch mehr: alle anderen Auffassungen der Menschen, durch die sie leben und glauben, daß das Leben und die menschlichen Dinge irgendeine Substanz haben, diese anderen Auffassungen sind mehr oder weniger von der Wahrheit entfernt und gründen sich auf irgendeinen Irrtum und auf
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irgendeine falsche Einbildung* Aber es gibt nichts, das ver*
nünftiger als der Überdruß („l'ennui“) wäre. Die Ver*
gnügungen sind allesamt nichtig. Selbst der Schmerz, ich
meine den der Seele, ist meist nichtig; denn wenn man
ihn in seinen Ursachen oder in seinem Gegenstände be^
trachtet, hat er keine oder fast keine Wirklichkeit. Ich sage
dasselbe von der Furcht, dasselbe von der Hoffnung. Allein
der Überdruß („l'ennui“), der immer aus der Eitelkeit der
Dinge entsteht, ist niemals Nichtigkeit und niemals Irrtum :
er beruht niemals auf irgend etwas Falschem. Und man
kann sagen, daß alles Übrige nichtig ist, daß alles Wirkliche
• •
und alles Feste des menschlichen Lebens auf den Überdruß („l'ennui“) hinweisen, im Lebensüberdruß bestehen.“
Es kehrte in diesen Klagen und Geständnissen ein Aus* druck immer wieder, der seit der französischen Romantik zu einem ganz hohen Range metaphysischer Bedeutsamkeit gelangt ist: der Terminus „Ennui“. Flaubert bedient sich dieses Wortes regelmäßig; Baudelaire schreibt an seiner Stelle meist das englische Wort „Spleen“. Der ge* fühlsmäßige Gehalt dieses Ausdrucks ist von schillernder Vieldeutigkeit.
A. de Senancourt, einer der frühesten Dekadenten, analysiert bereits seinen Sinn2. „Der Ennui entspringt im allgemeinen nicht der Einförmigkeit. Wie viele Menschen haben nicht ihre gleichförmigen Tage in niederen Arbeiten verbracht und haben den ennui nicht gekannt ! Die haupt' sächlichste Quelle ist auch nicht der Mangel an Vergnü' gungen : jeder, der sie nicht kennt oder sie früh genug ver* ließ, ennuiert sich wenig. Was die Dauer von Schmerzen anlangt, so hat sie häufiger den Erfolg, diese Mattigkeit zu
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vermeiden, als uns ihr zu überliefern: viele Unglückliche ennuieren sich niemals. Dieser schlimme Zustand wird besonders abhängig sein von dem Gegensatz zwischen dem, was man sich vorstellt, und dem, was man wirklich er* reicht, zwischen der Schwäche dessen, was sich gemeinig" lieh darbietet, und dem Umfang dessen, was man zu tun sich vorgenommen hat. Der Ennui entsteht aus einem Zustande der Ungewißheit, in welchem die Furcht vor einem belanglosen Hindernis uns von einem großen Vor* teil fernhalten kann, und wo hundert bekämpfte Zu* neigungen erlöschen, bevor sie das Herz erregen. Man sieht nicht mehr, was es zu ersehnen gilt, weil man nicht weiß, was man mühelos aufgeben sollte. Da nichts um unterbrochen gefallen kann, da nichts existiert, was ohne Unbequemlichkeit oder ohne Beimischung wäre, so macht uns die Idee selbst, das Gefühl des Schönen traurig, es entmutigt uns, und wir werden aus Unzufriedenheit mit dem, was unvollkommen ist, lebensmüde, weil das Leben aufhörte, ungewohnte Güter in Aussicht zu stellen.“
Diese Bemerkung verweist auf die widerspruchsvolle Struktur dieses Gefühls : mit dem, was man hat, nichts Rechtes anfangen zu können, etwas ungewöhnlich Großes er" streben und dann bei diesem Streben scheitern. Auf den Ausgangspunkt blickt man mit Widerwillen, und die Ver" geblichkeit des Begehrens erweckt erst recht kein Glücks" gefühl — so fühlt man sich in jeglicher Hinsicht geplagt. Ein Gefühl der Gereiztheit beherrscht nun den Menschen, eine Empörung über das Dasein als solches, eine Anti" pathie gegen alles Lebende und nicht zuletzt gegen sich selbst. Der Schmerz wird sozusagen funktionell, er bleibt
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nicht mehr in der Passivität der Trauer befangen, er erhebt sich und sinnt auf Rache an dem Leben, das so qualvoll ist. Der schmerzvolle Widerwille gegen das Leben! — damit ist der Sinn des ennui wohl im Deutschen am passendsten umschrieben; alles andere : Schwächegefühl, Langeweile usw. sind nur akzessorische Momente dieses Gefühls,
Fl au b er t hat seine Wirkungen gespürt: „Kennen Sie den Ennui? Nicht diesen gewöhnlichen, banalen Ennui, der aus dem Nichtstun oder aus der Krankheit entspringt, sondern diesen modernen Ennui, der den Menschen in seinen Eingeweiden anfrißt, und der aus einem klugen Wesen einen Schatten macht, der umhergeht, ein Phantom, das denkt ?“ („Correspondance“ I, 70.)
Baudelaire läßt in seinem Eingangsgedicht der „Fleurs du mal“ die Aufzählung aller Laster in dem Namen des ennui kulminieren: „Aber inmitten der Schakale, der Panther, der Hündinnen, der Affen, der Skorpione, der Geier, der Schlangen, der kläffenden, heulenden, murrenden Bestien, die in der infamen Menagerie unserer Laster kriechen, — da gibt es eines, das noch häßlicher ist, boshafter, schmut' ziger! Wiewohl es nicht viel bewegt und nicht heult, würde es gern die Erde zertrümmern und gähnend die Welt ver- schlingen; das ist der Ennui! — Unfreiwillig tränenden Auges träumt er vom Schaffot beim Rauchen seiner Huka.“ — Und in einem anderen Gedicht, mit dem Titelwort: „Spleen“, beschreibt er das Gleiche : „Nichts gleicht an Länge den lahmen Tagen, wenn unter den schweren Flocken der schneeigen Jahre der Ennui, Frucht der düsteren Gleich' gültigkeit, die Größe der Unsterblichkeit annimmt.“
3 v. Sydow, Dekadenz
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Als die Hauptquelle des ennui sieht der französische Psychologe Tardieu (in seinem Buche „L'Ennui“) die Monotonie des Lebens an, — eine spezifisch modernem* pressionistische Auffassung ! Als ob nicht der mittelalterliche Weltschmerz gerade aus der umgekehrten Einstellung ge* flössen wäre: dem Wunsche nach ewiger Sicherheit des Daseins und nach Abkehr von dem Wankelmut des Irdischen, Das Gefühl der Sinnlosigkeit seiner selbst, die gefühls* mäßige Entwertung der Ichheit ist ja gar nicht modernen Ursprungs, wie man so häufig behauptet 3, sondern wucherte in allen Zeiten, Lebenslagen und Gesellschaftsschichten, Er ist einzig und allein der Gefühlsausdruck persönlicher Unzulänglichkeit, braucht nur teilweise richtig zu sein und kann sich deshalb sehr wohl mit großen Leistungen auf vereinzelten Lebensgebieten verbinden, die dann freilich das Kennzeichen der irgend wo merkbaren Schwäche tragen. Es hängt daher einzig und allein von der Kreuzung der persönlichen Sehnsucht, der eigenen Leistungsfähigkeit und der äußeren Gegebenheiten ab, ob und wie der Trübsinn sich entfalten kann. Wer in der mehr oder minder heroisch erfaßten Einförmigkeit des Lebens sein Ideal sieht, wird durch die Verwirrtheit des Lebens vergrämt werden, und dasselbe Schicksal der Trübsinnigkeit droht dem Sucher der unablässigen Neuerungen durch die Langsamkeit der Veränderungen der Welt — freilich in viel stärkerem Maße als jenem. Der Verehrer des Mystischen kann immerdar die Sphäre des religiösen Lebens betreten, um seine Wünsche alsogleich, wenigstens im Erlebnis anderer, realh siert zu finden, und dies scheinbar fremde Erlebnis darf ihm nicht ungenügend scheinen, da ja seine Forderung der
34
AlLEinheit ihn über die Unterschiede der Individuen hinweg* hebt, während sein Widerpart noch so viele Fremdheiten der Erlebnisse oder wirklichen Begebenheiten durcheilen mag, ohne doch den peinlichen Beigeschmack eben der Fremdheit
zu verlieren» Erbleibt fortwährend auf Surrogate angewiesen»
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Hegel sagt einmal: „Die Wunden des Geistes heilen ohne Narben lu Doch gilt dies Wort nur für hegelhafte Menschen, welche Vollbringer positiv*kulturell er, eindeutiger Werte sind» Für den eigentlichen Dekadenten aber verliert diese These ihre Berechtigung» Bei ihm brechen in jedem Tun und Lassen die alten Narben wieder auf, und seine Wunden bluten in neuer Röte» Ja, man muß sagen: diese Wundmale heilen immer nur ganz oberflächlich und breiten sich in Wirklichkeit immer weiter und immer tiefer aus ; das Blut, das ihnen entströmt, wird immer ungesunder und die Schwäche der Lebenskraft immer schwerer und be* drohlicher» Wer die Gedichte Baudelaires liest, auf denen sein dauernder Ruhm ruht, muß an die Gestalt Christi denken auf Grünewalds Isenheimer Altar: leichenfarbig, von zahllosen eiternden und blutenden Wunden überdeckt, verschwollen, zerkrampft, von innen und außen entnervt und entkräftet, wiewohl von Allmacht und Stärke strotzend noch im Sterben — unermeßlich kraftvoll und schwach zugleich» Das Leben wird — trotz allem titanischen Selbst* bewußtsein — zu einem unaufhörlichen Schmerze, zu einem höllischen Gebräu aus Wut, Beleidigung, Sterben, Unzufriedenheit mit sich selbst4»
Nicht verwunderlich ist es, wenn der Selbstmord als das einzige Asyl erscheint in dieser zerkrampften Lebendig*
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keit, der Notausgang aus der Hölle des Lebens — dessen Beschreitung dennoch das gewissenhafte Verpflichtungs- gefühl dem Werke gegenüber verhindert oder mindestens sehr erschwert5* Doch hier ist eine Sphäre des Daseins erreicht, die außerhalb unserer auf das Dekadente gerich- teten Analyse steht, weil sie in das Gebiet des Dämonischen gehört.
Das dekadente Welterlebnis und der Abgrund
Es ist natürlich nicht notwendig, daß der Einzelne die Totalität der Welt erlebt haben muß, um zur Dekadenz oder zur Positivität oder zum Heroismus gedrängt zu werden ; es genügt für die meisten Menschen sozusagen einen Zipfel des Schleiers der Maya gelüftet zu haben, um ihren Schluß auf die Ganzheit des Lebens zu ziehen, — ein einzelnes Er* lebnis zu haben, um von ihm über den Gehalt des Lebens aufgeklärt zu werden. Nur ganz wenigen scheint es be- schieden gewesen, eine Intuition der ganzen Wirklichkeit in typisch dekadenter Weise: das metaphysische Welterlebnis der Dekadenz, gewonnen zu haben. Einer dieser wenigen, zu denen wir auch Kubin rechnen können, war Amiel. Es ist aber charakteristisch für seine Wesensstruktur, daß er nicht nur das negative, sondern auch das mystische Welt¬ erlebnis gespürt hat; denn im Dekadenten ist ja immer das Absolute und auch das Heroische in Personalunion — neben¬ herrsch erhaft — mächtig. Wir zitieren zwei seiner Be¬ schreibungen, um sie dann zu analysieren.
„Ich muß immer eine Anstrengung machen, um mich wieder zu fassen, um mich zu kräftigen und meine Persönlich¬ keit zu finden. Der Abgrund verlockt mich, zieht mich
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immer an. Das Unendliche versucht mich, das Mysterium fasziniert mich ♦ ♦ , Dies ist mein Opium, mein Haschisch. Der Überdruß an meinem Leben als Individuum und die Aufsaugung meiner individuellen Willenskraft durch das reine Bewußtsein der universellen Aktivität — darin liegt meine Neigung, meine Schwäche, mein Instinkt,“ („Journal“ I, S, 40 [1854].) — „Ich finde keine Worte für das, was ich erlebe . . . Eine tiefe Ruhe breitet sich in mir aus, ich höre mein Herz klopfen und mein Leben dahingehen. Es scheint mir, als sei ich eine Statue geworden an den Ufern des Flusses der Zeit, als sei ich zugegen bei einem Mysterium, aus dem ich gealtert oder ohne Alter herauskommen werde . ♦ ♦ Ich fühle mich ohne Namen, ohne Persönlichkeit, starren Auges wie ein Toter; der Geist wird vage und allgemein, wie das Nichts oder das Absolute; ich bin in der Schwebe, ich bin als wäre ich nicht. In diesen Augenblicken scheint es mir, als zöge sich mein Bewußtsein in seine Ewigkeit zurück; es sieht zu, wie in ihm seine Sterne und seine Natur sich bewegen, mit seinen Jahreszeiten und seinen Myriaden von individuellen Dingen; sieht sich in seiner Substanz selbst, jede Form überragend, seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft in sich tragend, eine Leere, die alles enthält, ein unsichtbares und fruchtbares Zentrum, eine weltschöpferische Kraft, die sich freimacht von der eigenen Existenz, um sich in reiner Innerlichkeit zu erfassen. In diesen sublimen Zu«« ständen hat sich die Seele in sich zurückgezogen, ist sie zurückgekehrt zur Unbestimmtheit, sie hat sich in sich zurückgebogen oberhalb ihres eigenen Lebens, sie wird wieder göttlicher Embryo. Alles verlischt, löst sich auf, entspannt sich, nimmt wieder den primitiven Zustand an,
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taucht wieder nieder in das ursprüngliche Fließen, ohne Gestalt, ohne Eckigkeit, ohne bestimmten Umriß. Dieser Zustand ist Kontemplation und nicht Betäubung; er ist nicht schmerzhaft, nicht fröhlich, nicht traurig; er steht außerhalb jedes bestimmten Gefühls wie jedes endlichen Gedankens. Er ist das Bewußtsein des Seins und das Bewußtsein der Möglichkeit, alles zu werden, die auf dem Grunde des Seins ruht. Es ist die Empfindung der geistigen Unendlichkeit“. 6
Ein ganz andersartiges Erlebnis ist es, welches Amiel ein Jahrzehnt später beschreibt, ein Erlebnis, das ihn über' fällt nach der Lektüre wissenschaftlicher Werke und im Angesichte des Gebirges: „Geschöpf eines Tages, das sich eine Stunde lang regt — was dich erstickt, ich weiß es, das ist das Gefühl deines Nichts. Namen großer Männer sind eben vor deinen Augen vorübergezogen wie ein geheimer Vorwurf, und diese große regungslose Natur sagt, daß du morgen verschwinden wirst, eine Eintagsfliege, ohne gelebt zu haben ... Was bedeutet unser Leben in dem unend' liehen Abgrund? Ich empfinde gleichsam ein heiliges Ent' setzen, nicht allein für mich, sondern für mein Geschlecht, für alles Sterbliche. Ich fühle wie Buddha das große Rad sich drehen, das Rad der universellen Illusion, und in dieser Betäubung steckt eine wirkliche Angst. Isis hebt den Zipfel ihres Schleiers, und das Schwindelgefühl der Kontemplation schlägt den nieder, der das große Mysterium sieht. Ich wage nicht zu atmen, mir ist, als hinge ich an einem Faden über dem unergründlichen Abgrunde des Schicksals. Stehe ich Gesicht zu Gesicht vor dem Unendlichen? Ist das die Wesens' schau des großen Todes?
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„Geschöpf eines Tagest das sich eine Stunde lang regt,
Deine Seele ist unsterblich und deine Tränen werden
aufhören.“
Aufhören? wenn der Abgrund der unaussprechlichen Begierden sich im Herzen öffnet, ebenso weit, ebenso klaffend, wie der Abgrund der Unermeßlichkeit sich um uns her auftut. Genie, Aufopferung, Liebe, jeder Durst erwacht, um mich auf einmal zu peinigen. Wie der Schiff' brüchige, den die Woge verschlingen wird, fühle ich heiße Glut mich wieder an das Leben fesseln, verzweifelte Reue mich umstricken und mich nach Gnade schreien lassen. Und dann löst sich dieser unsichtbare Todeskampf in Ab' Spannung auf.“ („Journal“ II, S. 95 ff. [1870].)
Vergleichen wir beide Erlebnisse Amiels, so ergibt sich ein merkwürdiger Unterschied. Beiden gemeinsam ist der Aus' gangspunkt: das Verhältnis des Menschen zur Totalität der Welt. In beiden Fällen geht eine Veränderung in dem vor sich, was dem normalen Menschen als sicherster Zu' stand erscheint: die Wirklichkeit der Objekte und des Sub' jektes, von Ding und Ich lösen sich sozusagen auf, ver' wölken und verschwimmen. Dann aber spaltet sich das Erlebnis in zwei scharf zu scheidende Linien. Einerseits ist die Rede von einem Zustande, der reine affektlose Kontern' plation ist, ohne Schmerzen, ohne Lustgefühl. Andererseits spricht das Tagebuch — in seiner zuletzt zitierten Stelle — von einem Zustande schmerzlichster und höchster Unlust. — Deutlich sind die Folgen gemalt. Im ersten Fall gehen die Welt und das Ich gleichsam in sich und ihre Vor' Wirk' lichkeit zurück, aus der Wirklichkeit werden sie zur Möglich'
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keit, aus dem Sein zum Noch -Nicht- Sein; sie entstehen gleichsam erst, sind metaphysische Embryonen* Im zweiten Fall aber ist es sozusagen ein Hängen über dem Abgrund, ein Fortschreiten der Wirklichkeiten aus ihrem Dasein ins Nicht-Mehr-Sein, sie vergehen und tragen die Masken des Todes*
Das ist eine wohlabgerundete Phänomenologie, die sich hier zeigt, und in der wir dieselben Tendenzen, nur eben auf die Spitze getrieben und zugeschärft, finden, die wir im Laufe der Zeit unserer Untersuchung dauernd zu trennen haben werden* Im ersten Falle handelt es sich nämlich um das mystisch-absolute, im zweiten Falle um das negative Welterlebnis. Daß sich beide, so prägnant ausgestaltet, in derselben Persönlichkeit finden, kann nicht wundernehmen; denn überall sehen wir einen Zusammenhang dieser anti¬ nomischen Tendenzen*
Nur noch dies eine wäre zu bemerken* Es überwog bei Amiel das negative Welterlebnis — wie das ja auch ver¬ ständlich ist. Denn auch dort, wo man das mystische Welterlebnis in voller Reinheit zu erkennen meint, fügt er, sich zur Warnung, hinzu: „Ich verstehe die buddhistische Wollust der Souffi, den Kef der Türken, die Ekstase der Orientalen* Und dennoch fühle ich auch, daß diese Wollust wie Lethe wirkt, daß sie, wie der Gebrauch des Opiums und des Haschisch, ein langsamer Selbstmord ist . . *“ („Journal“ I, S* 141.)
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Eine doppelte Ekstase also wurde Amiel zuteil* Beide sind untereinander gegensätzlich* Die positiv-mystische Ekstase schweißt den Manschen mit der Umwelt ganz
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und gar zusammen, um ihn des Lebens der Ganzheit der Wirklichkeit teilhaftig zu machen* Die reale, explizierte Welt wird dann verflüchtigt; der Lebensstrom tritt gleich- sam über seine Ufer, wird zur Unendlichkeit, indem er sich in ruhender, spiegelglatter Fläche wölbt, so daß der Fluß in sich verschränkt hin und her eilt — spiegelglatt, weil keine Hemmungen hindern, in sich verschränkt, weil er von dem Prinzip der Ganzheit durchdrungen ist. — Die negative Ekstase durchdringt nicht minder, aber doch in ganz anderer Weise die Wirklichkeit. Der Lebensstrom wölbt sich nicht zur runden Glätte, sondern er wird zum wilden Katarakt, in sich zusammen- und auseinanderbrechend. Der Mensch und die Welt zergehen und zerstäuben. Die Weltwirklich- keit wird zum Abgrund, wird Wirbel und Auflösung, Gleiten und Stürzen, Sinken und Fallen. Der Abgrund tut sich auf, wird zum Mithandelnden; das Nichts wird zurMacht.
Es tritt hier als symbolischer Repräsentant der dekadent erfühlten Weltstruktur der Ausdruck des „Abgrundes“ auf, eine der interessantesten dichterischen Konzeptionen, die es gibt. Es ist das zur vorstellungsmäßigen Konkretheit gelangte Negative, an dessen Rand der Mensch steht; und es tritt überall dort auf, wo das an sich schwer ästhetisch Darstellbare der negativen Gefühlswerte zum anschaulichen Ausdruck gebracht werden soll. Denn das Abgründliche enthält die Vorstellung des Schwindels, der Unsicherheit, des Hinabziehens, des Sinkens, Sterbens und das Gefühl der Angst.
Den Blick in diesen Abgrund hat Amiel getan. Und nicht minder Baudelaire. Im Gedicht: „L'homme et la mer“ („Fleurs du mal“ Nr. 14, [St. G.]) findet er gerade als letztes
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Motiv der Sympathie des freien Menschen für das Meer die Gleichartigkeit der Abgründe, die sich im Meer und im Menschen auftun ; und eines seiner bewunderungswürdigsten Sonette: „Le Gouffre“ („Fleurs du mal“ Nr* 102) schildert seine Situation als nicht minder schwer zu ertragen, nicht minder besorgniserregend, nicht minder typisch dekadent, wie die Amiels — - in ihrer Angst und Bedrücktheit deutlich:
„Pascal avait son gouffre, avec lui se mouvant,
— Helas! tout est abime, — action, desir, reve,
Parole! et sur mon poil qui tout droit se releve Mainte fois de la Peur je sens passer le vent*
En haut, en bas, partout, la profondeur, la greve,
Le silence, l'espace affreux et captivant ♦ * ♦
Sur le fond de mes nuits Dieu de son doigt savant Dessine un cauchemar multiforme et sans treve*
J'ai peur du sommeil comme on a peur d'un grand trou, Tout plein de vague horreur, menant on ne sait oü;
Je ne vois qu'infini par toutes les fenetres,
Et mon esprit, toujours du vertige hante,
Jalouse du neant l'insensibilite*
A.
— Ah! ne jamais sortir des Nombres et des Etres!“
Auch sonst bezeugt sein Tagebuch dies Wissen um den Abgrund, der unter jedem Schritte des Lebens sich auftut und den der Geist in souveräner Machtvollkommenheit durchschwebt* „Im Moralischen, wie im Physischen habe ich immer die Empfindung des Abgrundes gehabt» nicht allein des Abgrundes des Schlafes, sondern des Abgrundes
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der Handlung, des Traumes, der Erinnerung, des Begehrens, des Kummers, des Gewissensbisses, des Schönen, der Zahl usw.“ („Mon coeur ♦ . .“ Nr* 72.) Man sieht, wie hier das ganze Leben von dekadentem Weltgefühl durchsetzt ist.
Flaubert scheint mit dieser gefühlsmäßigen Vorstellung nur zu gut vertraut, denn er warnt: Man soll nicht den Abgrund betrachten, denn tief unten liegt ein unaussprech* licher Reiz, der einen an sich lockt. („Correspondance“ 1, 33 f.)
Weniger verzweifelt, mit objektiverem Ausdruck als Bau* delaire, hat Amiel7 an anderer Stelle dies Gefühl des AK grundes notiert: Jede schädliche Leidenschaft zieht, wie der Abgrund, durch den Schwindel an. Die Schwäche des Willens führt die Schwäche des Kopfes herbei, und der Abgrund fasziniert alsdann trotz seiner Entsetzlichkeit wie ein Asyl. Furchtbare Gefahr! Dieser Abgrund ist in uns, dieser Abgrund geöffnet wie der weite Schlund der infer* nalischen Schlange, die uns verzehren will, er ist die Tiefe unseres Wesens; unsere Freiheit schwimmt auf dieser Leere, die immer danach strebt, jene zu verschlingen.
Man denkt bei solchen Aussprüchen an Nietzsches Wort: der Mensch ist ein Seil, gespannt über einen Abgrund. In der Tat ist der Lebenstrieb eine Realität, die das Außer* Göttliche gleichsam als ein losgeschossener Pfeil durchfliegt. Der Heilige weiß von dieser Relativität der Gegebenheit nichts, er fühlt sich fast unmittelbar noch mit der Göttlich* keit eins; für ihn ist die Welt nicht mehr eine Realität, hoch* stens „ein Spiel von Lichtern“ (R. M. Rilke). Der fromme Kulturmensch hat ein viel feineres Gefühl für die Wirklich* keit des Weltlichen, aber der Glaube: daß der göttliche Wille wenigstens in der Welt lebe, wenn auch das unmittel*
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bare Identitätsgefühl des Heiligen ihn nicht erfüllt — dieser Glaube hält ihn aufrecht und läßt ihn die Wirklichkeit, wenn auch nicht mit Freude, so doch mit Wohlgefallen erleben als einen wohlgeordneten, geschlossenen Kosmos. Im Dekadenten gewinnt nun das negative Gefühl die Ober" hand; er sieht den Abgrund deutlich, über dem die Wirklich" keit schwebt. Aus diesem Abgrunde, der gleichsam die Höhle ist, in der die lebenshemmenden Gefühle wohnen, fühlt er die ganze Fülle der negativen Lebendigkeit sich entfalten. Der Abgrund erhält primären Daseinswert, während das Göttliche dahinschwindend fast erstorben ist. Das Gefühl der Wertlosigkeit, Sinnlosigkeit steht am Anfang des Welt" erlebnisses. Es ist also noch eine Beziehung zur Welt als Wirklichkeit vorhanden, aber das erstlingshafte Welt"Gefühl konkretisiert sich zur Vorstellung der Leere, als der Negation der Abgerundetheit des Kosmos.
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Als drittes Element des dekadenten Welterlebnisses tritt das heroische Bewußtsein auf. Aber doch nur nebenher vollzieht sich die urkräftige Kristallisation der individuellen Eigenschaften zum Träger machtheischender Überkraft: Sich selbst als Angel und Drehpunkt der Weltgeschichte zu fühlen ! Sich selbst als unerkannten, doch wahrhaften Herrscher der Wirklichkeit zu wissen! Kulminationspunkt der Entwick" lung! Triumphierenden Imperator! Es ist begreiflich, daß solche Selbst" Erfassung selten in den Bekenntnissen der Deka" denten auf tritt. Viel häufiger ist das verabsolutierende, noch viel häufiger und stärker als dieses das negative Bewußtsein. Dennoch tritt sie manches Mal in den Vordergrund: als das Bewußtsein, das letzte Stadium der Entwicklung zu be"
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zeichnen — aber doch nur schattenhaft, fast anonym. Bei Amiel, dieser weichsten Persönlichkeit, finden wir keinerlei Beleg und nur bei Baudelaire (vgl. den Zusatz „Die Stel¬ lung Baudelaires zum Problem der Dekadenz“) deutet sich solch Heroismus an.
Die Scheu vor dem Leben
Das Gefühl der Grundlosigkeit des Lebens erzeugt dann logisch das Gefühl der Lebensangst, der Furcht vor dem Leben und im Leben8: das Leiden durch die Erwartung einer Unlust-Empfindung innerhalb eines unmittelbar ge¬ gebenen Verhältnisses zwischen dem Menschen und einer bestimmten objektiv vorhandenen Wirklichkeit, — und das Leiden, das aus der Erwartung einer zukünftigen Situation erwächst. Man ängstigt sich vor dem Kettenhund, und man hat Furcht vor dem Schicksal. Beiden gemeinsam ist das Bewußtsein der eigenen Schwäche oder schärfer gesagt der eigenen Unterlegenheit, bezw. der Überlegenheit der feind¬ lich gegenüberstehenden Macht; gemeinsam ist auch die Erwartung der Unlust und der natürliche Wunsch, diese Unannehmlichkeit zu vermeiden — nicht aber die Absicht: die Feindlichkeit zu überwinden, sondern vielmehr die Be¬ reitschaft zur Flucht.
Die Vereinigung von Angst und Furcht als funktionell gewordener Seelenzustand ist charakteristisch für das späte Alter; der „furchtsame Alte“ ist ein landläufiger Ausdruck für den Greis. Wie sehr begreiflich: denn ihn packt die Angst vor dem nahen Tode und ihn hält die Furcht vor der Welt, der er ratlos und ohnmächtig gegenübersteht, vor der Jugend und vor dem Wechselnden des Daseins,
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dem mit jugendlichem heroischen Enthusiasmus sich ent¬ gegenzustemmen ihm die typische Skepsis und physische Schwäche des Greisentums nicht mehr erlaubt.
Aus dieser Greisenhaftigkeit der Gefühlsbestimmtheit strömt das negative Lebensgefühl rückwärts in die Gefühls¬ welt des Menschen, schon bevor er das Stadium seines Lebens erreichte, in welchem es zur „Selbstverständlichkeit“ wird. Das Gefühl: am Rande des Abgrundes zu stehen, aus welchem Furcht und Angst herzubrechen drohen, zer¬ setzt in momentanen Stimmungen auch die Jugend und das Mannesalter mit seinem Schrecken. Wer sich fürchtet oder ängstet, nimmt sein Greisenalter vorweg. Und so zeigt sich aufs neue die schon so oft umschriebene Wahr¬ heit, daß das Greisenhafte keine spezielle, eng begrenzte Lebenszeit ist, sondern auch die anderen Lebensalter, wenn auch abgeschwächt, durchfließt. Der Zwiespalt, der sich im Furcht- und Angst-Gefühl kundtut: Abscheu gegen das erwartete Leid und der Wunsch es zu vermeiden, kommt daher in dauernder Art bei Dekadenten zum Ausdruck, um eventuell zur ständigen Lebensstimmung zu werden; der Verbrecher kennt keine Furcht, weil das Negative sein Lebenselement ist, in welchem er sich heimisch fühlt, während der Dekadente dem Schädlichen entgehen möchte. Wie der Greis, so spürt der Dekadente das Negative in sich und um sich und nimmt an ihm sowohl Anteil wie Anstoß; zu ihm sympathetisch hinneigend, möchte er ihm doch wiederum ebenso gern entgehen.
Der Dekadent leidet am Leben. Bei ihm trifft das Wort Schönaich-Carolaths zu, daß „das Tröpfeln aus geheimer Wunde“ den Romantiker charakterisiere. Das Leben geht
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an ihm vorüber, er möchte mitgehen, aber es mißlingt ihm, und nun ergreift ihn eine wahre Angst vor dem Leben* Denn dies Leben kann ihn nur zersetzen, ihn nur immer wieder verwunden. Das Leben des Dekadenten wird da* her zur Flucht vor dem Leben* Er hält sich zurück, um nicht unter die Räder zu kommen, flieht, um nicht seinen Bankrott erklären zu müssen* Er zieht es vor, sich zu iso* lieren* So erklärt Flaubert: „Du glaubst dem Leben, ich meinerseits mißtraue ihm. Ich habe die Nase voll davon und gebe mich so wenig wie möglich damit ab.“ („Cor* respondance“ III, S. 207, vgl* III, S* 59.) „Das Leben scheint mir nur erträglich, falls man sich listig zu drücken versteht*“ („Correspondance“ IV, S. 158.)
Das Gefühl der Sinnlosigkeit des Daseins
Diese furchtbar quälende Unruhe, solch Nicht*Wissen: Wohin? und Wozu?, das Gefühl, am Leeren zu stehen, am Ende einer Bahn, auf der es nicht mehr weiter geht, ohne daß man noch zurück könnte — all dies wird in den Selbstbekenntnissen Amiels und in den Gedichten Baude* laires laut. Es ist zwar in der folgenden Stelle der Auf* Zeichnungen Amiels nur von einer einzigen Stunde die Rede, aber man kann sie mottohaft als pointiertesten Aus* druck des Lebensgefühls Amiels und Baudelaires werten: „Seit einer Stunde fühle ich eine unbeschreibliche Unruhe: ich erkenne meinen alten Feind . ♦ ♦ Das ist eine Leere und eine Angst, der Mangel an irgend etwas — Liebe, Frieden, vielleicht Gott. Es ist eine Leere sicherlich, und keine Hoff* nung, es ist auch eine Angst, denn ich sehe nicht deutlich die Art des Übels und auch nicht die des Heilmittels * * .
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Niemals fühle ich tiefer, als in solcher Stunde, die entsetz* liehe Leere des Lebens, die innere Angst und den schmerz¬ lichen Durst nach Glück*“9
Daraus entspringt ein Zustand der inneren Gespanntheit und Aufgeregtheit, der den Dekadenten nicht zur Ruhe kommen läßt, sondern seinen Geist gleichsam in wallen¬ der Fließendheit erhält und ihn hin und her schüttelt* Diese innere Unsicherheit der eigenen Seele verwischt dann auch die Struktur-Klarheit der Welt* Immer wieder hören wir von den Dekadenten die charakterisierende Frage: Wozu ist das Alles? So spricht nur die innere Haltlosigkeit, Ziellosig¬ keit* Der Heros schafft, um diese Welt zum Abbild des himmlischen Jerusalem zu machen, der Kulturmensch ar¬ beitet, weil er seine Befriedigung in dieser irdischen Welt findet — der Dekadent allein fragt: wozu? Wozu bin ich auf der Welt? Dies ist die primäre Frage, deren Nicht¬ beantwortung auch die Ratlosigkeit gegenüber der Frage: welches ist der Sinn der Welt? herbeiführt* In ihm, dem Dekadenten, wirbelt alles durcheinander, ist alles proble¬ matisch — wie sollte die Welt nicht das Spiegelbild dieser Problemhaftigkeit sein?! Aus der Frage: wozu bin ich auf der Welt? entwickelt sich ganz konsequent die Frage: wo¬ zu ist diese Welt? Warum gibt es nicht eine andersartige Welt? Diese Zweifelsfragen schieben sich andauernd zwischen ihn und die Welt, rauben ihm die Geschlossen¬ heit seiner Selbst und des Zusammenhanges zwischen ihm und der Welt* Alles Erscheinende ist nun gleichsam mit einem Fragezeichen behaftet, alle Sicherheit ist aufgehoben, löst sich auf in der Rastlosigkeit des Fragens, der Skepsis* Eine unruhige Atmosphäre ohne Eigengehalt — wenn nicht
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den: eben unruhvoll zu sein, fließt über alles und jedes. Wozu dies alles? — diese Skepsis raubt alle Möglichkeit des Eingreifens in die aktuelle Welt. Warum sollte man sich einsetzen für etwas, das im Grunde seiner Existenz* berechtigung nach höchst verdächtig ist? Alle freudige, ini* tiativvolle Lebensbejahung schwindet10.
4 v. Sydow, Dekadenz
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GEGENSÄTZLICHKEITEN
Die Sehnsucht nach Betäubung
Doch ist der Dekadente nicht bloß in die Bahn dieser Gesinnung oder vielmehr Gesinnungslosigkeit verwiesen, sondern zugleich reißt ihn sein Wesen in die andere Erlebnis* linie des Heroismus hinein. Der Enthusiasmus für Alles und Jedes, das existiert, durchflutet ihn plötzlich inmitten seiner Gefühlsunlust und erhebt ihn vor sich selbst zum Helden der Aktivität, durch den allein die Wirklichkeit ihren Sinn finden soll und will.
Aus dieser dekadenten Gemütsstimmung, die von allem angegriffen und zur Wehmut bestimmt wird, weder die innere Ruhe noch die äußere Sicherheit der Handlung wahren kann — und die doch alles dies sehnsüchtigst fordert, entspringt das Verlangen nach einem Dasein, fern von allem Leid, das die Weltexistenz über das Individuum häuft, und losgelöst von aller Schmerzlichkeit, die aus dem Innern der Seele quillt. Eine doppelte Rettung aus den übermächtigen Schwierigkeiten des Lebens scheint möglich: das Leben in künstlichen Paradiesen phantastischer Selig* keit und das Erlöschen des Bewußtseins im Schlaf ; dort wird das Weltleid traumhaft überwunden, hier aber entflieht man der bewußten Unseligkeit*
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Hamlets berühmte Monologworte deuten auf solch letztes Ziel: „Sterben — schlafen — Nichts weiter! — und zu wissen , daß ein Schlaf ♦ ♦ . Das Herzweh und die tausend Stöße endet — Die unseres Fleisches Erbteil — 's ist ein Zieh — Aufs Innigste zu wünschen. Sterben — schlafen — schlafen! — Vielleicht auch träumen.“
Was Hamlet hier unter der Qual des Widerspruches zwischen einer bestimmten Lebensforderung und seinem melancholischen Temperament zweifelsvoll und ungewiß erwägend spricht, hat Baudelaire unter dem unerträglichen Druck des Lebens in einer posthum veröffentlichten Vor* rede zu den „Fleurs du mal“ in die Welt geschrien: „Ich habe meine Nerven und meine Grillen. Ich verlange nach vollkommener Ruhe und einer ununterbrochenen Nacht. Als Sänger der tollen Wollüste des Weins und des Opiums habe ich nur noch Durst nach einem auf der Erde unbe* kannten Saft, den mir selbst die himmlische Apotheker* kunst nicht geben könnte; nach einem Saft, der weder Lebenskraft, Tod oder Aufreizung, noch das Nichts ent* halten dürfte. Nichts wissen, nichts lehren, nichts wollen, nichts fühlen — schlafen und immer schlafen: das ist heute mein einziges Verlangen. Ein niederträchtiger, ein ekelhafter, aber ein ehrlicher Wunsch.“11
Der Schlaf ist das Mittel der momentanen Lebensent* äußerung; wer sich zur Ruhe streckt, mag hoffen: der Auf* merksamkeit des Lebens zu entgehen, weil er sich von ihm fernhält — das Leben geht sozusagen neben dem Ruhenden entlang, ohne sich um ihn zu bekümmern, ohne ihn zu schä* digen. Oder, anders gesagt : das Leben ist der „bittere Bronnen“, der überdeckt werden muß, damit der Geist nicht Schwindel*
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erfaßt in seine Tiefe zu blicken braucht. Denn dies ist das Charakteristikum solcher baudelairehaften Seelen, daß nicht diese und jene Situation, nicht dieser oder jener Zwang zum Tätigsein das Pein volle ist, so daß nun das Vermeiden dieser Lage oder jenes Zwanges das Unheil linderte — sondern dies ist ihr Kennzeichen: daß jedes Lebendsein, alle Existenz, im Unbestimmt 'Weitesten ersonnen, den Schmerz der Realität fühlbar macht. Immer und immer sticht der Stachel des Negativen; ihn abzustumpfen wird der Schlaf herbeigewünscht.
Oder aber es erhebt sich der Wunsch zum Leben in be* wußter Seligkeit so stark, daß er den Dekadenten zur Er* hebung in „künstliche Paradiese“ und ihre Lust empor treibt. Wohl möchte er sich zunächst damit begnügen, seine alltägliche Welt unter einem Aspekt zu betrachten, der sie bestehen läßt, aber doch das Signum der rastlosen Flüchtigkeit ihren Dingen abnimmt und sie in gleichsam göttlicher Neuheit und Stärke wiederherstellt; ein seelisches Erlebnis, das Baudelaire mit beredten Sätzen schildert. („Petits poemes ♦ ♦ ♦“ Nr. 5, S. 159ff., S. 376.) Aber dieser Zustand dauert doch nur kürzeste Zeit, bald tritt die Wirk' lichkeit in ihre Rechte ein. Da müssen nun andere Mittel weiterhelfen, um jenen vorübergehenden Zustand festzu* halten und nach Belieben neu zu erzeugen. Aus dieser Sehnsucht fließt die Neigung zu allem, was berauscht und die Empfindung der fliehenden Zeitlichkeit paralysiert : „Trunkenheit ist die Verneinung der Zeit“ (in den post¬ humen „Projets et plans de romans et nouvelles“). Und gerade Baudelaire hat die Wirkungen solcher Wünsche, durch die Apothekerkunst selig zu werden und nicht durch
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das Gebet, ausprobiert, theoretisch studiert und dichtend gefeiert 12.
Die Schwäche des Dekadenten bringt es mit sich, daß er als immer Sehnsuchtsvoller durch das Leben geht, nach Lebenskraft gierig. Jedoch dergestalt sehnsuchtsvoll, daß diese Sehnsucht sich nie befriedigen kann, weil ihm die Mystik des Alltags fremd bleibt. Er ist immerdar extra* vagant eingestellt, und zwar bloß negativ ekstatisch: das Endliche verwerfend und das Totale des Daseins nicht er* lebend (vgl. den Zusatz „Mademoiselle de Maupin“). Indem er nun seine labile Haltlosigkeit als auf die Dauer unerträglich fühlt, entgeht ihm die Einsicht der Notwendig* keit ebenso wie die praktische Möglichkeit: sich in den Kulturzusammenhang einzuordnen und geduldig zu warten, bis die Kraft der großen Leistung ihn durchdringt. Die ganze Fülle der Zwischenstufen und Vorbedingungen ent* geht ihm ; er hat nur Sinn für die heroische Lebenshaltung als plötzliches Hervorsprühen. Da er dekadent ist» möchte er gern Heros sein. Die absolute Ruhe und die völlige Ge* festigtheit, welche der Heroische in sich trägt, soll seine eigene Schwankendheit ausgleichen.
Der dekadente Kultus des Heros und des Dandy
Von hier aus erklärt sich die Heroenverehrung der Dekadenten, ihr Bemühen und Kämpfen für das Anerkannt* werden der Großen, wie es aus den Propagandaschriften Baudelaires für Wagner, Delacroix und Guys mit so en* thusiastischer Reinheit hervortritt. Von hier aus leuchtet auch der innere Sinn des Historismus auf: man wagt nicht mehr, man selbst zu sein» sondern holt sich Stärke
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im vampirhaften Ausschlürfen der Kraft deS gewesenen Großem
So entspringt dann aus der Anarchie die Sehnsucht nach einem despotischen Staatsgebilde» „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor“, meint Novalis. Und Clemens Bren- tano spricht sein persönliches Abhängigkeitsbedürfnis mit fast zynischer Offenheit aus: „Das gänzliche Unterworfen- sein unter einen geistlichen Obern entspräche meiner Natur allein; dieser müßte mich an sich bannen durch die gött¬ liche Atmosphäre der Unschuld und Frömmigkeit und mich leiten wie einen freiwilligen Blinden, denn mir selbst kann ich nicht trauen“ („Briefe“ I, S. 183).
Hier tritt nun als Korrektiv des Negativen ein Typus auf, der wie eine Fata Morgana hin und her geht durch die Aufzeichnungen und Essays Baudelaires und mancher seiner romantischen Zeitgenossen: der Dandy13.
Baudelaire hat über die Eigentümlichkeiten des Dandy¬ tums oft nachgegrübelt, nachdem er sie selbst zeitweilig zu ver¬ körpern gesucht. In seinen letzten Aufzeichnungen stellt er noch
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das Problem: „Ewige Überlegenheit des Dandy. Was ist der Dandy?“ („Mon coeur. . ♦“, Nr. 13.) Und er fügt ein paar cha¬ rakteristische Eigentümlichkeiten an : „Ein Dandy tut nichts. Kann man sich einen Dandy als Volksredner anders vor¬ stellen, außer um das Volk zu verhöhnen?“ („Mon coeur . ♦ .“ Nr. 18.) Und ferner: „Dandytum. Was ist der höhere Mensch? Es ist nicht der Spezialist. Es ist der Mensch, der Muße hat und allgemeingebildet ist. Reich und die Arbeit liebend.“ („Mon coeur ♦ . ♦“, Nr. 27.) — ln seinem
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Aufsatze über die Werke Constantin Guys' — einem ganz ausgezeichneten Essay! — kommt er nach einer kurzen ge* legentlichen Bemerkung: „Das Wort Dandy enthält eine Quintessenz des Charakters und eine subtile Einsicht in den ganzen moralischen Mechanismus; aber andererseits strebt der Dandy zur Fühllosigkeit hin“ (W. W. III, S. 63), in einem eigenen Kapitel auf das Wesen des Dandy zu sprechen14» Das Dandytum erwächst aus dem brennenden Bedürfnis, seinem Wesen eine originale Form zu geben innerhalb der äußeren Schicklichkeitsgrenzen: aus dem Kultus seiner selbst. Alles Andere: Reichtum, tadellose Kleidung, Müßiggang und Liebesabenteuer — sind nur Schmuck, nicht das Wesentliche, sind höchstens Mittel, die Seele und ihren Willen zu stärken. Das Charakteristische besteht in der äußeren Kälte, die aus dem unerschütterlichen Ent' Schluß stammt, sich nicht erregen zu lassen; man möchte sagen, ein heimliches Feuer durchglüht ihn, man kann es ahnen, aber es darf nicht strahlen. Doch lassen wir Bau' delaire selbst zu Worte kommen: „Wie diese Menschen sich auch nennen lassen: raffiniert, fabelhaft, schön, Löwen oder Dandys, — alle haben den gleichen Ursprung; alle nehmen teil an demselben Charakter des Aufruhrs und der Revolte; alle sind Repräsentanten des besten Elementes im Stolz des Menschlichen, dieses heute nur allzu vereinzelten Bedürfnisses, die Trivialität zu bekämpfen und zu zerstören. Daraus gebiert sich bei den Dandys diese hochmütige Haltung, die selbst in ihrer Kälte herausfordert. Das Dandytum erscheint besonders in Übergangsepochen, wenn die Demokratie noch nicht allmächtig, wenn die AristO' kratie nur teilweise schwankend und erniedrigt ist. In dem
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Wirrwarr dieser Epochen können einige Männer, die beruf* los sind, die Weltlust verloren haben und ohne Arbeit leben, aber sämtlich reich an natürlicher Kraft sind, — diese können den Vorsatz fassen, eine neue Art von Aristokratie zu gründen, die um so schwieriger zu brechen ist, als sie sich gründet auf die kostbarsten, unzerstörbarsten Eigenschaften und auf himmlische Gaben, die man durch Arbeit und Geld nicht erreicht Das Dandytum ist der letzte Ausbruch des Heroismus in den Zeiten des Niedergangs ♦ ♦ ♦ Das Dandytum ist ein Sonnenuntergang; es ist herrlich, ohne Wärme und voll Melancholie, wie das Gestirn im Nieder* steigen. Aber, leider ertränkt das anschwellende Meer der Demokratie, das überall einbricht und alles gleichmacht, von Tag zu Tag diese letzten Repräsentanten des mensch* liehen Stolzes und ergießt die Fluten des Vergessens über die Spuren dieser wundervollen Myrmidonen.“
Fl au b er t hat ganz wie Baudelaire solch Heroentypus vorgeschwebt Ein paarmal wünscht er dies: „Leute unseres Schlages sollten eine andere Sprache führen, wenn sie von sich sprechen; wir dürfen weder schöne noch häßliche Tage kennen“ („Correspondance“ II, S. 355); und später noch präziser: „Menschen wie unsereiner müssen sich zur Religion der Verzweiflung bekennen* Man muß seinem Schicksal gewachsen sein, d. h. unerschütterlich gleich ihm“ („Correspondance“ III, S. 171).
Der dekadente Lebensdurst
Oder es entspringt aus dem Widerstreit der Schwäche mit der ersehnten Stärke jene Einstellung des Lebenswillens, die man als Hunger nach Lebendigkeit oder als Lebens*
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durst zu bezeichnen pflegt. Gierig stürzt sich der Mensch auf alle möglichen Dinge, um durch ihren Besitz oder durch ihr Erlebnis über die greisenhafte Leere seiner Persönlich" keit hinweg zu kommen. Es ist die danaidenhafte Mühsal: mit dem Endlichen das Endlose ausfüllen zu wollen. Aber so heftig auch die Sehnsucht nach innerer Fülle den De" kadenten zu allen möglichen Handlungen und Versuchen und V ersuchungen drängt, so gering bleibt doch regelmäßig der wirkliche Erfolg dieses endlos variierenden Treibens, Denn es ist ganz vergebens, im Alter durch absichtsvoll peitschende Mittel jene unerschöpfliche Kraft und Vielseitigkeit erzeugen zu wollen, die einem die Jugend mühelos als Geschenk gibt. So begreifen wir Maupassants Klage: „Ach! Ich habe alles begehrt, ohne irgend etwas zu genießen. Ich hätte der Lebenskraft einer ganzen Rasse bedurft, der verschiedenen Intelligenz, die über alle Wesen ausgestreut ist, aller Fähig" keiten, aller Kräfte, und tausend Existenzen im Vorrat, denn ich trage in mir alle Begierden und alle Neugierden, und ich bin gezwungen, alles zu betrachten, ohne etwas zu ergreifen,“ — Ganz ähnlich sagt Amiel („Journal“ II, S* 211) von sich: „Meine Seele ist ein Abgrund, dessen Sehnsucht nichts jemals befriedigt und den die Aus" rottung des Verlangens noch nicht beruhigt hat ♦ . ♦ Diese unendliche und unbestimmte Inbrunst ist ein Durst, der nicht erlischt,“ — Und so sehen wir die innere Notwendig" keit, die in den Geschichten E, v, Keyserlings die vom Lebenshunger Getriebenen regelmäßig in den Abgrund stürzt.
Diese Verkoppelung von leidenschaftlicher Lebenssehn" sucht und ihrem Gegensätze: dem Widerwillen gegen das
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Dasein, weil es als leidvoll empfunden wird diese Ver* koppelung ist einer der typisch romantischen Charakter* züge* Das Leben Berlioz' kann es in reinem Beispiel lehren. Dieser Große läßt sich willig von allen Zufällig* keiten des Lebens treiben, wirft sich enthusiastisch in jede neue Lebensmöglichkeit hinein, die sich plötzlich vor ihm auf tut? „eine fessellose Kraft, unbewußt des Weges, den sie verfolgt“: im Leben und in der Kunst ein Abenteurer, haltlos und schweifend. Dabei innerlich von Schmerz bis zum Bersten angefüllt: „eine Seele trunken vom Leben und ausgezehrt vom Tod“, nervösen Angstanfällen hilflos preis* gegeben, vom Gefühl der Leere und der Einsamkeit ge* plagt, ohne Vertrauen auf Gott, Welt, Menschen oder was immer es sei: „Alles ist nichts! Alles ist nichts! Liebt oder hasset, vergnügt euch oder leidet, bewundert oder schmähet, lebet oder sterbet — das ist ganz egal! Es gibt nichts Großes, nichts Kleines, nichts Schönes, nichts Häßliches: das Unendliche ist gleichgültig, die Gleichgültigkeit ist un* endlich“ (vgl. R. Rolland, „Musiciens d'aujourd'hui“, S. 13-24 [1908]).
Der dekadente Hochmut
Es zeigt sich in dialektischem Gegenstoß eine sonderbare Neigung der Dekadenten, ihre Schwäche als eine Stärke hinzustellen, der nur zufällig keine passende Welt zur Aus* Wirkung gegeben sei. Ein Kultus des Ideals tritt auf, mit einer Stärke, die der Kulturmensch gar nicht kennt. Zu allem und jedem Tun wäre ich bereit — so hören wir immer wieder behaupten — sofern ich sicher wäre, meinem Ideal zu entsprechen ; aber dies Ideal ist unerreichbar. Und
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nichts Anderes verdammt mich zur Untätigkeit und Zurück' haltung, als die Geringwertigkeit und Schmächtigkeit der Welt um mich her* Weil die Welt also unfähig ist, die Laufbahn des Ideals zu bilden, weil sie zu schwach ist, das Schreiten des Riesen zu ertragen, wenn er sich erhübe, deswegen wird keine Mühe an diese Erde verwandt, wird jede Arbeit verschmäht Alles was existiert ist nur ein schmähliches Zwischending, schwebend zwischen dem Ab' soluten und dem Nichts* Einzig erstrebenswert aber sei nur die Leistung des Ewigen* Wenn der Dekadente nichts tut, so liegt das nicht so sehr an ihm, als an seinem um geheueren, zu ungeheueren Streben in der fehlervollen Enge und Engherzigkeit der Wirklichkeit. Nicht seine Schwäche ist Grund seines Mißgeschicks, sondern seine exorbitante Stärke, seine Dynamik, die keinen Raum zur Auswirkung finden kann. So wird aus der Dekadenz eine ungewürdigte, entwürdigte Genialität*
Amiel charakterisiert sich einmal so: „Ich warte immer auf die Frau und das Werk, die fähig wären, über meine Seele Macht zu gewinnen und mein Ziel zu werden * . . Ich habe an keinem Ding einen herzlichen Anteil genonv men, daher stammt die Unruhe meines Geistes* Ich will ihn nicht von dem ergreifen lassen, was ihn nicht völlig ausfüllt, daher stammt mein instinktives, unbarmherziges Michlösen von allem, was mich entzückt, ohne mich end' gültig zu binden* Meine anscheinend unruhige Beweglich' keit ist also im Grunde nur ein Suchen, eine Hoffnung, ein Verlangen und eine Sorge: das krankhafte Ersehnen des Ideals (maladie de Tideal). Die Problematik liegt also immer zwischen dem Ideal und dem gesunden Menschen'
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verstand, indem das eine keine von seinen Forderungen nachläßt, der andere dem Durchschnittlichen und dem Wirklichen sich anpaßt14 („Journal“ I, S. 111, vgl. I, S. 35),
Wenn man dies liest, so klingt alles ganz überzeugend, und es ist sicher subjektiv aufrichtig gemeint gewesen; und dennoch war Amiel einer der typischsten Dekadenten, dessen Bekenntnisse wir oft zitieren.
Leopardi ist es wohl gewesen, der am schärfsten die These proklamiert hat: der Geniale ennuyiert sich, weil seine Seele zu groß für das Dasein ist („Oeuvres morales“, zitiert in Tardieus „Ennui“, S. I66f.). „Der Ennui ist in gewisser Weise das sublimste der menschlichen Gefühle: weder durch irgend ein irdisches Ding noch sozusagen die ganze Erde befriedigt werden; die unermeßliche Weite des Raumes betrachten, die wunderbare Anzahl der Welten und ihrer Massen, und finden, daß dies wenig ist für die Größe unserer Seele; unendliche Welten sich vorstellen, das un¬ endliche Universum, und fühlen, daß unsere Seele und unsere Sehnsüchte noch größer als ein solches Universum sein würden; unaufhörlich die Dinge der Ungenüge und der Nichtigkeit anklagen, schmerzlich leiden unter dieser Mangelhaftigkeit und dieser Leere, die man Ennui nennt. — Das ist, glaube ich, das hauptsächlichste Charakteristi¬ kum der Größe und des Adels, welches die menschliche Natur aufweist. Ebenso wird der Ennui selten von gering¬ wertigen Menschen gekannt und fast nie von den anderen Tieren.“ — Weiterhin führt der große Italiener seine letzte Idee näher aus: „Man behauptet zu Unrecht, daß der Ennui ein allgemeines Übel sei. Was allgemein ist, ist nur
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die Beschäftigungslosigkeit oder, besser gesagt, der Müßig* gang, nicht aber der Ennui. Der Ennui gehört nur denen, in welchen der Geist eine gewisse Stärke gewonnen hat» Je kräftiger der Geist in einem Menschen lebt, desto häu* figer, schmerzlicher und schrecklicher ist der Ennui» Die meisten Menschen finden eine genügende Beschäftigung, womit es auch sei, und ein hinreichendes Vergnügen in irgendeiner dummen Beschäftigung: sobald sie unbeschäftigt sind, leiden sie nicht darunter. Daher kommt es, daß die Empfindsamen so wenig bezüglich des Ennui verstanden werden, und daß sie das Erstaunen und das Gelächter des Durchschnittsmenschen hervorrufen , wenn sie davon sprechen und sich darüber in ernsthaften Worten be* klagen, mit denen man gewöhnlich die größten und un* vermeidlichsten Übel des Lebens ausdrückt.“ — Sören Kierkegaard bestätigt diese Auffassung: Not, Qual, Para* doxen sind die Kennzeichen der Großen („Furcht und Zittern“, S» 57 ff.).
Jener Hochmut der Dekadenten, der sie meinen läßt: sie seien die Auserwählten, bleibt nicht immer in dieser Ab* straktheit, sondern belebt häufig ihre Einbildungskraft der* art, daß sie in ihren Träumen sich als Fürst oder Prophet — kurz als Führer der Menschheit hinstellen. So gelingt dem Dekadenten in seiner Vorstellung die Realisierung seines Wunsches, der sich auf Macht und Herrlichkeit richtend auf dem Wege der Gewöhnlichkeit keine Erfüllung findet. Es mag sein, daß bei manchen Menschen dieser Trieb so stark wird, daß er das Unzulängliche der Ver* anlagung durch ein eigensinniges Streben nach Ausgleichung durch Überwertigkeit anderer seelischer Funktionen über*
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winden will, so daß der Charakter allmählich eine be* stimmte Richtung einschlagen muß, um der Doppelheit seines Wesens zu genügen15. Doch ist dieser Vorgang nicht typisch dekadent; denn er setzt immerhin eine Direktions* kraft voraus, die der Dekadenz durchaus fehlt. Bei ihr bleibt der Wunsch nur Wunsch und verwirklicht sich nur in der Phantastik der wachen Träumerei.
Der Frohsinn des Dekadenten
Der Dekadente ist überwiegend trübselig gestimmt. Er sieht alles in Schwarz. So möchte man ihn für einen greisenhaften Menschen halten, ohne rechten Sinn für die Freudigkeit dieses Daseins. Aber dann und wann verliert diese melancholische Stimmung ihre Herrschaft über sein zu weiches Gemüt, und es stellt sich jener rapide Wechsel zwischen Traurigkeit und Vergnügtheit ein, der mit den vielzitierten Worten von „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ ausreichend charakterisiert wird; und der höchstens insofern andersartiger Struktur ist, als nicht beide Seiten jenes Zitates gleichwertig sind, sondern die Betrübtheit das Übergewicht besitzt. Es ist eben nur ein schmaler Strahl der heroischen Lebensgesinnung, der durch das Dunkel der Negation hindurchfährt; aber er ist um so greller leuchtend und überraschender, als er unvermutet aus der Düsterkeit hervorbricht. Man braucht nur Baudelaires Gedichte durch* Zusehen, um überall diesen scharfen Kontrast zwischen Melancholie und seltener Ekstatik der Freude zu finden. Es äußert sich dies ganz charakteristisch im Übergehen und Ausfallenlassen der milden, versöhnlichen Gefühle, wie sie der Durchschnittsmensch am meisten liebt und kennt.
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Alles ist auf das Extreme hinausgeführt, auch das Leid und die Freude, Es ist nicht jene naive, unmittelbare Fröhlich* keit, von der wir soeben redeten, sondern die absichtsvoll zusammengepreßte Freude, die man gerne Wesen größeren Formates, als wir Menschen es haben, zuteilen möchte. Man kann hier nur Lachen finden, aber kein Lächeln mehr16. Und dann ist noch eine Nuance zu nennen, die das eigentlich Kennzeichnende dieser Freude der Dekadenz bildet: das Mo* ment der Abwehr, wenn wir uns so kurz ausdrücken dürfen ; wir meinen damit eine gewisse Überspanntheit der guten Laune, gleichsam als stehe sie auf der Wache gegenüber der drohenden Gefahr des Mißmutes und als wolle sie den Schild der Hochgemutheit über den Dekadenten halten. Dies kann nicht überraschen; denn das Leid ist ja bei ihm das Eingeborene, dem die Freude als unbefugter Eindring* ling robust entgegentritt.
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AUSSTRAHLUNGEN IM SUBJEKTIVEN
Die Reue
Wir haben besonders einer Leiderscheinung zu gedenken, die in dem Leben jedes Menschen eine mehr oder minder große Rolle spielt: der Reue. Wenn man in der Reflexion über eine Tat merkt, daß sie dem sogenannten Sittengesetze zuwiderläuft, glaubt man das Drohende einer irgendwie Vergeltung suchenden Macht zu fühlen; und um dieser Vergeltung zu entgehen, die man fürchtet — ob man nun an ihre persönliche oder unpersönliche Quelle glaubt — faßt man den Entschluß, zu der Handlungsweise zurück' zukehren, die einem als die moralische erscheint. So ist das, was man als Reue bezeichnet, eine vielfältig kompli' zierte Gruppe von Elementen: Tendenz zum Dämonischen und zum Positiv^ Absoluten und Furcht oder Angst. Die Entwicklung dieses Vorganges ist verschieden, je nachdem er sich abspielt in der Seele eines überwiegend positiv oder dämonisch oder absolutistisch Gesinnten oder eines Dekadenten — und nur dieser letzte Fall hat für uns Wich' tigkeit.
Die Reue greift naturgemäß um so schärferinden seelischen Zusammenhang hinein, je stärker das Bewußtsein von der
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Würde der sittlichen Werte im Menschen wurzelt. Einer der wesentlichsten Unterschiede innerhalb des psychischen Grundcharakters der dämonischen und der dekadenten Menschen liegt in diesem Bewußtsein von der Verpflichtung zum Positiven und Absoluten und in ihrer Fähigkeit, zu bereuen.
Der Dämonische hat kein Gewissen, er bereut nicht 17, er
sieht die positiven Mächte für etwas Gegebenes an, dem
gegenüber er seine zerstörerische Macht entfalten — soll
und kann. Bei ihm verbindet sich Zielsicherheit des Ham
delns mit völliger Reuelosigkeit, Ungerührtheit angesichts
• • _
des Todes mit der Überzeugung von der fatumhaften Not' Wendigkeit seiner Tat18.
Dieser Typus ist für alle Theoretik, welche das positive und absolutistische Kulturleben für die einzig'mögliche Wahrheit erklärt, völlig unverständlich. Denn wie kann aus dem Kulturleben, das in seiner Einzigartigkeit die Realität Gottes enthält, eine psychische Wirklichkeit hervor' gehen, die ihren Lebensgehalt in der Bekämpfung der Kultur' inhalte sucht und findet? Durch diesen dämonischen Typus ist die Unhaltbarkeit des absoluten Idealismus dargetan. Freilich hat sich diese Philosophie zu helfen versucht, und zwar auf die einfachste Weise der Welt: sie hat den dämO'
nischen Typus einfach geleugnet. Dennoch stimmen alle
*
Beobachter darin überein, daß es diese Menschenklasse gibt (vgl. den Zusatz „Reuelosigkeit der eigentlichen Verbrecher'
naturen“).
Von solchem merkwürdigen und überraschenden Typus unterscheidet sich der Dekadente in ganz präziser Weise: er hat ein Bewußtsein für die ursprüngliche Gültigkeit der
5 v. Sydow, Dekadenz
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Kulturwerte, er hat daher ein Gewissen und die Fähigkeit, Reue zu fühlen. Die Analysen der dekadenten Bewußt* seinszustande lassen darüber gar keinen Zweifel. Es liegt hier durchaus keine einheitliche, negierende oder positive Lebensrichtung vor, wie bei dem Verbrecher oder dem Kulturmenschen, sondern ein dauernder Zwiespalt wirkt sich aus, ein Schaukelzustand zwischen Anerkennung der Positivitäten und ihrer Verneinung. Der Dekadente lebt fraglos in der negierenden Lebensrichtung, aber er hat doch (wenn auch mehr reflektierend als unmittelbar) die Ver* ankerung im Positiven nicht völlig verloren.
Die Gedichte Baudelaires legen hierfür mannigfaches Zeugnis ab. Es gibt kaum ein einziges, wo nicht in mehr oder minder großer Deutlichkeit die Sehnsucht nach ruhiger Friedlichkeit oder starker Selbstsicherheit über die augenblick* liehe Lust am Negativen hinausweist. So endet die Klage über das unwiederbringlich V erlor en e („Fleurs du m ab 'Nr. 5 5) , in der die Empörung wider das individuelle Schicksal mit einer müden Ergebung in das Unvermeidbare sich vereint, mit der Sehnsucht nach der Ekstase, dem W esen aus Licht und Gold und Duft, das den Satanas besiegen kann. — So erfüllt sich das Gedicht „Moesta et errabunda“ („Fleurs du mal“ Nr. 64) mit dem unendlichen Verlangen nach dem Garten der unschuldsvollen Kindheit, nach Flucht aus der Wirklichkeit, deren schmutziges Wasser unsere Tränen sind. — So schließt das Gedicht „L'Imprevu“ („Fleurs du mal“ Nr. 88) seine Schilderung der menschlichen Trägheit und Ungläubigkeit und der teuflischen Übermacht mit dem Bilde des Engels, der den Triumph der Frommen verkündet, die im Leiden die göttliche Schickung erkennen. — So
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umschreibt das Gedicht „L'Heautontimoroumenos“(„Fleurs du mal“ Nr, 105) den Zustand der absoluten Zerrissen* heit, und „Danse macabre“ („Fleurs du mal“ Nr. 121, vgl. Baudelaires Werke II, S. 554 f.) läßt die Gestalt des Todes in das Bacchanal des Lebens treten.
Indem ein Trennungsstrich zwischen der Tendenz, die vom Gewissen gebilligt ist, und der negativen Tendenz steht, kann in gewissen, von positiver Gesinnung besonders stark erfüllten Augenblicken das Böse als äußere, von außen her zwingende Macht erscheinen. Baudelaire drückt dies einmal so aus : „ ♦ . ♦ ich untersuchte sehr präzis die Er* innerungen an meine Träumereien, und ich habe gemerkt, daß ich immerfort bedrückt wurde durch die Unmöglich* keit, gewisse plötzliche Handlungen oder Gedanken des Menschen zu begreifen, ohne die Hypothese der Anteil* nähme einer auf das Böse gerichteten Kraft, die außerhalb des Menschen steht.“ 19
Solches Schweben und Schwanken zwischen zwei Lebens* arten: dem Lebensbejahenden und der Verneinung, gehört zum innersten Kern des Dekadenten. Es treffen sich in ihm — und je größer er ist, um so stärker! — die beiden Tendenzen kontradiktorischer Art. Siegleiten durcheinander, verschieben sich und suchen vergeblich zu einer Einigung oder auch nur zu einem Ausgleich zu gelangen. Es ent* springt hier jene Unsicherheit in der Konstitution der Charaktere, die fast allen romantischen Menschen eine aal* glatte Ungreifbarkeit sichert, ein Entrinnen jeder Formel, ein Ausgleiten aus jedem Behälter; jede Analyse zeigt nur, je tiefer sie eindringt, um so stärker, dieses Wechsel volle Spiel der Antithesen, diese sicherheitslose Wandelbarkeit.
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Gewiß .ist die Reue an sich keine dekadente Wesens* eigentümlichkeit; die Autobiographie eines der reinsten Menschen, die je gelebt haben: der heiligen Theresia, ist erfüllt mit den fortwährenden Bekenntnissen ihrer Unvoll* kommenheit. Nur dort kann sie bedenklich erscheinen oder vielmehr als Zeugnis eines problematischen Charakters gewertet werden, wo sie in andauerndem Wechselspiel mit Rückfällen auftritt, wo sie also nicht das Zeichen einer fortschreitenden Sublimierung, sondern das Kennwort der Unverbesserlichkeit ist Und eben dies ist bei den Deka* denten der Falk Sie haben hierin einige Ähnlichkeit mit den Greisen; auch diese erfüllen ihre Zeit gern mit Reue* Gedanken — die doch eigentlich nutzlos sind, da die Mög* lichkeit der Bewährung im tätigen Leben fehlt, nutzlos auch insofern, als der Abgrund, den die Reue vermeiden möchte, sich unverdeckt und unentrinnbar vor ihnen auftut
Daß solche Reue bei den Dekadenten nicht durchgreifend wirkt, erklärt sich vielleicht auch aus einem Grunde, den man paradox so formulieren möchte: der Unfähigkeit, zu sündigen. Gewiß hat diese zu allgemeine und zu tief grei* fende These nicht ganz recht; gewiß sündigt jener, inso* fern er das deutliche Bewußtsein des Verbotes und der eigenen Norm Widrigkeit hat. Aber die Radikalität des Willens zum Negativen geht ihm ab. Er hat daher immer die bewußte oder unbewußte Entschuldigung für sich: nun, ein ganz schlechter Kerl bin ich denn doch nicht! Daher kann hier an das Jesus wort erinnert werden, das dem „Kalten“, d, h, dem Verbrecher, Gnade verheißt, aber den „Lauen“ mit völliger Verwerfung bedroht. In der Tat: der Verbrecher kann sich viel eher „von seinen Sünden
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bekehren“, als der Schwache, der eben deshalb schwach ist im Vergehen wie im Bereuen, weil soviel Entgegen- Setzung in ihm lebt. Darum hat man dann hin und wieder von manchen geglaubt, ihre Taten hätten sich lediglich in ihrer Vorstellung abgespielt, sie selbst aber seien faktisch (im eigentlichen Sinne des Wortes!) schuldlos20.
Die Lust am eigenen Schmerz
Hier findet jene sonderbare Erscheinung ihren Ort, die als Lust am eigenen Schmerz, luxury of pity (Spencer), plaisir dans la douleur (Boullier), plaisir de la douleur (Ribot), die Aufmerksamkeit der Psychologen auf sich ge¬ zogen hat. Wie immer finden sich zwei Arten dieser Freude: Lust am physischen und Lust am seelischen Schmerz. Ob man die entzündeten Ränder einer alten Wunde wieder zum Bluten bringt oder ob man das Erinnerungsbild einer enttäuschten Hoffnung wiederbelebt, ist für den Mecha¬ nismus und das Verständnis seiner Struktur gleichgültig. Das Bedeutsame ist diese Tatsache, daß viele am leid¬ vollen Zustande ihres eigenen Wesens eine unzweideutige Freude haben.
Man muß hier freilich einen Unterschied zwischen Arten dieses Lustgefühls machen, die oft zusammengefaßt werden, als wären sie identisch. Es gibt eine freudige Gefühlsbe¬ wegung, die den erfüllt, der seinen Schmerz „ausweinen“ kann — wie der häufige Ausdruck so gut charakterisierend lautet — der seinen Schmerz durch Tränen erleichtert. Hier ist das Weinen ein Element der Verminderung des Leid¬ gefühls, ein Anzeichen dafür, daß die Unlust ihren Höhe¬ punkt überschritten hat und Linderung naht. Der ver-
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schlossene Schmerz ist oft gefährlicher und heftiger, als der geäußerte, veräußerlichte Schmerz.
Neben diesem Gefühl der Befreiung, das man richtiger als das Vorgefühl der Verminderung des Schmerzes be¬ zeichnen sollte, kommt in religiösen Traktaten eine reale Freude zum Ausdruck, wenn es dem Menschen schlecht geht. Und zwar in doppelter Hinsicht. Einmal dann, wenn die äußeren Lebensschicksale niederdrücken, und zweitens, wenn der Gläubige von dem Bewußtsein seiner Minderwertigkeit, seiner Sündhaftigkeit zu Boden gedrückt wird. In beiden Fällen fühlt sich der Christ seinem trans¬ zendenten Gotte nähergerückt, und insofern erfreut ihn seine Machtlosigkeit, Häßlichkeit und Erbärmlichkeit. Ins¬ besondere jener Zustand völliger Zerknirschung wird von den Ekstatikern gepriesen, der durch „die Gabe der Tränen“ charakterisiert ist, eine Gnade, die nicht allen zuteil wird21. Man sieht leicht die Nuancierung, die diesen Zustand von dem oben erwähnten unterscheidet: dort handelte es sich einfach um die Verringerung seelischer Qual, hier aber wird das Leid zum Sprungbrett für die Erlangung anderer Seligkeiten gemacht, es wird aufgenommen in die Ökonomie des Seelenlebens.
Von diesen beiden Arten der Freude am eigenen Schmerz, die nur eine Maskierung des prinzipiell oder teilweise be¬ stehenbleibenden Schmerzes sind, ist jene eigentliche Freude am Leiden zu trennen, die in der Tat den eigentümlichen Selbstwiderspruch enthält, dessen meta¬ physische Lösung am Anfang dargelegt wurde, — wenn etwa ein Mensch in Erinnerungen lebt, und zwar gern lebt, die für ihn außerordentlich schmerzlich sind und die er mit
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leichter Mühe unterdrücken könnte und die er dennoch immer wieder in seiner Vorstellung belebt: trauernd zieht er sich von der Welt zurück und lebt dem Kultus seiner düsteren Erinnerungen usw. — Spencer hat nur einen der vielen Fälle zur Erklärung des widerspruchsvollen Gefühles herangezogen: er denkt an jenen Falk wo ein Talentvoller und Verdienstvoller, nicht nach dem Maß seiner Leistungen behandelt, unablässig die Bitternis des Vergleiches dessen, was ihm gebührte, und dessen, was er erreichte, schmeckt („Principles of Psychology“ II, §518); er erkennt aber selbst an, daß diese Erklärung aus gekränktem Ehrgefühl zu eng ist« Sie ist auch insofern unzutreffend, als hier die Schmerzlichkeit der Vorstellung keineswegs das Wichtigste ist, sondern nur einen Neben* erfolg der Erinnerung darstellt, deren Hauptwert für den Enttäuschten im Bewußtsein seiner wahren Größe liegt. Ribot hat die wichtigeren Zusammenhänge klarer gesehen. Er stellt eine Stufenfolge von Erscheinungen auf, die jene Widersprechendheit aufweisen: ästhetische Melancholie, Spleen, Melancholie im medizinischen Sinne, Neigung zum Selbstmord, endlich den Selbstmord; er hält alle diese Phänomene für pathologisch („Psychologie des sentiments“ S. 66). Man wird diese Aufzählung insofern korrigieren müssen, als die Erscheinungen der Neigung zur Selbstent* leibung und solche Tat selbst nicht mehr in den Bereich unseres Programms fallen, weil sie nicht dekadent, sondern dämonisch sind. Es bleiben also noch die Sympathien für melancholische und spleenhafte Zustände übrig, die ja in der Tat diejenigen Gefühlstendenzen begründen, die wir früher erörtert haben.
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Baudelaire deutete schon richtig auf die metaphysische Wurzel der Freude am Schmerzlichen, als er von der Liebe zu häßlichen Frauen sprach: „Für gewisse Neugierigere und Blasiertere entstammt das Vergnügen an der Häßlichkeit einem noch geheimnisvolleren Gefühl, welches der Durst nach dem Unbekannten und der Geschmack für das Ent' setzliche ist. Dies Gefühl, dessen Keim, stärker oder schwächer entfaltet, ein Jeder in sich trägt, ist es, welches manche Dichter in die Hörsäle und Kliniken stößt und die Frauen zu öffentlichen Hinrichtungen. Ich würde den Ver^ ständnislosen lebhaft bedauern — eine Harfe, der eine dunkle Saite fehlte !“ („Choix de maximes consolantes sur Famour“ [1846]; „Oeuvres posthumes“ S. 357 [1908]).
Zu trennen von diesem eindeutig auf seine Selbst'Negation gerichteten Gefühle ist die Mischung, welche zwischen ihm und dem Mitleid entstehen kann. Hierbei wühlt der Dekadente in seinem Schmerze, aber nicht, um sich darin zu verbeißen, sondern um sich nun weiterhin zum Objekte des Bedauerns zu machen: „Was für ein beklagenswerter Mensch bin ich doch!“ Hiermit sind wir aber schon zu einer anderen Misch'Form zwischen Freude und Leid gelangt.
Die gleiche seelische Ursächlichkeit dürfte in den som derbaren Todes^Wünschen sich verbergen, denen die Pubertätszeit beider Geschlechter frönt. Es kompliziert sich hier stärkster Lebenswille mit Selbstverneinung und einer Empörung wider die Menschen und die Welt. Flau* bert hat diese Stimmung in seinem Roman „Novembre“ eindringlichst geschildert. Vielleicht mischen sich hier auch Rachegedanken ein. Man sehnt sich nach lebensvoller Ge* schlechtlichkeit, empfindet alle ihre Kräfte in sich gären
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— und nun stemmen sich sittliche Vorschriften, Weltum kenntnis und Furchtgefühle vor gewissen Folgen dem Mut' willen entgegen ; da entspringt der Gedanke der Rache : ist das Leben so grausam, so vergelte man ihm Gleiches mit Gleichem! Läßt es das Lebenzeugende in uns zugrunde gehen — so treten wir selbst uns rächerisch nieder! — Hier ist das Negative also wesentlich dämonisch bestimmt.
Die Blasiertheit
Zum Leben in der wirklichen Welt um uns her gehört eine gute Portion Lebenshunger und Lebensdurst. Wer dem Leben nicht mit heftigen Sinneswünschen entgegen' tritt, wird immer eine traurige Figur unter den Lebenden abgeben. Nur der Wille zur Macht — ein Wille, der Selbst' Sicherheit voraussetzt, wird dem Leben gerecht. Eben solch ein Wille, solche zielbewußte Aktivität, fehlt dem Deka' denten. In den Jahren des Greisenalters pflegen die Ge' nüsse und Freuden nicht mehr zu reizen; der Mensch wird apathisch den individuell belangvollen Dingen gegenüber. Solche Reifheit in jungen Jahren, solch Sich'Verfrühen des Greisenhaften in einer Lebenszeit, die durchweg von stür' mischer Begierde glüht, ist die Blasiertheit.
Man meint gewöhnlich, sie sei eine Affektation des Bk' sierten, eine Maske vielleicht für innere Hohlheit, ein frei' williges Laster. Gewiß gibt es auch diese Art; aber sie ist doch sehr sekundär wichtig. Bedeutungsvoll für uns sind nicht die Maskeraden, sondern die Grimassen der Mensch' lichkeit. Solche Grimassen aber schneidet der eigentliche Blasierte durchaus nicht gutwillig und absichtsvoll brüs' kierend; diese seine unfreiwillige Haltung schmerzt ihn
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mehr als andere Menschen* Denn die Gleichheit zwischen dem Greise und dem blasierten Jüngling ist nur äußerliche Ähnlichkeit: in jenem sind die Triebe zur Macht erloschen, in diesem aber finden sie sich noch andeutungsweise vor und suchen zu beharren»
In dem Blasierten überwiegen die Gefühle, aus denen die Nichtigkeit der Welt hervorleuchtet» Das Gefühl der Schwäche, der Haltlosigkeit, der Trauer» Der Blasierte steht der Wirklichkeit als Gefühlsmensch gegenüber; sein Wille ist gewöhnlich ebenso wie seine Handlungskraft schon erloschen» Er ist ein Passiv'Negativer, denn die Sehnsucht zum Negativen überwiegt in ihm» Das Gegebene scheint ihm nichtig und belanglos, farblos und kraftlos, wertlos»
Der eigentlich Blasierte, derjenige, dem wirklich alle Dinge gleichgültig sind, ist der Greis* Dieser hat die Eitelkeit aller Dinge eingesehen» Soweit aber ist der Blasierte, von dem hier die Rede ist, noch nicht gekommen; er ist erst teil' weise Greis» Aber die Blasiertheit schwächt nun alle leiden' schaftlichen Strebungen, wendet das Vergnügen bald in Wehmut, den Wohlgeschmack in Ekel um. Soweit auch der Blasierte sucht, findet er keine Wirklichkeit, deren Posi' tivität die Negativität seiner Gefühlswelt überwände, die sich immer wieder als die mächtigere erweist.
So flüchtet sich seine Sehnsucht zur phantasierenden Vorstellung, um so die festesten Objekte ihres Strebens zu finden» Aber auch solcherart mißlingt die Absicht: die Blasiertheit zu überwinden» Denn wie ungeheuerlich das Werk der Phantasie auch werde, es entnimmt doch immer seinen Stoff der Wirklichkeit. Diese aber, einmal für wertlos erkannt, kann auch nur wertlose Kombinationen ihrer
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Elemente gestatten. Je gigantischer die Vorstellung sich reckt, desto furchtbarer droht die Enttäuschung. Das noch Schlimmere vielleicht ist die weitere Herabsetzung des Wertes der Wirklichkeit. Man durchlebe in wünsch toller Vorstellung eine Situation, so wird sie, in Wirklichkeit sich wiederholend, schwach und mühselig wirken. Wer sich einem plastischen Phantasie*Leben sehr hingibt, wird das Wirkliche als dumme und schlechte Kopie, als schwachen Schatten verachten; er muß zum Blasierten werden.
Die Langeweile
Eine besondere Nuance des Blasierten ist der Gelang' weilte. Der Blasierte steht der Welt in stärker betonter Gleichgültigkeit gegenüber, der Andere aber wäre keines* wegs überrascht, wenn irgendein großes, übermächtiges Ereignis ihn aus der müde abwartenden Ruhe, mit der er die Welt betrachtet, herausrisse. Während der Blasierte* hoffnungsloser den Lauf der Welt als eine Störung seiner Ruhe empfindet, meint der Gelang weilte, daß die Welt doch noch vielleicht zu etwas nützlich sein könnte: ihn zu zer* streuen, zu amüsieren. Die Kategorien, nach denen er die Welt beurteilt, sind : Interessantheit und Langweiligkeit. Inter* essantheit heißt für ihn: Anders*Sein als das, was ge* wohnlich ist. Für ihn hat der Wechsel einen absoluten Wert. Er erscheint ihm schlechthin schätzenswürdig, mag dabei herauskommen, was will — die Hauptsache ist, daß Er eine Abwechslung habe. Die Welt wird von ihm so* Zusagen als sein Privat*Affentheater betrachtet, in dem die Menschen sich die größte Mühe zu geben haben: Neu^ heiten zu produzieren. Letzten Endes wäre der Gelang*
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weilte sehr froh, wenn irgendein Ereignis ihn aus seinem Abwarten herausrisse. So wird er zu dem, der auf das Wunderbare wartet. Irgend etwas Großes, etwas Um gemeines muß sich ereignen; denn er ist fest entschlossen, seine Ruhe nicht um ein Linsengericht zu verkaufen. Also muß die Welt sich schon etwas anstrengen, um seinen Ansprüchen zu genügen. Aber dafür ist sie ja schließ' lieh doch auch da! Was hätte sie sonst noch für einen Daseinszweck ?
Die Langeweile ist ein Schmerz, der zugleich die An' Spannung der Erwartung in sich enthält ; sie vereinigt Leiden an der Gleichförmigkeit der Welt und Sehnsucht nach Freude durch Abwechslung, die längere Zeit unbefriedigt bleibt. Diese Freude aber ist rein formal: sie meint erfüllt zu sein, sobald nur der gegenwärtige Zustand geändert wird. Die innere Aufgeregtheit findet sich in Gegensatz zur umgeben' den ruhig unveränderten Welt. Dieser Widerspruch schmerzt. Er soll beseitigt werden. Diese Beseitigung soll durch eine bloße Veränderung der Wirklichkeit erfolgen; was dabei herauskommt, ist völlig gleichgültig, die Hauptsache ist: daß überhaupt etwas vor sich geht. Diese Sehnsucht zum Amüse' ment um jeden Preis und als Selbstzweck ist so allgemein geworden, daß es fast paradox erscheinen muß, die ganz einfache Frage zu stellen, ob denn dieser Zustand ein so selbstverständlicher ist, als der er heute den meisten er' scheint. Man braucht nur die religiöse Vorstellungswelt zu befragen, um sogleich eine verneinende Antwort zu erhalten. Die einzige Beschäftigung der seligen Geister ist ja bekannt' lieh: der Preis Gottes im Halleluja'Gesang. Sicherlich kein Tun, das der Anforderung nach fortwährender Abwechslung
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konform ist; so wenig konform ist, daß moderne Evangeli- satoren diesen Glaubensartikel ohne weiteres aufgeben. Wie wenig wissen diese Leute doch von der Ruhe der glück¬ lichen und seligen Menschen ! Die Uhr schlägt keinem Glück¬ lichen, so sagt Schiller, der nur allzusehr recht hat. Das völlige Glück umschließt die vollkommene Ruhe innerhalb der vollkommenen Geistigkeit. Der Selige ist nicht mehr untertan dem Ablauf der Zeit und ihrem Wechsel, er lebt in der Ewigkeit, d. h. der Gegenwart, die sich nicht ver¬ ändert. Der Glückliche will sich nicht aus dem Genuß seines ruhevollen Zustandes entfernen, er verabscheut die Veränderung. Nur der Unglückliche wünscht die Wechsel¬ haftigkeit der Schicksale herbei in der Hoffnung, daß sich sein Leid vielleicht in Freude wandeln könnte. Die rück¬ sichtslose Sehnsucht nach Abwechslung entspringt also dem Gefühl der Unbefriedigtheit , der Leere an substantiellen Lebensinhalten. Es gibt nur ein Lebensgut, das gänzliche Befriedigung erwachsen läßt: das Leben aus dem Absoluten. Wo dies fehlt, helfen alle kleinen Mittel des Amüsements und der Zerstreuungen nicht im geringsten , sie sind nur ein momentanes Palliativ, dessen Wirkung im nächsten Augen¬ blick verfliegt und nach Erneuerung verlangen läßt, eine Erneuerung, die aber letzten Endes wiederum fruchtlos bleibt, weil alles Dargebotene endlich und begrenzt ist. Aber nur das schlechthin Unendliche enthält die vollkommene Be¬ friedigung. Nun gibt es sicherlich für den Menschen auf Erden keine vollkommene Befriedigung; denn vollkommen glücklich sein, würde heißen: absolut eins mit Gott sein — dies aber ist unmöglich, da Gott sich in unendlich vielen Gestalten explizieren kann und nicht bloß auf die Mensch-
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lichkeit angewiesen scheint* Daher finden wir selbst in den Lebensbeschreibungen der katholischen Heiligen — den ein¬ zigen wahrhaft Beachtens- und Beachtenswerten, deren schwacher Abglanz in Tolstoi sich regte — daher finden wir auch bei diesen unendlich Großen jene Stunden der Trocken¬ heit und Gottesferne, die dann den Durchschnittschristen als gewissermaßen tröstende Tatsache hingestellt werden22* Aber immerhin vermag doch das Absolute im Leben zu überwiegen !
W ir verstehen unter dem „Leben aus dem Absoluten“ natür¬ lich nicht das klösterliche Leben, dem Gebete und der ruhe¬ vollen Beschauung gewidmet, welche sich auf die Persön¬ lichkeit Gottes konzentrieren sollen. Sondern wir meinen mit jener Formel die leidenschaftliche und die ganze Per¬ sönlichkeit ergreifende Hingabe an die eigene Lebensaufgabe. Nur Menschen ohne starke Triebkräfte zur Leistung lang¬ weilen sich und suchen nach Zerstreuungen. Wer etwas zu tun hat, kennt keine leere Zeit. Dem Menschen aber, der nichts mehr vollbringen mag und kann, weil er zu alt oder zu ermüdet oder zu schwach ist, dehnt sich die Zeit zu unerträglicher Länge, die um so schmerzlicher gefühlt wird, je stärker der Trieb zum Handeln in dem Men¬ schen lebt. Denn der Gelangweilte möchte der Pein seines Zustandes entgehen. So zeigt sich hier die gleiche Gegen¬ sätzlichkeit, wie im Gebiete der Arbeit } die Aufforderung zur Tätigkeit lebt im Inneren des Dekadenten in großer Härte und Bewußtheit, aber seine seelische Schwäche ist zu groß, als daß er dauernd tätig sein könnte. Es kollidiert also Tatwille und Ermüdung miteinander. Ebenso hier, nur daß nunmehr dieser Zwiespalt schmerzhaft gefühlt wird,
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indem sich der Widerspruch der Tat und Nicht'Tat in das Zeitbewußtsein projiziert. Dem Müden erscheinen die durch' lebten Zeitspannen als sehr langgedehnt, weil er sie nicht mit Taten ausfüllte; so lebt er sozusagen in einer leeren Zeit, Dem Rüstig' Arbeitenden wird die Zeit dagegen kurz; so lebt er in der gewissermaßen erfüllten Zeit. Denn es gilt der allgemeine Satz, daß die tätig verlebten Stunden kürzer er* scheinen, als die in Passivität verbrachten (Fr. Jodl, „Psy* chologie“ II, S. 2 13 ff.). Dem Alter, wie der Ermüdung, wie der Dekadenz ist die Langeweile oder das Leiden unter der Leerheit der Zeit gemeinsam, weil die innere Lebendig' keit der seelischen Aktivität abgeschwächt ist. Und nur dies verstärkt die Peinlichkeit dieses Zustandes für den Deka' denten, daß er zur gleichen Zeit den Drang zur energisch' sten Betätigung, wiewohl schwächer als die Hemmung durch Müdigkeitsgefühle, in sich spürt.
Die Übersättigung
Übersättigung bedeutet die Gleichgültigkeit gegen einen Genuß und die Zurückweisung eines Genusses — den man zu oft hatte. Nicht dem Produktiven, sondern dem Re* zeptiven droht dies Schicksal. Die Phänomenologie des Ge' nießers ist eine verwickelte und interessante. Zwei Haupt' typen kann man im Leben deutlich hervortreten sehen: den Genießer, der arbeitet, um genießen zu können — und den Genießer, der bloß genießen möchte. Beiden droht die Über' reizung durch den Genuß, dem zweiten Typus natürlich stärker als dem ersten, und so denken wir regelmäßig an diesen bestimmten Nur'Genießer, sobald wir von Über' Sättigung reden.
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Warum steht denn eigentlich jenes Schicksal des Welt' Schmerzes dem Genußmenschen bevor? Oder wären dies vielleicht nur Möglichkeiten, die bald so, bald anders ge'
» wendet werden könnten? Oder ist die Warnung vor der genießerischen Lebenseinstellung vielleicht nur ein Kunst' griff kapitalistischer Ausbeutungssucht? Was dem Genießer fehlt, ist das Schöpferische des Lebens, soweit er selbst in Betracht kommt Gewiß weiß er das Produktive der Anderen gut zu erkennen; ja: er ist gerade eingestellt auf das Indivi' duelle der Anderen und angewiesen auf deren Produktivität als auf eine notwendige Vorbedingung seiner Existenzweise* Denn der Genuß erfordert, um Lust zu erregen, die Ab' wechslung oder die Steigerung. Nun gibt es aber gar keine so große Differenzierung der Genußobjekte, daß nicht nach einiger Zeit eine gewisse Gleichförmigkeit empfunden würde; folglich muß der Genuß gesteigert werden. Nun ist aber sowohl die subjektive Genußfähigkeit wie die objektive Steigerungsmöglichkeit auf bestimmte Grenzen angewiesen. Der Genießer ist also bald an der Grenze der LeistungS' möglichkeit angelangt. Je klüger und feinfühliger er ist, desto schneller fällt er diesem Schicksal des Überdrusses am Ge' nusse anheim. Es scheint hierin doch eine psychologische Gesetzlichkeit zu liegen, die nicht umgangen werden kann. Die Aufgabe des Menschen ist die immer gesteigerte Inten' sivierung der Kultur und gegen dies FundamentaLPrinzip verstößt der Genießer. Denn er leistet für seine Person nichts, er ist nur Echo der Anderen.
Schopenhauer hat die Charakteristik des geistigen Ge' nießers gegeben. Huysmans beschreibt als ein spezifisches Kennzeichen des Marquis des Esseintes dessen intellektuell'
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ästhetische Rezeptivität. Die Marquise du Deffand ist ein Beispiel aus der Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts.
Das Grauen
Der Reiz des Abgrundes, der im Leben der Dekadenten eine so große Rolle spielt, ist nur die reinste Form des Negativen. Unbefangener gleichsam kommen wir mit ihm als einer umkleideten Wirklichkeit in Berührung, sobald wir das Gefühl des Gruseins oder, seiner verstärkten Art, des Grauens spüren. Das Dunkle und Unbestimmte ist es, das die Wohnung dieser Gefühle seit alters bildet23. Das Ununterscheidbare, von dem wir irgendwie getrennt sind, so daß wir keine Macht ihm gegenüber haben ; das Nächte liehe, welches alle Dinge in der Tarnkappe unsichtbar werden läßt. Die Gespenster huschen in dieser Nacht, die schädlichen Geister der Hölle nahen sich als Incubi und^ Succubi ihren Opfern. Das Geheimnis umgibt alles; wir können keine klare Anschauung von den Dingen gewinnen, uns „keinen Begriff“ von ihnen machen. Das wache Be- wußtsein und seine Wissenschaft fehlt. Das Positive ist ge- schwächt. Das Auge der Vernunft ist erblindet. Darum wird Faust zum Blicklosen, als er dem Grabe näherkommt ; denn das Greisentum tritt immer weiter in den Schatten des Sterbens hinein, vor kurzem schwächte sich seine Seh¬ schärfe, bald wird es ganz erblindet sein.
Sobald der positive Kulturmensch etwas nicht genau ge¬ danklich sich deutlich machen kann, erfaßt ihn ein sehr un¬ behagliches Gefühl, das viel von diesem Gruseln in sich trägt. Das Abgründliche tritt ihm sozusagen in Reichweite nahe. Darauf beruht der Reiz der Maskerade: man weiß
6 v. Sydowj Dekadenz
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genau, daß ein sehr harmloser Erdenbürger in jenem Mummen* schanz sich verbirgt, aber die Maske als solche hat doch etwas von dem infernalischen Schimmer des letzten Ge* heimnisses der Wirklichkeit an sich; so ist man absolut ruhig, aber relativ erschreckt. Denn auch der Tod, der Ver* brecher und das Unglück überhaupt nahen sich nur zu oft maskiert 24,
So erscheint dem Dekadenten das Leben mit grauen* haften Triebkräften umflochten und durchsetzt: es ist die Maskerade des Nichts, des Todes!
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AUSSTRAHLUNGEN IM OBJEKTIVEN
Das dekadente Naturgefühl
Für den Kulturmenschen unserer Tage ist das Natur' gefühl eine Quelle größten Genusses, vom Ausruhen des Ermüdeten im Spaziergang „durch Feld und Wald“ bis hin' auf zur rauschhaften Enthusiastik amerikanischer und belgi' scher Dichten Überall das Gefühl: wir finden eine En Weiterung des Lebens, Erfrischung und Erhöhung: wir spüren den ungeheuren Lebenstrieb, als dessen höchste Frucht unser eigenes Geschlecht hervorgetreten ist. Das Naturgefühl ist gleichsam der gemütshafte Beweis der Entwicklungstheorie und unsere Zustimmung zu ihr; die subjektive Erfassung ontologischer Zusammenhänge 25.
Diese Einstimmung in das Wesentliche des Naturhaften: den unbekümmerten Schaf fenstrieb mit seiner üppigen Ver' schwendung und rücksichtslosen Kraftentfaltung, widerstrebt den Dekadenten, Sie sperren sich ab gegen die Anerkennung der regungsvollen Lebendigkeit und ihr Naturgesetz: den Kampf um die Macht. Die Natur ist ihnen unsympathisch.
Im klassischen „Journal“ der Goncourts steht der Aus' Spruch: „Für mich ist die Natur eine Feindin. Die Land' schaft scheint mir ein Leichenbegängnis. Die grüne Erde kommt mir wie ein Kirchhof vor voll Erwartung. Dies
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Gras frißt den Menschen . . . Gar nichts von der ganzen Natur redet zu mir, sagt meiner Seele etwas“ („Journal“ II, S. 33f.),— Und Baudelaire schreibt einen Brief voll stärk' sten Hasses wider das Naturhafte:26 „Das Land ist mir verhaßt . ♦ ♦ zumal wenn das Wetter schön ist. Die Behanv lichkeit der Sonne drückt mich nieder; ich meine dann, ich sei in Indien, wo die monotone Stetigkeit ihrer Strahlung mehr als hundert Millionen menschlicher Wesen in dumpfe Mattigkeit wirft ♦ ♦ ♦ Ach! Reden Sie mir doch von dem Pariser Himmel, der immer wechselt, lacht und weint, je nach dem Wehen des Windes, und ohne daß jemals sein Wechsel von Hitze und Feuchtigkeit dem geistlosen Ge* treide nützen kann. Vielleicht werde ich mit Ihren Über' Zeugungen in Konflikt geraten, die Sie als Landschaftsmaler haben werden, aber ich muß Ihnen gleichfalls sagen, daß das Wasser mir unerträglich ist, solange es frei ist; ich will es als Gefangenen sehen, im Halseisen, in den geometri' sehen Mauern eines Quais, Mein Lieblingsspaziergang ist das Ufer des Kanals de FOurcq . , . wenn ich ein Bad nehme, so geschieht es in einer Badewanne; ich habe eine Musik' dose lieber als eine Nachtigall; für mich beginnt der voll' kommene Zustand der Gartenfrüchte erst in der Frucht' schale! ♦ , ♦ Schließlich hat es mir geschienen, daß der Mensch, welcher der Natur unterworfen ist, einen Schritt zurück zur ursprünglichen Wildheit gemacht hat.“ — Noch in den Zu' ständen verminderter Geistesklarheit zeigte Baudelaire Liebe für exotische, sonderbar geformte Pflanzen: „Die Lieblings' blumen Baudelaires sind weder Maßliebchen, noch Nelken, noch Rosen, Mit lebhafter Begeisterung macht er Halt vor fleischigen Pflanzen, welche Schlangen gleichen, die sich auf
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eine Beute werfen, oder kauernden Igeln* Aufgeregte Formen, gesteigerte Formen — das war und ist das Ideal des Dich¬ ters * . ♦ Was rot ist, auffallend, sonor, spitzig, launenhaft — das hat Baudelaire gern aufgenommen, ohne zugleich da¬ nach zu fragen, ob es willkommenen Geruch verbreitete“ (J, Crepet, „Ch* Baudelaire“, S.204, A2)* In seinem schönen Gedicht „Reve parisien“ („Fleurs du mal“, Nr* 126) träumt er von einer Landschaft, der alles Unregelmäßige, Lebendige fehlt* Eine Landschaft ohne Blumen, ohne Tiere, ohne Menschen, ohne Sonne — nur Metall und Marmor sind ihre Elemente und Wasser, zwischen Edelsteinmauern fließend; ein unendliches Palais in der Mitte, ein Babylon von Treppen und Arkaden, von Kaskaden, die zwischen Goldwänden herabstürzen ; zwischen roten und grünen Quais liegen weite, blaue Wasserflächen. — Dies war eines der Gedichte, an denen der große Gautier seine Freude hatte27*
Wie man der Natur gegenübersteht, so steht man auch den Frauen gegenüber. Baudelaire beweist diesen alten Satz. Nicht die landfrauenhafte Matrone, strotzend von Tugend und Gesundheit, ist es, die er gern hat, sondern jene Großstädterin, von der ein bizarrer Reiz ausgeht, die weisheitsvoll gekleidet mit ihrer raffinierten Toilette eine un¬ trennbare Einheit bildet, deren Blick gedankenreich scheint, deren Stimme wie Musik tönt; wie der Dichter sich ein¬ mal gut ausdrückt: „idole, eile doit se dorer pour etre adoree“ (W* W* III, S* 102; vgl. W* W. III, S* 98, IV, S* 1 f*)*
Er suchte nach einer Definition der weiblichen Schönheit und fand diese echt romantisch klingende: „quelque chose d'ardent et de triste, quelque chose d'un peu vague, lais-
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sant carriere ä la conjecture“ (W.W. III, S. 1 02 f ♦)* Den äußeren Schein dieser vagen Traurigkeit und Wärme zu er* zeugen, das Antlitz dem Gesichte einer Statue anzugleichen, preist Baudelaire als Ziel des Schminkens. Er nennt das Schwarz, mit dem man das Auge um zirkelt, und das Rot, das man auf die Wange legt: jenes als den schwarzen Rahmen, der den Blick tiefer und seltsamer macht, die Um' rahmung, die das Auge als Fenster erscheinen läßt, durch das man in die Unendlichkeit blickt — und das Rot als ein Mittel zur Verstärkung des Leuch tens des Augapfels, so daß eine priesterlich'mysteriöse Leidenschaft das Angesicht zu überziehen scheint* Es wäre interessant zu fragen, wie lange es dauerte, bis dieser Gedanke und solche Interpre' tation des Dichters ein Echo in der bildenden Kunst fand. Vielleicht, daß Ed» Munch von gleichen Ideen getrieben war, als er die großen, weitgeöffneten Augen manchen seiner Ge' stalten gab!
Aber diese Wünsche Baudelaires sind nur sozusagen mystifikatorisch gemeint» Er war kein Frauenhasser, wie Strindberg; sondern ein Frauen Verächter. Ihm erscheint das Weib als die menschliche Personifikation von Dummheit und Schlechtigkeit. Vielleicht nennt man die Frauen nur deshalb ein Rätsel, weil sie nichts mitzuteilen haben (W. W. III, S. 97). Und sie sind sittlich minderwertig: weil sie natürlich und gewöhnlich sind, das Gegenteil des Dandy („Mon coeur . . .“, Nr. 4). Und sie sind religiös minderwertig: welche Unterredung vermöchten sie mit Gott zu führen? („Mon coeur ♦ ♦ Nr. 39). Man sollte ihnen den Eintritt in die Kirchen verbieten!
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Die dekadente Metaphysik
Sobald die reflektierende Überlegung das Welterlebnis durchdringt und seine Struktur philosophierend durchleuchtet, sobald also aus der unmittelbaren Lebensweise der Extrakt metaphysischer Systematik gewonnen ist, stellt sich das Gedankengebäude der dekadenten Philosophen in einer interessanten Zwiespältigkeit dar* Denn es verknüpft ja negative mit mystischen Elementen* Diese doppelte Erlebnis* tendenzierung wiesen wir bei Amiel auf: die Erfühlung der sozusagen vorweltlichen Einheit der Welt, ihres Charakters der radikalen Insichgeschlossenheit als Kosmos und anderer* seits die Vorstellung des Zerfallens der Wirklichkeit, ihres Absturzes über den Rand des „Abgrundes“ in die Tiefe des Nichts. Beide Tendenzen zeigt die systematische Gruppie* rung der Vorstellungen abstrakter Artung. — Die deka*
dente Philosophie erfüllt ihre Konstruktionen mit dem Ge*
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fühl der Tragik; sie erzeugt solche tragische Bewußtseins* richtung, indem sie die Welt in zwei radikal geschiedene Hälften spaltet. Auf die eine Seite stellt sie das reine Ja und auf die andere das reine Nein. Zwischen beiden be* hauptet sie eine merkwürdige und nicht näher erklärbare Verbindung, welche aber ihrem Charakter nach unzuver* lässig und lügnerisch sein muß. So wird sie etwa (das ist ihr beliebtestes Vorgehen) einerseits eine Welt der ewigen Festigkeit und andererseits eine Welt der Vergänglichkeit konstruieren. Oder eine Welt der Dinge an sich und eine Wirklichkeit der Phänomenal* Wirklichkeit. Oder ein in* telligibles Ich, dem in der Erscheinungswelt ein andersartiges empirisches Ich irgendwie, auf eine durchaus unbegreifliche
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Weise, verbunden ist. Oder es wird die Wirklichkeit eines mit der Welt irgendwie in Zusammenhang stehenden Welt¬ geistes behauptet, der doch ebenso in diese Welt sich ver¬ wandelt habe, ohne doch ganz in ihr aufzugehen, so daß auch nach dem Fortfall dieser Welt er doch sein Dasein, nunmehr in reinerer Gestalt, wieder weiterführen könnte. Mit diesen Thesen, die an sich nicht weiter bedenklich sind, verbindet sich dann die weitere Meinung der schroffen Gegensätzlichkeit beider Wirklichkeitselemente und die Be¬ hauptung, daß die entfaltete Wirklichkeit dem Vergehen ge¬ weiht sei, ja an ihrer eigenen Überwindung und Vernich¬ tung arbeiten müsse, um ihren intelligiblen Charakter wieder¬ herzustellen. So schweißt die dekadente Philosophie das Ab¬ solutistische und Passiv-Negativistische in eine Einheit zu¬ sammen, in welcher zwar das Absolute sehnsuchtsvoll als das Überragende, das Entgegengesetzte aber als das un¬ mittelbar Kräftigere und den Sinn der Wirklichkeit unmittel¬ bar enthaltende Element bezeichnet wird, dessen erwünschter Selbstmord dann das Dämonische hinzufügt. So erleuchtet Amiels Welterlebnis die Schopenhauersche Dogmatik.
Das dekadente Zeiterlebnis
Die Geschichte der Kultur ist das Dasein der Kultur¬ menschen in der Zeit. Die dekadente Geschichtsauffassung wird sich also ergeben, sobald wir das dekadente Erlebnis der Zeit prüfen. Die Bekenntnisse Charles Baudelaires beklagen immer wieder die Qual, den unerträglichen Druck der Zeitlichkeit: „In jeder Minute werden wir vernichtet durch die Idee und die Empfindung der Zeit.“ (E. Cre- pet I, S. 120 [„Mon coeur. Nr. 74.]) In einem Prosa-
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stück heißt es: „Ach ja! Die Zeit ist wieder erschienen; die Zeit regiert jetzt als Souverän; und mit dem häßlichen Greise ist zurückgekehrt sein ganzes dämonisches Gefolge von Erinnerungen, Leiden, Krämpfen, Ängsten, Beklerm mungen, Alpdrücken, Wutausbrüchen und Neurosen* Ich versichere Ihnen, daß die Sekunden jetzt stark und feier^ lieh betont sind und eine jede, aus der Uhr heraussprim gend, spricht: ,Ich bin das Leben, das unerträgliche, das unbarmherzige Leben.' " („Petits poemes . ♦ ." S. 14 f.; vgl. auch das Gedicht Nr. 104 der „Fleurs du mal".) Das Zeitliche erscheint auch in den „Fleurs du mal" als Feind gekennzeichnet: „Die Zeit verzehrt das Leben", „schwär^ zer Meuchelmörder des Lebens und der Kunst" („Fleurs du mal" Nr. 10.) — „. . . die Zeit verschlingt mich Minute für Minute, wie der unendliche Schnee einen erstarrten Körper." („Fleurs du mal" Nr. 39.) — Sehr schön drückt sich Amiel das Gleiche fühlend aus: „Ich höre deutlich, wie die Tropfen meines Lebens in den verzehrenden AK grund der Ewigkeit fallen. Ich fühle, wie meine Tage vor dem Tode dahinfliehen"28.
Was ist das Feindselige in der Zeit? Woher jener Wider' spruch gegen ihren Verlauf?
Dies Gefühl hat eigentlich gar nichts Paradoxes an sich, sobald man sich von der Meinung freimacht, die in der Zeit nur ein trottoir roulant sieht, mit dessen Hilfe das Wirkliche expliziert werde. In solcher Auffassung nämlich erhält die Zeit einen völlig mechanischen Charakter ohne innere Unterschiedlichkeit und Dynamik. Eine dynamische Kraft wohnt ihr nun aber faktisch inne, wie jene zitierten Aussprüche wenigstens beweisen. Man muß auch der Zeit
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einen sozusagen organischen, lebendigen, an der Lebendig¬ keit innerlich teilnehmenden Charakter zuschreiben, um Baudelaires Klagen begreifen zu können* Und in der Tat ist ja auch die Konstitution der Zeit derartig, daß dies ohne weiteres möglich wird* Die Zeit lebt als positive: in der Gegenwart, als negative: in der Vergangenheit, als hero¬ ische: in der Zukunft, als mystische: in der Ewigkeit. Wer also dekadent ist, fühlt den Strom der Zeit als eine Nega¬ tion seines Lebens, weil er für das Vergehende der Zeit, ihren Absturz, ihr Schwachwerden ein unmittelbares starkes Gefühl hat* Es ist gleichsam das übermächtige schlechte Gewissen, das ihn peinigt. Das Bewußtsein: selbst ein ver¬ gehendes Leben zu sein* Er lebt darum in diesem Wider¬ spruch: sowohl dem Positiven des Zeitverhältnisses oder der Gegenwart anzugehören und dennoch in unmittelbar nahem Konnex zur Vergangenheit zu stehen — in einem so nahen Konnex zu ihr zu stehen, daß er selbst für sein überwiegendes Gefühl schon ein vergangener ist. Nur noch mit einer Hand hält er sozusagen an der Barke der Ewig¬ keit im eiligen Strom der Zeit sich fest, sicher merkend, daß ihm der Untergang unendlich nahe ist* Jeder Zeit¬ punkt wird nun erfühlt als Repräsentant des Negativen, des Unheils; jeder Tag und jede Minute ist Träger und Zeuge des Belastenden, das Leben Erschwerenden.
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Es wird durch unsere Analyse der Konstitution der Zeit das nahe. Verhältnis zwischen Dekadenz und Histo- rimus deutlich geworden sein. Der Dekadente muß ja durch seine Einstellung auf die Negativität des Zeit¬ lichen seiner Lebenskraft eine doppelte Tendenz geben:
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die Gegenwart abwehrend und die Vergangenheit ersehnend. Denn das aktuelle Zeiterleben schmerzt ihn, wie alle Ak' tualität, die ja immer zum sofortigen Entschließen und Handeln heraus fordert. Das Vergangene zieht ihn an, weil er dort nur Abgestorbenes findet, Totes, das ihm keinen Widerstand leistet, sondern sich ihm fügt, wie und wann er will. Der Historismus ist für die Lebensart der Dekadenz das aus ihrer Schwäche erwachsende Surrogat des Lebens,
Die dekadente GeschichtS'Philosophie
Dies Zeiterlebnis reflektiert sich in der dekadenten Ge' schichtS'Philosophie, in der Geschichtsauffassung des Pes' simismusj daß diese irdische Welt einem mehr oder minder katastrophalen Ende entgegengehe. Zwar bleibt noch der ewige Weltwille, der sich törichterweise in diese Sackgasse der irdischen Welt verrannt haben soll, in jenseitiger Exi- stenzmöglichkeit, so daß er nach Beseitigung jenes seines Daseinshindernisses hoffentlich wieder fröhlich weiterleben wird — aber diese Ewigkeit wird doch als eine so weit ent' fernte, jenseitige erlebt, daß sie eine ganz andere Bedeutung erhält, wie in dem antithetischen absolut idealistischen Systeme Fichtes usw.
Denn bei den Idealisten ist das Bewußtsein der Ewig' keit das erstgeborene und von schwererem Gewicht als das Erlebnis der Gegenwart. Es wird von ihnen eine Überzeit' liehe Daseinsform erlebt, in der es keine wirkliche Zeit'Be' wegung gibt, kein Auf und Ab, kein fetzt und Später — es gibt keine Uhren in den Häusern des himmlischen Jeru' salem. Neben dieser Welt des ewigen So'Seins spielt dann
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die Welt des Zeitlich'Irdischen in stillstandslosem Wechsel der Zustände und Farben — das bunte Leben in fließender Momentaneität» Dies enthält in sich den Drang zu jener Welt der Seligen, derart, daß das himmlische Jerusalem als die Zukunftsform der irdischen Welt angesehen wird* So wird die Kluft zwischen beiden Welten als vorhanden empfunden und anerkannt, aber durch die Hoffnung über' wunden, die als Brücke vom minderwertigen Jetzt zum um endlich wertvollen Dereinst führt» So bleibt der Idealist im Innersten unerschüttert, sein Herz ruhig, und nur seine Hände sind tätig, dies Reich jenem kommenden zuzufüh' ren» Gewiß kommt durch die Zukunftshoffnung eine Wert' minderung denn doch in jenes Idealbild hinein, insofern die genetische Verbindung mit der irdischen Mangelhaftigkeit auch ihm irgendwie einen Makel zufügt» Die Verbindung des Äternismus mit dem Futurismus ist immer bedenklich für beide Teile! Denn nun wird sowohl die Gegenwart wie die Vergangenheit zu Problemen, an denen bei Fichte die Spekulation scheitert: die Gegenwart wird zur Form der Minderwertigkeit (die sinngemäß der Vergangenheit ZU' zuschieben wäre), und die Vergangenheit wird zur depO' tenzierten Form der Seligkeit29»
Gegen diese FortschrittS'Theorie, die das Ideal' reich zum ZukunftS'Staat stempelt, hat sich immer das Bewußtsein der Dekadenz empört 30» Denn da die Meinung dieser Entwicklungsthese dahin geht, daß die Geschichte einen Wachstumsprozeß darstellt, der die Kultur zu immer größerer Stärke steigert, bis die Einzelsubjekte zur Einheit des göttlichen Geistes realiter zusammenwachsen, so ist damit der Dekadenz eine nur zeitweilige, vorübergehende
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und unerfreuliche Wirksamkeit zugegeben* Der Fortschritts¬ gedanke hat denn auch seine meisten Anhänger in bürger¬ lich-demokratischen Kreisen — in sozialen Sphären also, die nie das mindeste Verständnis für den Dekadenten haben, eher noch für den Dämonischen, weil der Bourgeois den Verbrecher für einen Menschen hält, der nur mit unzu¬ reichenden Mitteln das erreichen möchte, worin er, der Bourgeois, des Lebens tiefsten Sinn beschlossen findet: möglichst rasch möglichst viel Geld zu verdienen* Diese Abneigung gegen die Dekadenz wird dem Bourgeois mit Wucherzinsen von dem Dekadenten heimgezahlt. Und sicherlich ist das Maß der Verachtung, welche die Roman¬ tiker durch Romane wie „Madame Bovary“ oder „Die kleine Stadt“ über die Philister ausgegossen haben, nicht geringer, als die Feindschaft der „staatserhaltenden Ele¬ mente“ wider die Romantik*
Die Geschichtsauffassung der Dekadenz unternimmt es, eine Geschichtstheorie aufzustellen, die der bourgeoishaf¬ ten Entwicklungsthese stracks zuwiderläuft. Nicht hinauf, sondern hinab führe der Gang der kulturellen Zeitwirklich¬ keit; und der Träger dieser Abwärtsbewegung sei der Bourgeois* Am Anfang stehe die ungebrochene Kraft, am Ende die greisenhafte Schwächung. So parodiert der De¬ kadente umgekehrt wie der Heroische die wahrhaft ideale Ordnung: das Vergangene wird zur Form des größten Wertgehaltes, und der Zukunft wird die bedenklichste Minderwertigkeit zugewiesen31.
Die Zukunft droht der menschlichen Gesittung mit der schlimmsten Korruption, deren ausführendes Organ der Bourgeois ist. Die Tendenz zur Verschlechterung ist schon
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in der Gegenwart wirksam, sie wird sich später immer mehr verstärken* So kann man von einer Tendenz zur Verschlechterung sprechen, von einer Entwicklung, die ins Nichts führt* Diese Identifizierung von Entwicklung und Korrumpierung kommt in ihrer paradoxalen Zwiespältige keit auch in den Stellen etwas verwirrend zum Ausdruck, in denen Baudelaire von dem Problem der „Dekadenz^ Literatur“ spricht32*
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DER INDIVIDUELLE URSPRUNG DES WELTSCHMERZES
Es ist nicht notwendig, daß solches verneinende, ge^ fühlsmäßige Bewußtsein des Wertes der Welt und der Ichheit ein Ergebnis der Lebenserfahrungen sei; denn dann könnte es ja erst im späten Alter auftreten. Der Mensch kann vielmehr in einen so mächtigen Komplex von nega^ tiven Bestimmtheiten seiner selbst oder seines Milieus him eingeboren werden, daß die Antipathie gegen das Dasein überhaupt als unmittelbare seelische Gegebenheit sich ein* stellt So findet sich der Weltschmerz als Anlage dann und wann schon in der Kindheit Das charakteristische BeL spiel für solche frühzeitige Gefühlsrichtung, die man ge* wohnlich dem späten Alter als Ertrag eines katastrophem reichen Lebens zuweisen möchte, sehen wir in den Bio" graphien der typischen Dekadenten: Flaubert, Baudelaire, Chateaubriand*
In seinem Briefwechsel spricht sich Flaubert mit aller
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wünschenswerten Deutlichkeit darüber aus: „Ich ennuierte mich entsetzlich! Ich träumte vom Selbstmord! Ich ver^ zehrte mich in allen erdenklichen Arten der Melancholie ♦ . .“ („Correspondance“ II, S. 191.) — Als kleines Kind hätte er sich in ein Zimmer eingeschlossen, um allein zu sein.
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(„Correspondance“ I, S. 352«) — „Es ist sonderbar, mit wie geringem Glauben an das Glück ich geboren bin« Wie ich noch ganz jung war, hatte ich ein vollständiges Vor- gefühl des Lebens« Es war wie der Übelkeit erregende Ge¬ ruch der Küche, der aus einem Luftloch entweicht. Man braucht von solcher Speise nicht gekostet zu haben, um zu wissen, daß sie zum Erbrechen reizt«“ („Correspon¬ dance“ I, S. 97.) — Und ein andermal bekräftigt er aus¬ drücklich, daß der Ennui eine Jugendkrankheit sei, die in seinen schlechten Tagen wieder auf träte« („Correspondance“ I, S« 70.) — Diese Trübsinnigkeit wird zur dauernden Eigentümlichkeit Flauberts; sie verfestigt sich und verharrt trotz aller übermenschlichen Arbeit und Anstrengung wäh¬ rend seines ganzen Lebens33 als ein immer verhaßter, aber niemals besiegter feindlicher Gast« Sein ganzer Briefwechsel ist erfüllt von seinen Klagen über Alters Vorgefühl, Trauer, Menschenscheu und Schwäche«
Sodann Chateaubriand. „Ein frühzeitig Erschöpfter, ein schnell Enttäuschter, der stolze Schöpfer der modernen Sehnsucht — einer bewußten, zynischen, unersättlichen Sehn¬ sucht nach Genuß und Herrschaft“. (Tardieu, „Ennui“ S. 27.) Er sagt: „Seit dem Beginne meines Lebens habe ich fort und fort Kümmernisse genährt: ich trug ihren Keim in mir , wie der Baum den Keim seiner Früchte trägt ♦ . . Das Leben fällt mir zur Last; der Trübsinn hat mich immer verzehrt. Hirte oder König — was hätte ich mit meinem Schäferstab oder mit meiner Krone ange¬ fangen? Ich wäre gleichermaßen müde geworden des Ruhmes und des Genies, der Arbeit und der Muße, des Glückes und des Unglückes.“ — „Ich hatte erst einige
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Stunden gelebt, als schon der Druck der Zeit meine Stirne gezeichnet hatte.“
Baudelaire schließlich notiert: „Gefühl der Eins am * keit seit meiner Kindheit. Trotz der Familie, und inmitten meiner Kameraden besonders — Gefühl eines ewig einsamen Geschickes. Übrigens lebhafte Neigung zum Leben und zum Vergnügen.“ („Mon coeur ♦♦ .“ Nr. 102) — „Als kleines Kind (tout enfant) habe ich in meinem Herzen zwei gegensätzliche Gefühle gespürt: Abscheu vor dem Leben und Entzückung am Leben“34.
Man möchte in solchen Fällen gern an Vererbung denken. Daß manche Züge der dekadenten Lebensrichtung vererb' lieh sind, so daß sie ganze Familien durchsetzen, ist ja in einzelnen Fällen nachgewiesen35.
Neben die von vornherein vorhandenen negativ ge' stimmten Temperamente treten diejenigen Menschen, deren Seele im Laufe ihres Lebens durch irgendein Ereignis zur Melancholie gedreht wurde. Wir werden in solchen Fällen regelmäßig annehmen können, daß schon eine ge' wisse Neigung zur Leidseligkeit vorhanden war, der durch jenes Erlebnis erst das Relief gegeben wurde. So wird aus dem weichmütigen, müden Hamlet jener pessimistische Grübler, als er die Ermordung seines Vaters vernimmt. So wurde aus Alfred de Müsset der nihilistisch Verzweifelte, als er die radikale Enttäuschung durch George Sand erlebte. Die Fülle der möglichen Erlebnisse ist in ihrer Variation fast grenzenlos. Und ihre Opfer sammeln sich in den Sanatorien, und die Erzählung solcher Schicksale in den Zeitschriften. Wer wollte die Fälle alle einzeln aufzählen, in denen der plötzliche Verlust des Vermögens, der Liebe,
7 v. Sydow, Dekadenz
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der Ehre, des Amtes die Betroffenen zur lebenslänglichen Melancholie geführt hat? Worauf diese Menschen ihr Leben als auf unerschütterliche Grundlagen gebaut hatten, bricht plötzlich unter ihnen zusammen, da wird ihnen die Negativität des Lebens unwidersprechlich klar» Und ihr weltgeschichtlicher Repräsentant, Buddha, formuliert den Sinn des wirklichen Lebens als Leiden und die Aufgabe der Bemühungen als die Vernichtung des Triebes zum Leben, Diesem aber wie jenen bleibt die heiße Sehnsucht zum Glück,
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Sehr interessant ist das plötzliche Hereinbrechen des Be' wußtwerdens negativer Einseitigkeit, wie es Alfred Kubin in der so interessanten autobiographischen Skizze seines „Sansara“'Buches beschreibt („Sansara“ S. 17 — 19, [1912]), Nach einer Periode starker Depressionen, Krankheit und Lektüre pessimistischer Philosophien wird ihm bei der Be* trachtung Klingerscher Radierungen der Sinn solcher Kunst der Radierung klar, wird ihm auch deutlich : daß die Kunst seinem individuellen Ausdrucksbedürfnis die Möglichkeit der Verwirklichung bietet; und dann erlebt er, was mit seinen eigenen Worten berichtet werden mag: „Mit noch übervollem Herzen schweifte ich in der Stadt umher und betrat abends ein Variete, denn ich suchte eine gleich' gültige und doch geräuschvolle Umgebung, um den inneren Druck, der immer heftiger wurde, auszugleichen. Es er' eignete sich dort etwas seelisch sehr Merkwürdiges und für mich Entscheidendes, das ich heute noch nicht ganz ver'
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stehe , obwohl ich sehr viel darüber nachgedacht habe. Wie nämlich das kleine Orchester mit dem Spiel begann, erschien mir auf einmal meine ganze Umgebung klarer und schärfer, wie in einem anderen Licht. In den Gesichtern sah ich auf einmal eigentümlich Tiermenschliches; alle Geräusche waren sonderbar fremd, von ihrer Ursache ge' löst; es klang mir wie eine hohn volle, ächzende, dröhnende Gesamtsprache, die ich nicht verstehen konnte, die aber doch deutlich einen inneren Sinn zu haben schien. Ich wurde traurig, obwohl mich ein sonderbares Wohlgefühl durchzuckte, und dachte wieder an die Klingerblätter, wobei ich überlegte, wie ich nun wohl arbeiten würde.
Und da überkam mich auf einmal ein ganzer Sturz von Visionen schwarzweißer Bilder — es ist gar nicht zu schiL dern, was für einen tausendfältigen Reichtum mir meine Einbildungskraft vorspiegelte. Ich verließ rasch das Theater, denn die Musik und die vielen Lichter störten mich jetzt, und irrte ziellos in den Straßen, dabei fortwährend über' wältigt, förmlich genotzüchtigt von einer dunklen Kraft, die seltsame Tiere, Häuser, Landschaften, groteske und furchtbare Situationen vor meinen Geist hinzauberte. Ich fühlte mich in meiner verwunschenen Welt außerordentlich wohl und gehoben, und als ich mich müde gelaufen hatte, betrat ich einen kleinen Teesalon. Auch hier war alles durch' aus ungewöhnlich. Gleich beim Eintritt erschien es mir, als wären die Kellnerinnen Wachspuppen von weiß Gott welchem Mechanismus getrieben und als hätte ich die wenigen Gäste — die mir aber geradezu höchst merkwür' dig und unwirklich vorkamen — bei satanischen Geschäften überrascht. Der ganze Hintergrund mit der Spielorgel und
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dem Büfett war verdächtig, kam mir wie eine Attrappe vor, welche nur das eigentliche Geheimnis — eine trül> erleuchtete, stallartige, blutige Höhle — verbergen sollte . . . Noch auf dem Heimweg dauerte dieser innere Aufruhr an, die Augustenstraße schien von selbst zusammenzuschrump' fen und ein Gebirge in ungeheurem Ring um unsere Stadt zu wachsen.“
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Es sind besonders schwere körperliche Mängel, die solche melancholische Stimmungen her vorrufen und falls sie um heilbar sind — zu dauernden gestalten können36. Man braucht ja nur die Lage eines solchen Menschen sich vor* zustellen, um sogleich seine Hinneigung zur Melancholie als eine schicksalshafte Notwendigkeit einzusehen. „Ent* behren sollst du, sollst entbehren!“ — das ist die Empfim düng, die jeder Tag neu in ihm hervorruft. Wer die Frauen und die körperliche rasche Bewegung entbehren muß — wie kann man von dem Fröhlichkeit verlangen?! Das Leben in reiner Geistigkeit ist gewiß recht schön, aber es muß aus einer restlosen Anlage heraus oder als gewollte Askese gelebt sein. Die erzwungene Asketik ist das Unan¬ genehmste, was man erdenken kann. Es kommt dazu der andauernde Vergleich des Körpers mit dem Ideal, das wir aus der Antike übernommen haben. Auch wenn wir also von dem Mangel an physischem Genuß abseheo, drückt den Verkrüppelten schon rein geistig die Mangelhaftigkeit seiner Gestalt; und je höher der Schönheitssinn entwickelt ist, desto unlustvoller muß seine Stimmung werden, so*
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bald er Zeit zum Reflektieren hat, und diese Zeit steht ihm in weit höherem Maße als dem Gesunden zur Verfügung, weil er keine Zeit mit Frauen, Sport u. s. w* totschlagen kann* So zeigt sich auch von dieser Seite her: wie ein Mißgeschick mit unabwendbarer Konsequenz ein anderes herbeizerrt: entbehrte Freuden üben erfahrungsgemäß einen weit größeren Reiz aus, als schon genossene Vergnügungen, weil jeder Genuß in Wirklichkeit immer mit irgendeinem Mangel behaftet ist, den die spätere Reflexion unschwer herausfindet* Aber um dahinter zu kommen, muß man diese Freuden erst einmal durchkostet haben. Eben diese praktische Erfahrung ist nun aber dem Verkrüppelten um zugänglich, und darum verspricht er sich von dem ihm unzugänglichen Genuß Freuden, die er gar nicht vorfinden würde, falls er jenen erlangen könnte* Und so entbehrt er in seiner Vorstellung weit mehr, als in Wirklichkeit* Und dabei haben wir noch ganz von der Verteuerung abgesehen, der naturgemäß solch Erkrankter in seiner Lebenshaltung unterliegt! Wieviel Geld muß er nicht auf seine außer* gewöhnliche Kleidung verwenden, für das er sich sonst einen geistigen oder körperlichen Genuß verschaffen könnte!
Es ist ganz irrtümlich, hier sogleich an ein Ressentiment* gefühl des Verungestalteten zu glauben (M. Scheler!)* Viel* mehr stellt sich in den weitaus meisten Fällen als Gegen* gewicht ein Kultus der körperlichen Schönheit ein, welcher wieder auf das eigene Selbstbewußtsein deprimierend zu* rückwirkt. Der Unschöngewordene vergöttert die leibliche Wohlgestalt, umgibt sich mit Schönheit und lebt der Dar* Stellung ihrer Grazie und Hoheit. Toulouse*Lautrecs Kunst
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der dämonischen Perversionen ist ein ganz einzelner FalL Watteau und Michelangelo gehören aber hierher als her* vorragendste gegensätzliche Beispiele des Einflusses körper^ licher Minderwertigkeit auf die Kunstübung der Ent' stellten*
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ZWEITES KAPITEL
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DIE DEKADENZ IM SOZIAL-LEBEN
Das soziale Fremdheitsgefühl
Das negative Bewußtsein des Individuums in seinem
sozialen Verhältnisse ist dessen angstvolle oder mißtrauische
Getrenntheit von seinen Mitmenschen. Es ist ja eine
typische Erscheinung, daß der Melancholiker gern in die
Einsamkeit flüchtet. Er meidet den Kontakt mit seinen
Zeitgenossen. Er stellt sich abseits, macht sich zum Ein*
siedler. Dieses Sich'Zurückziehen von der Welt ist cha*
rakteristisch für den Greis, der weder die Welt, noch seine
Zeitgenossen versteht. Denn er kann nicht mehr mit*
arbeiten; er ist pensioniert. Die dynamische Regsamkeit
mangelt auch dem Dekadenten. Er spürt nicht den Strom
der Gemeinschaft oder er merkt ihn zwar, kann sich aber
nicht in ihn hineinstellen, wiewohl er es gern möchte; jenes
ist das Schicksal des Greises, dieses ist ein Kennzeichen der
Dekadenz. Die romantische Jugend kennt das soziale
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Fremdheitsgefühl, vereint mit krampfhafter Uberwindungs* Sehnsucht, das wir in der folgenden Konfession ausgespn> chen finden; es ist Albert, der Dekadent in Th. Gautiers Roman „Mademoiselle de Maupin“37, den wir zu Worte kommen lassen.
„Ich mag mir noch soviel Mühe geben, — es glückt mir nicht, für die Minute aus mir hinauszugehen. — Ich bin immer, was ich war, d. h. sehr gelangweilt und langweilend,
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was mir recht mißfällt* Es ist mir nicht gelungen, die Idee eines Anderen in mein Gehirn eindringen zu lassen, das Ge^ fühl eines Anderen in meine Seele, den Schmerz und die Freude eines Anderen in meinen Körper* — Ich bin ge* fangen in mir selbst, und jede Invasion ist unmöglich: der Gefangene will entweichen, die Mauern wünschen weiter nichts sehnlicher als einzustürzen, die Tore wollen sich ihm öffnen, um ihm den Weg frei zu geben; ich weiß nicht, welches Schicksal unbezwinglich jeden Stein an seiner Stelle festhält und jeden Riegel in seinen Beschlägen; es ist mir ebenso unmöglich, jemand bei mir aufzunehmen, wie Andere aufzusuchen; ich würde es nicht verstehen, Besuche zu machen oder zu empfangen; und ich lebe inmitten der Menge in der traurigsten Einsamkeit; mein Bett kann nicht verwitwet sein, aber mein Herz ist es immerdar* Oh! daß man sich nicht um ein Stückchen vergrößern kann, um ein einziges Atom ; daß man nicht das Blut der Anderen durch seine Adern rinnen lassen kann; daß man immer mit seinen eigenen Augen sieht, nicht weiter, nicht deutlicher, nicht anderswie ♦ ♦ *; verurteilt ist zum gleichen Tonfall der Stimme, als Antwort auf gleiche Töne, gleiche Sätze und gleiche Worte, und nicht fortlaufen kann ; sich nicht von sich selbst wegschleichen, sich flüchten in irgendeinen Winkel, wohin einem kein Mensch folgt ; — gezwungen zu sein : sich in acht zu nehmen, zu essen und zu schlafen immer in der eigenen Gesellschaft . * * — welche Qual, welch Ver«* druß!“
Hier findet jene Mischung statt in denen, die als dekadent gelten — eine Mischung zwischen greisenhafter und jugend' licher Veranlagung* Jene isoliert die Menschen voneinander,
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diese dagegen drängt die Individuen zueinander hin* Den Kampf zwischen beiden Tendenzen beschreibt jene eben zitierte Klage Gautiers recht gut.
Eindeutiger das Greisenhafte der Isolierung heben Flau' berts Äußerungen hervor, wenn er schreibt: „Von Tag zu Tag fühle ich, wie sich mein Herz von meinen Mit' menschen entfernt, und dieser Abstand weitet sich immer mehr . . ♦“ („Correspondance“ I, S. 287). — „♦ ♦ ♦ als ich mich am Abend allein fand, habe ich gefühlt, daß zwischen mir und den anderen Sterblichen Abgründelagen.“ („Correspondance“ III, S. 175). — „Die Unerträglichkeit der menschlichen Tor' heit ist bei mir zu einer Krankheit geworden, und dies Wort ist noch matt. Fast alle Menschen haben die Gabe, mich zur Wut zu reizen, und ich atme frei nur in der Einöde.“ („Correspondance“ IV, S. 359.) Seinem Tempera' ment entsprechend, das er in solchen autobiographischen Notizen seines Briefwechsels sich austoben läßt, hat Flau' bert das Isolierende seines sozialen oder antisozialen Ge' fühls mit Aktivität erfüllt: der Einsame tendiert zur RevO' lution. Noch klarer wird das Eigentlich'Dekadente in einigen Sätzen Baudelaires veranschaulicht; nach einer überaus pessimistischen Skizzierung der Zukunft des mensch' liehen Geschlechtes, das immer tiefer sinken werde, reflektiert er über seine eigene Position: „Verloren in dieser häßlichen Welt, gestoßen von den Massen, bin ich wie ein ermatteter Mensch, dessen Auge hinter sich, im Abgrund der Jahre, nur Weltmüdigkeit und Bitternis erblickt und vor sich nur ein Ungewitter, das nichts Neues, weder Belehrung, noch Schmerz in sich birgt. Am Abend, wenn er einige Stunden des Vergnügens dem Schicksal entwendet hat, sagt sich
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dieser Mensch — gewiegt von seiner Verdauung, das Ver* gangene möglichst vergessend, zufrieden mit der Gegenwart und resigniert für die Zukunft, berauscht von seiner Kalt* blütigkeit und seinem Dandytum, stolz darauf, daß er nicht ebenso niedrig ist wie die Vorübergehenden — an solchem Abend sagt sich dieser Mensch, die Rauchwolken seiner Zigarre betrachtend: ,Was schert es mich, wohin diese Seelen (consciences) gehen („Fusees“ Nr» 26»)
In der Tat ist es solche Gleichgültigkeit, Lieblosigkeit, die dem Verhalten des Dekadenten gegenüber seinen Mit' menschen das Kennzeichen aufdrückt» Es liegt darin die Verleugnung der inneren Zusammengehörigkeit der Indb viduen» Alles, was die Anderen tun, gerät in eine Rieh' tung, die radikal abliegt von derjenigen, in welcher der Gleichgültige lebt» Die Akte der Anderen haben nur äußeren Einfluß auf ihn, und er sucht alles aufzubieten, um diese Trennung nach Möglichkeit zu behaupten und zu ver* großem» Die anderen sind für ihn bestenfalls Objekte der Beobachtung und des intellektuellen Interesses, nicht andere Ichs, mit denen er unter einem gemeinsamen Schicksal steht»
Es wäre falsch, den Dekadenten als Egoisten bezeichnen zu wollen» Der Egoist betrachtet alles und jedes nur darauf' hin: inwiefern er daraus einen Nutzen ziehen könne; seine Individualität ist ihm das Einzig'Wichtige in der Welt» Aber gerade dies positive, wenn auch beschränkte Sich' Interessieren an der Welt fehlt dem Dekadenten und dem Greise; diesem ist alles und jedes völlig gleichgültig» Der Franzose hat für diese Stimmung die hübsche Wendung vom „Je'm'en'fichisme“ geschaffen» Wer sich zu diesem
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Idol bekennt, dem ist alles egal: nicht nur das Lebens* interesse der Anderen, sondern auch sein eigenes Ergehen ist ihm „Wurst“.
Der Dekadent fühlt sich darum frei von sittlicher Ver* antwortung. Die sittliche Hierarchie beruht darin, daß Jedem ein solcher Platz angewiesen wird, daß er sowohl für sich, als auch für die Anderen sorgen kann; und alle Unsicherheit der staatlich*sittlichen Verhältnisse hat in dem wechselvollen Hin*und*Her*Strömen der vitalen Energien seinen Grund, das zugleich die Veränderung der Wirkungs* fähigkeit der Individuen bedingt. Eben diese Verpflich* tungen, die sich hierin gründen, lehnt der Dekadente ab: „ . . ♦ ich verachte die Menschen zu sehr, als daß ich ihnen hülfe oder ihnen schadete“, so drückt sich Fl au b er t ein* mal aus. („Correspondance“ I, S. 24.)
Diese Trennung von den Zeitgenossen braucht nun keineswegs aktiv von dem Dekadenten auszugehen. Oft finden sich Fälle, in denen er den Verkehr mit denen sucht, die noch nicht alles Wirkliche als zweifelhaften
Schein empfinden — dann aber rächt sich die dekadente Veranlagung: jene Anderen ahnen irgendwie, was im Suchenden gärt und brodelt, fühlen seine lebenswidrige Weltmüdigkeit und ziehen sich von ihm zurück.
So beklagt sich Friedrich Schlegel bitter in jener be* kannten Äußerung: „Ich fühle selbst in mir beständigen Mißklang, und ich muß mir selbst gestehen, daß ich nicht liebenswürdig bin, welches mich oft zur höchsten Ver* zweiflung treibt. Es fehlt mir die Zufriedenheit mit mir und anderen Menschen, die Sanftmut, die Grazie, welche Liebe erwerben kann ♦ ♦ . Aber längst habe ich gemerkt,
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♦ ♦ ♦
welchen Eindruck ich immer mache. Man findet mich' interessant und geht mir aus dem Wege. Wo ich him komme, flieht die gute Laune, und meine Nähe drückt. Am liebsten besieht man mich aus der Ferne wie eine ge* fährliche Rarität. Gewiß, manchem flöße ich bitteren Widerwillen ein. Und der Geist? Den meisten heiße ich doch ein Sonderling, das heißt ein Narr mit Geist.“ — Fl au b er t erklärte sich für „unliebenswürdig, im tiefen Sinne des Wortes.“ — Und auch Baudelaire hat den Widerwillen der Menschen gegen dekadente Charaktere bemerkt; er glaubt, in einem Kinde, dessen Sehnsucht sich auf zigeunerhaftes Schweifen richtet, einen zukünftigen „Unverstandenen“ zu finden, und fährt dann fort: „ich betrachtete es aufmerksam; es lag in seinem Auge und auf seiner Stirn irgend etwas frühreif Verhängnisvolles, das gewöhnlich die Sympathie entfernt und das, ich weiß nicht warum, so sehr meine Zuneigung erregte, daß ich einen Augenblick lang die sonderbare Idee hatte, ich könnte einen mir unbekannt gebliebenen Bruder besitzen“ 38.
Neigung zur Mystifikation
Das Mißtrauen gegen die Menschheit ist es wohl, das den Dekadenten dazu treibt, sich mit Geheimnissen ab' sichtsvoll zu umgeben. Er will zwischen sich und den Anderen tiefe Rinnen graben, auf daß er sozusagen in um zulänglicher Festung wohnt. So erzählt er von Reisen, die er nie gemacht hat, von Erlebnissen besonders sexueller Natur, die ihm niemals zugestoßen sind, verschweigt dafür viele Einzelheiten seines Lebens und sieht im übrigen der sich bildenden Legende mit vergnügter Behaglichkeit zu39.
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Diese Tendenz zur Täuschung ist solchen Charakteren tief eingewurzelt. Sie leben unter dem Schutze der Masken, als Unbekannte, fast als Tote. Aber freilich rächt sich diese Lebensweise an ihnen: sie täuschen sich ebenso gern selbst über sich, wie über andere; so sind sie eigentlich immer im unklaren über die Welt, mit der sie es zu tun haben, und so verstärkt sich noch hierdurch ihre angeborene Unfähigkeit: in der sogenannten Wirklichkeit eine tätige Rolle zu spielen oder gar eine Stellung als Führer einzunehmen40.
Oder ist es vielleicht eine Art Schuldgefühl, entspringend aus dem Bewußtsein des Negativen? Oder ist es die für' sorgliche Scheu vor unangenehmem Mitleid, das die Deka' denten weiterhin zur Verheimlichung ihres Zustandes treibt? Da lebt Maurice de Guerin in weltlichem leidlichen Wohl' ergehen, nur seine Tagebücher weinen und klagen; da lebt Amiel sein langes, innerlich trauriges, arbeitsames und schweres Leben, äußerlich aber ist er ein ruhiger, kluger Gentleman, ein Professor, wie viele andere, ein Fröhlicher mit Fröhlichen, ein lächelnder Anreger, ein hilfsbereiter Freund, ein tändelnder Dichter; da lebt Baudelaire im ge* ballten Dunkel seines in Nacht verdüsterten Lebens, von dämonischem Haß, Schmerz, Krampf geschüttelt, seinen Freunden ein seelisches Paradoxon, eine amüsante und vielleicht bewundernswerte menschliche Sonderbarkeit. Wie schwer, sollte man meinen, müßte es Baudelaire ge' worden sein, das Spiegelbuch seiner Geistigkeit als künst' liches Artefakt, reine unpersönliche Kunstübung, spielerisches Nur'SO'tun hinzustellen, bis er in seinem Todesjahre erst seinem vertrauten Ancelle es gesteht: „Faut'il vous dire, ä vous qui ne l'avez pas plus devine que les autres, que dans
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ce livre atroce j'ai mis tout mon coeur, toute ma tendresse, toute ma religion (travestie), toute ma ha ine? II est vrai que j'ecrirai le contraire, que je jurerai mes grands dieux que c'est un livre d'art pur, de sin* gerie, de jonglerie, et je mentirai comme un arracheur de dents“41. Und Amiel fragt in noch verblüffenderer Plötzlichkeit einen Menschen, mit dem ihn vor langer Zeit jugendliche Freundschaft verband: Was kann ich denn noch tun, was soll ich tun? So verloren beide eines Tages ihre stoische, dandyhaft gewahrte Ruhe und Maske im Be¬ kenntnis; aber diese Erklärung und Frage fährt so uner¬ wartet zu den Anderen hinüber, daß diese nun solche Briefe wiederum nur für eine bloße Abwandlung früherer Paradoxien oder ein Zeichen momentaner Erschöpftheit halten* Kein verständnisvolles Echo wird laut; und so schließt sich wieder der glühende Zirkel der inneren Ein¬ samkeit — ganz spät erst nach dem Tode wird man wissend um jener Leben inneren Gang und Sinn. Darum haben die Aufzeichnungen und Bekenntnisse der Deka¬ denten einen stärkeren Reiz, als die Autobiographien der Kulturmenschen, mögen diese ihre Wahrheit auch mit noch so viel Dichtung untermengen — einen Reiz, der eben hierin liegt: daß wir besser als die eigenen Zeitgenossen die Wirk¬ lichkeit der Lebendigkeit jener Menschen kennen, denn während jene nur die äußere Maske erblickten, erschauen wir die Dekadenten mit dem Auge des Richters des Jüngsten Tages gleichsam, ihr Wesentlichstes hat nun Stimme, Wort und Widerhall.
Daß wir aber sie deutlich und rein vernehmen können, hat darin seinen Grund, daß diese Maskierten doch wieder-
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um Fanatiker der Aufrichtigkeit gewesen sind. Sie haben tatsächlich im Eigentümlichsten ihres Daseins nicht gelogen, sondern nur eine Hülle momentaner Art ihrem Leben angelegt. Die Lebensgefühle Baudelaires sind vielleicht gar nicht so außergewöhnlicher Art, wie er meinte und wie wir es ihm gern glauben. Nur dies ist das Außerordentliche, daß er sie so unverhohlen ausgesprochen, so unverschönert dargestellt. Denn die Anderen hätten sich gescheut, zu sagen: wes Kind sie seien, hätten sich geniert und ihr In* neres entweder verborgen oder so sehr dem allgemeineren Wunsche der „Gutgesinnten“ angepaßt, daß der besondere Sinn dieses Soseins verbogen zum Ausdruck gekommen wäre. Es steckt eben in aller dekadenten Lebendigkeit ein sozusagen Schauspielerhaftes und vollbringt eine mimische Leistung äußerster Art und höchsten Wertes, oder sagen wir lieber ein diplomatisches Genie — falls nämlich Schau* spielertum und Diplomatie darin bestehen sollte: was man ist durch Worte und Attitüden zu verbergen.
Die dekadente Mitlei digkeit
Eine der interessantesten Mischformen des dekadenten Verhaltens innerhalb des Genossenschaftslebens ist das Mitleid. Der Mitleidige liebt einen anderen Menschen, der leidet, und leidet mit ihm. Es kreuzen sich also diese Ten* denzen: unmittelbare Zuneigung zum Anderen, unmittel* bare Leiden des Anderen, mittelbares Erleben des Leidens eben dieses Anderen durch den Mitleidsvollen, Zwei gegen* sätzlich zueinander geordnete Gefühle verbinden sich zur Einheitlichkeit: die Liebe als das mystische Gefühl des so* zialen Lebens und das Leiden als das negativ*dekadente Ge*
8 v. Sydow, Dekadenz 113
fühl des metaphysischen Lebens» Man kann darum nicht sagen, daß der Mitleidige ein unbedingt schlechter, deka* denter Charakter sei; ebensowenig wie man sagen kann, daß er ein unbedingt edelmütiger Mensch sein müsse. Beides ist möglich; weil die Zusammensetzung ebenso doppelhaft ist, weil sie negatives und absolutes Gefühl in eins setzt. Dekadent kann das Mitleid dann werden, wenn eine Sehnsucht nach der Vermittelung des Leidhaften zur Anteilnahme an dem Schicksal eines Unglücklichen treibt: wenn egoistische Leidenssucht, die aber das Negative in schon abgeschwächter Form, die nicht original erlebt, son* dern nur nacherlebt zu werden braucht, genießen möchte, zur Hilfeleistung verführt, vielmehr zu verführen versucht. Denn gewöhnlich begnügt sich diese Art des Mitleids mit der bloßen Klage, mit lyrisierender Sentimentalität.
Der Dekadente ist nicht nur selbst mitleidig, sondern er sucht auch seinerseits das Mitleid. Er sehnt sich nach einer mitfühlenden Seele, er sucht den Freund. Er möchte gern, daß eine weiche Hand ihn streichele, ein Verständnisvoller seinen Klagen geduldiges Gehör leihe. Keine Spur von anspruchsvoller Prätension! Sondern erleichtertes Auf* atmen bei den kleinsten Freundlichkeiten, die er erfährt! „Geteiltes Leid ist halbes Leid“, sagt das Volkssprichwort mit Recht. Nicht deswegen halb (wie eine allzu scharf* sinnige Psychologenschule vermuten könnte), weil der* jenige, der sein Leid in Worten dargestellt hat, nun so* gleich über der objektivierten Unseligkeit steht, sondern weil die absolutistische Gefühlskraft der Liebe in dem Zu* hörer sich erregt und durch das Mitleid vermittelt auf den Leidenden überströmt, so daß diesem mittelbare Hilfe ge*
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leistet wird; denn die Liebe hat eine prinzipielle Verwandt-' schaft mit der Freude, so daß das Mitleid zugleich ein Ele¬ ment der Erfreuung mit sich führt* Wer sich in heroistischer Weise bemitleidet weiß, fühlt zugleich sich erfreut* Solche Sehnsucht nach einer anteilnehmenden, mitleidigen Seele finden wir recht oft bei Dekadenten, die noch nicht die Maske des Stolzes sich vor das Antlitz gebunden haben* Amiel schreibt in seinem „Journal“ (I, S* 183): „Alles oder nichts! Das ist meine Veranlagung, mein ursprüng¬ licher Charakter, mein alter Mensch* Und dennoch: falls man mich ein wenig gern hat, falls man ein wenig in mein intimes Fühlen eindringt, so fühle ich mich glücklich, und ich verlange nichts anderes. Die Liebkosungen eines Kindes, die Plauderei eines Freundes reichen hin, mich heiter zu stimmen. So trachte ich nach dem Unendlichen und bin mit wenig zufrieden; alles beunruhigt mich und eine Klei¬ nigkeit beruhigt mich. Ich habe mich oft überrascht, wenn ich zu sterben wünschte, und doch überschreitet mein An¬ spruch auf Glücklichkeit kaum den des Vogels: Flügel!
Sonne! ein Nest!“ — Maurice Barres legt die folgende ••
Äußerung einem Timiden in den Mund: „Der Wunsch, den ich in mir entdecke, richtet sich auf einen Freund, mit dem ich allein sein und dem ich mein Leid klagen könnte und der so wäre, daß er mir nicht unerträglich würde* Ich würde mein Tagewerk schlecht und recht vollbracht haben* Am Abend, an allen Abenden, ginge ich ohne feierliche Vorbereitungen zu ihm* In der dem weltlichen Treiben verschlossenen Zelle unserer Freundschaft würde er mich ahnungsvoll verstehen; und niemals würde seine Neugier oder seine Gleichgültigkeit mich erzittern machen. Ich wäre
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aufrichtig* Er wäre teilnahmsvoll und ernst* Er wäre mehr als ein Vertrauter: ein Beichtvater* Ich fände in ihm meinen Leiter ♦ ♦ ♦; und um alles zu sagen, er wäre an meiner Seite mein älteres Ebenbild ♦ ♦ ♦“ („Sous beeil des Barbares“, 2* Ausg* [1896], S* 292.)
Es ist eine fast weibliche Gefühlsweise, die sich in diesen Sätzen äußert* Man sage nicht, daß auch der Mann nach einem verständnisvollen Freund sucht* Denn eben das Freundschaftliche der Gleichgeordnetheit fehlt hier: nicht einen Freund, sondern einen übergeordneten Menschen sucht dieser Timide zu gewinnen. Es ist im Grunde das* selbe Gefühl der Schwäche, das Clemens Brentano alb mählich zur katholischen Kirche trieb, nur schon verweltlicht. Aber es wäre natürlich falsch, den ungenauen populären Sprachgebrauch mitzumachen und wirklich an eine Effe* minierung zu denken, an eine Verweiblichung des Gefühls* lebens. Diese Schwachen wollen gar keine Leitung, der sie sich positiv arbeitend unterordnen möchten, sondern sie er* sehnen die Bezeugung des Mitleidens Anderer — dies ist aber doch nicht spezifisch weiblich!
Die dekadente Schadenfreude
Schließlich das Vergnügen am Schlechtergehen Anderer oder die Schadenfreude. Es handelt sich hier noch nicht um die dämonische Stimmung, aus welcher der aktive Wille zur Schädigung und zur Grausamkeit entspringt* Sondern man überläßt die Rolle des Schadenbringers dem Schicksal, dem Tun Anderer, während man sich mit dem hämischen Genüsse des nicht unmittelbar beteiligten Zu* Schauers begnügt. Es fehlt der möglicherweise solche Freude
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rechtfertigende Grund der Bosheit dessen, dem es schlecht geht, um die eigentliche Schadenfreude zu konstituieren; denken wir an jenen Fall: irgendein Lump wird von De* tektiven verfolgt, beobachtet und gefangen — so wird niemand sich einer ganz berechtigten Fröhlichkeit ent' schlagen brauchen*
Wahrscheinlich ist von den reich nuancierten Misch' Gefühlen des Leides und der Freude die Schadenfreude das verbreitetste* In jener Ironie des Gespräches, in jedem Witzwort steckt die Schadenfreude nicht minder, als im Gelächter über irgendeinen Unglücksfall, dessen Objekt uns im übrigen völlig gleichgültig und unbekannt sein kann* Baudelaire weist auf den inneren Zusammenhang und Grund hin: „Das Lachen ist teuflisch . . ♦“ (W. W* II, S* 369), „Christus hat niemals gelacht“ (W* W. II, S. 362). Er hat mit diesen Bemerkungen ganz recht; nur entfällt für uns die Notwendigkeit der näheren Analyse des Ko' mischen und Grotesken, weil sie eben nicht mehr zur passiven und daher dekadenten Schadenfreude gehören, sondern schon in das Gebiet der tätigen Schädigung hin'
übergleitend zum Dämonischen des Lebens gehören.
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Mit der negativen Tendenz dieser Misch'Gefühle ver' bindet sich, um ihren dekadenten Charakter zu erfüllen, ihr doppelter Gegenstoß, ohne doch des Negativen dauernd mächtig zu werden* Dann verwirft der an der eigenen Erniedrigung Sichgefallende alles solches Herab' setzen seiner Persönlichkeit, er hält sich für den Gott' Gesandten und wird zum Retter der Welt und seiner selbst* Oder der Mitleidssucher wirft sich zum Bekenner einer
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kämpferischen Lebenshaltung auf» Oder der Schaden* freudige wird plötzlich von tiefstem, ehrlichstem Mitleid momentan überwältigt; wie denn die Gedichte Baudelaires für die Greise und Greisinnen in verblüffendstem Gegen* satze stehen zur Roheit so mancher anderen*
Dekadenz im Staatsleben
Die Schwäche der staatlichen Institutionen hat man oft genug hingestellt als gegründet in der mangelnden Selbst* losigkeit der Staatsbürger* Man meint dies so, als sei der Staat eine Konstruktion, zu welcher sich eine Anzahl von Individuen entschließen, — derart entschließen, daß sie auf die Ausübung verschiedener Handlungen verzichten, um sie einer gemeinsamen Behörde zu überlassen und zu über* tragen. Diese so konstituierten Institutionen beruhen da* nach angeblich auf einem Akt der Selbst*Entäußerung der Einzelmenschen, indem sie irgendwie das Egoistische ihres Daseins abstreifen. Je egoistischer der Bürger, desto schwächer der Staat, so hat man gefolgert; und umgekehrt: je altruistischer der Staatsbürger, desto stärker die Staats* gewalt! Hegel hat diese Auffassung in seiner erst neuer* dings veröffentlichten Schrift „Die Verfassung Deutsch* lands“42 durch die Analyse der Entwicklung der deutschen Reichs Verfassung zu beweisen versucht; Deutschland sei daran zugrunde gegangen, daß der Staat nicht mehr die genügende Macht den zentrifugalen Tendenzen der Einzelnen gegenüber gehabt habe* Diese Theorie nimmt also von vornherein an, daß der Einzelne dem sog. Allgemeinen gegenüber eine widerspenstige Haltung einnehme, welche nur durch die Kraft einer gegensätzlichen Macht gebrochen
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oder wenigstens in Schranken gehalten werden könne* Der Individualismus wird also für die Schwäche der Staats* gewalt verantwortlich gemacht*
Wir haben uns von jeher auf einen anderen Standpunkt gestellt: der Individualismus ist nicht das Zeichen der Schwäche, sondern vielmehr das Dokument der kraftvollen Beharrung in der individuellen Eigenart. Der Entkräftungs* prozeß muß also eine andere Wurzel haben*
In der Tat ist das Staatsgefüge gar nicht sozusagen der letzte Restbestand der individuellen Kraft, sondern die Konzentration der in jedem Individuum lebenden Staats* Funktionen. Nur daß diese Funktionen bei dem einen Menschen stärker ausgebildet sind, als bei einem Anderen, so daß Jener zum Beamten wird, während Dieser als Privat* mann lebt. Gerade wie die Ausbildung der dichterischen Funktionen zum Beispiel, welche veranlagungshaft fast jedem Einzelnen angeboren sind, bei den verschiedenen Menschen so verschieden stark ist, daß der Eine zum Dichter, der Andere nur zum Liebhaber heranwächst oder zum Gleich* gültigen.
Jene angebliche Wurzelung des Staates in der Entsagung der Einzelnen wird ja auch dann verleugnet, wenn es gilt, die Existenz des einzelnen Staats gegenüber anderen Staaten zu verteidigen oder seine Übermacht zur herrscherhaften Wirklichkeit hinauszuführen. Derjenige Staat, der in der Selbstlosigkeit seiner Bürger den Ursprung hat, kann gar keine starke Politik, weder in offensivem noch in defen* sivem Sinne treiben; er muß in beiden Fällen versagen. Die Stärke eines Staates kann nur darauf beruhen, daß möglichst Viele lebhaftestes Interesse am Staate nehmend
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ihren Willen zur Macht mit größter Entschiedenheit durch' zusetzen sich bemühen*
Nicht dann also ist ein Staat schwach, wenn er ab' hängig von dem Willen seiner Bürger ist, sondern dann, wenn er seine Absichten den anderen, neben ihm stehenden Staaten gegenüber nicht geltend zu machen versteht; wenn also der staatliche Selbstbehauptungs 'Wille der Staats' bürger wankend wird. Wir haben danach eine Doppeltheit der Dekadenz der StaatS'Funktion zu unterscheiden. Erstens: die individuelle Gelöstheit vom Volke: Heimatlosigkeit; und zweitens den gesamtvölkischen Mangel an staatsmän' nischer Kraft mit seiner Folge, dem Zurücktritt eines Volkes von der weltpolitischen Rolle, welche es gespielt hat oder welche es hätte spielen können, kompliziert mit der heißen Sehnsucht nach politischer Macht.
Infolge seiner von allen Seiten bedrängten Stellung kann ein Staat gewissermaßen überhaupt nicht dekadent sein. Denn seine Schwäche bringt es mit sich, daß er von seinen Nachbarn und Konkurrenten niedergedrückt wird, sobald er Anzeichen von Schwäche in seiner Politik erkennen läßt, und daß er andererseits nicht den Heroismus mit jenem ungetrübten Bewußtsein ersehnen kann, das den Deka' denten charakterisiert. Es muß sich also immer nur um ganz kurze, schnell vorübergehende Zeiträume handeln, in denen ein Staatswesen als dekadent bezeichnet werden kann.
Am leichtesten wird sich die Dekadenz dort einstellen, wo der Staat durch einen autokratischen Herrscher geleitet wird. In diesem Falle kann sich die Dekadenz jahrzehnte' lang hinziehen, ohne daß die Katastrophe solchem politischen Zwittergebilde ein Ende macht. Denken wir uns etwa an
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die Spitze eines kräftigen Staates gestellt einen Fürsten, der innerlich nach Weltherrschaft begierig und gefühlsmäßig schon in ihrem Besitz durch eine verkehrte, weil schwache und dilettantisch geleitete politische Spekulation seinen Staat immer tiefer in Bedeutungslosigkeit und Schwäche versinken läßt, ohne daß er selbst etwas davon merkt Oder denken wir uns ein Volk, das schwach ist, aber trotz des Bewußt' seins dieser Schwäche doch die phantastische Hoffnung nicht sinken lassen kann: es sei zum Herren der Welt be' stimmt Es fehlen ihm vielleicht die allereinfachsten Voraus' Setzungen für die Erreichung solchen Zieles, etwa die Staat' liehe Einheit des Territoriums — und doch bleibt dieses Volk in verbohrtem Glauben: es sei zur höchsten weit' politischen Mission auserkoren*
Aber das sind schließlich nur sehr uneigentliche Beispiele!
Die gesellschaftsbildenden Zusammenschlüsse der Dekadenten ermangeln des Macht willens, der die Individuen zu organisierten Wesen zusammenschließt* Es sind lose Vereinigungen, die sich bald wieder auflösen, weil sie ohne feste Formen der Über' und Unter* Ordnung sind* Es gibt natürlich immer irgend welche festen Mittelpunkte, das heißt Persönlichkeiten, um welche die Anderen sich herum gruppieren* Aber da diese Persönlichkeiten ohne den dauernden Willen zur Herrschaft sind und ohne die Kraft: gelegentlich zu einschneidenden Rücksichtslosigkeiten ihre Zuflucht nehmen zu können, so haben jene Siedlungen durchweg einen nur kurzen Bestand* Gewissensehe, Besitz' losigkeit, möglichst naturhaftes Dahinleben — kurz eine Vereinigung aller möglichen Freiheitsformen des Daseins findet sich in den verschiedenen Niederlassungen, deren
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Beschreibungen wir A. Grohmann43 verdanken» Sie sind eben volkhafte Schöpfungen von Heimatlosen, Volklosen, solchen Menschen, deren Typus wir jetzt kurz umreißen wollen»
D er Heimatlose
Wer viel reist, wird heimatlos — meint man meist» Aber unsere Tage ließen Menschen erwachsen, die ohne Heimat' gefühl sind, ohne gereist zu sein» Man kann jene Meinung so verstehen: der Reisende treffe in fremden Ländern so viele Schönheiten fremder Art, daß ihm die Relativität seines Landes sogleich zum Bewußtsein komme» Und in der Tat ist dasjenige Volk, welches in erstarrter Formel' haftigkeit den größten Hochmut und die beschränkteste Vaterlandsliebe an den Tag legt, zugleich ein Volk ohne Reiselust und Wagemut — die Franzosen» Jener Depaysierte aber braucht gar nicht die kaleidoskopisch wechselnden Bilder der Fremde zu erblicken; ohne solch Schauen des Anders' artigen fühlt er sich fremd im Geburtslande von seiner Ge' burt an und doch voll Sehnsucht nach blutverbundener Gemeinschaft des Bodens, der Luft und der Menschen»
Man verwechsele den Heimatlosen nicht mit dem beruf losen Weltenbummler» Dieser kann durch seinen Micht'Beruf zum Internationalisten werden — wie alle Einzel 'Formen der Negativität einen verhängnisvollen KausaFZusammenhang untereinander haben» Doch Jener, der internationale Heimatlose, ist volklos seit seiner Geburt, landlos schon in der Wiege, heimatlos ohne Willen, wider Willen, in primärer Gegebenheit» Daher auch ein tiefgreifen' der Unterschied zwischen beiden: der Weltenbummler ohne
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Beruf kann, durch irgendwelche Erlebnisse gereift, das Heimat" gefühl wiedererlangen, auch wenn die Einordnung in einen bestimmten Beruf ihm mißglückt — der Heimatlose aber vermag sich, trotz aller beruflichen Umgrenzung doch nicht zum Vaterlande zurück" oder hinzufinden*
Denn dieser fühlt die Unrast seines Wesens, das den" noch in größerer oder minderer Bewußtheit zur Volks" gemeinschaft hinstrebt; er wird umhergetrieben von der Frage nach dem Lande, wo sein Volk hätte wohnen mögen. Aber indem das Vaterländische seiner Gefühlsbestimmtheit in ihm bis auf einen letzten Rest erloschen ist, der nur noch das unbestimmte Sehnen zum Völkischen enthält, wechselt das Ziel des Wünschens, weil die treibende Kraft selbst keine festen Instinkte mehr in sich hat, deren Gehalt sich verkörpern, sich verleiblicht finden könnte. Überall trifft man ja Erwünschtes und Widerwärtiges in bunter Mischung; und nur der arationale Wille, der aus dem Noch"Unbewußten herauswächst, preßt den EinzebMenschen mit irgend einer Vielheit zum Volk zusammen. Eben diese arationale Kraft der Vorliebe für eine leibhafte Gegebenheit fehlt dem deka" denten Heimatlosen; während doch der Wille zum Gemein" schaftlichen des Volkes bestehen bleibt.
Dieser Nachsatz ist von Wichtigkeit: der Wille zum Volk in irgendwie bestimmter Form. Denn ohne ihn würde der Internationalist mit dem Kosmopoliten zusammenfallen; mit dem, dessen Lebenswille zu groß ist, als daß er sich mit einem einzigen Volke zufrieden geben könnte, und der deshalb heimatlos wurde — wie denn auch Christus keinen Ort hatte, wo er sein Haupt niederlegen konnte. Die Rast" losigkeit des Propheten und des Dekadenten erwächst also
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aus verschiedenen Einstellungen: Jener sucht das Ganze der Menschheit, dieser sucht eine Provinz innerhalb der menschlichen Gattung; jener hebt sich über die Enge der Volkheit empor, dieser ist aus ihr herausgefallen und sucht nun wiederum nach der Möglichkeit der Wiedergewinnung (vgL den Zusatz „Hermann Bangs ,Die Vaterlandslosen*“)*
Dekadenz im Familienleben
In der Literatur wird der Dekadente gern als der Letzte einer alten Familie hingestellt* Man denkt sich die Ent- wicklung so, daß eine ursprünglich kräftige Familie allmählich oder infolge irgend welcher Abenteuer plötzlich so geschwächt wird, daß sie nur noch „den Letzten ihres Stammes** er- zeugen kann, um mit ihm zugrunde zu gehen. Und dieser Letzt* Geborene hat weder die Kraft noch die Lust, das Leben seiner Familie weiter fortzusetzen, er ist müde, kränk-* lieh, aber vom Ahnenstölze gehalten — kurz dekadent44. Mit einer oft fatalen Aufdringlichkeit ist dieser Typus in der französischen Literatur ausgemalt worden, um dann von Schriftstellern anderer Nationen übernommen zu werden. Es mag sein, daß in Frankreich solche Gestalten ziemlich häufig sind; der Marquis de Toulouse-Lautrec ist wohl die jüngste uud markanteste Erscheinung dieser Art gewesen: verwachsen, häßlich, geil und künstlerisch-genial. Man kann aber bei der Beurteilung der tatsächlichen Verhält¬ nisse nicht übersehen, daß die Schriftsteller, die mit so großer Energie auf diese angebliche Notwendigkeit der Dekadenz alter Familien hinweisen, meist politische Gegner dieser Ge¬ sellschaftsschicht waren und sind, in deren Kreisen sie die Brutstätte der Dekadenz zu finden behaupteten. Sollte
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nicht der politische Kampfgedanke mit gewirkt haben? die Hoffnung: wenn nur immer wieder jenen aristokratischen Schichten zugerufen wird : Ihr seid ja nachweislich degeneriert ! — so glauben Jene selbst es nach einiger Zeit oder werden wenigstens schwankend in ihrem Selbstvertrauen?! — Wie dem auch sei, ob empirische Feststellung oder politische Spekulation oder die Lust an der Entgegensetzung von altem Ruhm und neuer Schwachheit die Feder der Romanciers antrieb — auf jeden Fall ist der degenerierende Sprößling aus vornehmem Haus eine der beliebtesten Romanfiguren geworden. Das monumentalste Denkmal hat diesem Typus J. K. Huysmans errichtet in seinem Buche „A Rebours“, Dies Buch enthält die Lebensgeschichte des Letzten der Marquis des Esseintes, Die früheren Generationen waren athletische Flaudegen und Kriegsleute gewesen, allmählich setzte die Verweichlichung ein: die des Esseintes hatten während zweier Jahrhunderte Verwandtenehen unterem* ander geschlossen und so sich noch mehr geschwächt. Die Mutter erscheint als „sehr blasse Frau, still und schweig* sam“ in einem dunklen Zimmer unbeweglich auf dem Schlummerbette liegend, an Entkräftung dahinsterbend. Der Leser, der mit den populären Vererbungstheorien einigermaßen vertraut ist und sie für richtig hält, ist nun ganz in der Stimmung, alles Folgende der geistigen und physischen Degeneration des Marquis für auch organisch* notwendig zu halten und die etwas unglaubwürdige Häufung sämtlicher Sonderbarkeiten, von der Vorliebe für exotische Pflanzen bis zur Erziehung zum Verbrechen, anstandslos hinzunehmen. Wir sind heute solchen Behauptungen gegen* über skeptischer geworden, finden keinen rechten Grund
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mehr für die These der allmählichen und unabwendbaren Akkumulation minderwertiger, erworbener Eigenschaften, und so ist auch die These von dem notwendig dekadenten Charakter des Letzten eines Geschlechtes immer mehr in Mißkredit geraten, ohne daß eine endgültige Entscheidung möglich wäre45* Mancherlei spricht wohl dafür* Vor allem das subjektive Bewußtsein der dekadenten, bedeutenden Aristokraten: daß ihre Dekadenz eben im Alter ihrer Familie gegründet sei* Die neueste Bekennerschaft zu dieser These ist ja in den Werken Rainer Maria Rilkes zu finden, des Meisters der impressionistischen Kunstform, des Lieblings der europäischen Hoch' Aristokratie; sollte man seinem selbst' richterlichen Urteil nicht trauen dürfen ? — Der Gegner frei' lieh jener Theorie mag auf Detlev v* Liliencrons robuste Vitalität hinweisen. Aber es bleibt doch ein interessantes Faktum, daß die Mehrzahl der hervorragenden aristokratischen Dekadenten zugleich Letzte ihrer eigenen Familie waren und sind: A* de Vigny, A* de Müsset, de Toulouse'Lautrec, Leconte de Lisle, Leopardi, E. Graf Keyserling, Rilke usw.
Mag nun der Letzte des Geschlechtes der Degeneration unabwendbar verfallen sein oder nicht — jedenfalls wird seine Stimmung melancholisch und hochmütig zugleich sein, müde und anspruchsvoll*
Der dekadente Lebemann
Wir nähern uns hier einem Gebiet, das für die bisherige Philosophie eine terra incognita war und größtenteils noch ist — wahrscheinlich deshalb, weil es den Philosophierenden selbst unbekannt blieb* In den umfangreichen Werken Kants, Schellings, Hegels findet sich keinerlei Erörterung
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dieser Phänomene; und Fichtes und Schopenhauers Aus- einandersetzungen gehen an dem eigentlich Problematischen der Halbwelt vorüber, indem sie Schleier moralischer Ent' rüstung und qualvollen Halbverschweigens über diese Welt breiten»
Ein kühner Pionier ist freilich schon vorangeeilt : W eininger. In seinem Buche „Geschlecht und Charakter“, das jeder Psychologe studieren sollte, hat er die vielfältigen Er' scheinungsformen der Weiblichkeit beschrieben, und so konnte er an der Prostitution nicht stillschweigend vorüber' gehen» Vielleicht ist jenes Kapitel, in welchem er die Halb' weit behandelt, das interessanteste seines überall interessanten Buches — schon deswegen, weil er als erster der Modernen den waghalsigen Mut fand: eines der vielen durch theore' tische Abneigung und praktische Sympathie völlig undurch' sichtig gewordenen Probleme zu erörtern» Leider ist aber dies Kapitel nicht bloß der Höhepunkt seiner Analyse, sondern auch der Gipfel seiner Systematik; und da diese hier ihre Bewährung finden müßte, sie aber nicht finden kann, weil die formale Struktur seines System es unzu' reichend ist, so macht sich der systematische Fehler auch in der Betrachtung der Gegebenheiten geltend» Der Haupt' fehler Weiningers ist: daß er allein die Dirne beobachtet, aber den Lebemann übersieht oder verschweigt. Es liegt der Grund dieses Mangels letztlich in seinem Streben, alles Licht im Manne zu konzentrieren und andererseits das Weib als Trägerin jeder bösen Verderbtheit mit aller erdenklichen Bosheit zu umkleiden — der infernalischste Schimmer, der vom Weibe ausstrahlt, ist das Dirnenhafte. Man braucht aber nur die Augen aufzumachen, um sogleich zwei Typen
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der Männlichkeit zu sehen , die in Weiningers Analysen nicht genannt werden: den Lebemann und den Don Juan. Don Juans Verführersehnsucht richtet sich auf alle, alle Frauen, der Lebemann liebt die Prostituierten. (Es ist hier der terminologische Einwand möglich: Don Juan und Lebe«- mann gehörten zu ein und derselben Kategorie, nur daß Jener als Erotiker, der Lebemann aber als Sexualist zu gelten habe. Doch scheint mir — bei dem Mangel an unterscheiden* den Typenbezeichnungen — mein Sprachgebrauch emp* fehlenswerter, den Don Juan [gleichsam als Napoleon der Erotik] auf die heroische, den Lebemann auf die dekadente Sphäre zu beziehen.) Wie sind diese beiden Menschenarten
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innerhalb des Weiningerschen Systemes möglich? Offenbar an keiner Stelle, wie man sich auch drehen mag, — solange man nämlich dem Prinzip der Betrachtung zustimmt, die im Manne das Rein* Positive sieht; denn wie kann das Positive von der Sehnsucht zum Negativen und zur Ver* Stärkung des Positiven getrieben werden?
Wir werden die Mängel des Gesichtspunktes Weiningers vermeiden, indem wir vom Lebemann ausgehen, als dem männlichen Typus der erotischen Dekadenz. Wir nehmen also den Mann durchaus nicht in jener abstinenzlerischen Einseitigkeit des Asketen, die der Wiener Philosoph vom
Manne forderte. Sondern wir erkennen die ganze Proble*
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matik der Menschlichkeit als gültig für den Mann an, und wir meinen: gerade im Mann das klarste und höchst* gesteigerte Beispiel des Humanen zu finden. Erst in zweiter Linie kommt hier, wie sonst überall, das Weib in Betracht. So paradox es klingen mag, so kann man doch sagen: Weiningers Fehler lag hier in der Überschätzung des Weibes;
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er wollte im Weibe das Dämonische verkörpert finden, wollte ihm dessen Rätselwort entreißen — und dies miß' lang, weil nur der Mann sein Wesentlichstes aussprechen, das Weib aber sein Wesen nur unbewußt ausleben kann, da sich bei dem Weibe Körper und Seele noch nicht so weit gelockert haben, daß der Geist zur beherrschenden Sonderheit gelangt* Das Weib hat immer nur, wie Wede* kinds verführerische Lulu, auf alle bestürmenden Fragen des Mannes die rätselenthaltende und verschweigende Ant' wort: „Ich weiß nicht !“ Diese negative Antwort ist nichts Neues* Allen Beobachtern ist aufgefallen, daß dem Weibe die bewußte Initiative im Guten wie im Bösen fehlt* Das Erfinderische des Genies mangelt ihnen, weil sie nicht am Gegebenen rücksichtslos zu zweifeln wagen (Tarde, „Logique sociale“ S* 45 A*); darum mangelt ihnen auch „der Zynis' mus, der die Ironie des Lasters ist“* „Die Kurtisane ist ein Mythus. Niemals hat ein W eib eine Ausschweifung erfunden.“ (Flaubert in „Correspondance“ II, S* 96.) Allein der Mann ist wahrhaft Rätselrater, weil er allein das Höchste des Rätsel' haften in sich enthält ; so vertrauen wir auch hier auf die All' macht seines Geistes.
Eins der interessantesten Phänomene, welche die Er' scheinungswelt dessen, was wir kurz „Erotik“ nennen, enthält, ist die unbedingte Hinneigung zur Pros' titution; wir nennen sie unbedingt, weil sie alle anderen Liebesformen in den Hintergrund drückt und weil sie sich ihrer selbständigen Eigenart wohl bewußt ist* Es ist dies eine sehr merkwürdige Erscheinung, die in unserer Zeit noch nicht gewürdigt ist. Gewöhnlich hilft man sich mit Ausflüchten, weist man auf Nebenmotive hin: vor allem
9 v. Sydow, Dekadenz
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auf das physiologische Bedürfnis, Doch dieses gleichsam entschuldigende Motiv erklärt nicht das Wesentliche,
Denn seine einseitige Betonung würde dazu führen, daß man das Bedeutungsvolle der Prostitution in die Vorehe' lichkeit legte, sie sozusagen als einen Lückenbüßer für die (noch nicht mögliche) eheliche Vereinigung auf faßte, als eine momentane „Verhältnis“' Abart. Damit würde aber ihr gleichsam funktioneller Charakter unterdrückt und ver' kannt. Man muß die Prostitution steigern, um ihren fas' zinierenden Charakter zu verstehen; sie muß in ihrer Selb' ständigkeit, nicht in ihrer Vorläufigkeit behandelt werden. — Gewiß kann die Prostituierte auch mißbraucht werden ; dies geschieht eben, indem sie als „Verhältnis“ betrachtet wird. Wir müssen aber zunächst einmal nach ihrem wahr' haften Daseins' Sinn suchen, nach dem Eigengehalt ihrer Geistigkeit.
Denn es gibt Menschen, welche die Dirne nicht als pas' sageres Wesen mit physiologischer Bedeutung auffassen, die man in diesem und nur in diesem Augenblicke körper' licher Bedürftigkeit schätzt — es gibt Menschen, für deren Weltgefühl die Prostituierte Trägerin einer Weltpotenz ist, der man eine aufrichtige Sympathie entgegenbringt. Will ein Engmoralischer uns nicht glauben, so bedenke er die folgenden Aussprüche Flauberts, Baudelaires, Web ningers.
Es sagt Fl au b er t, indem er der Prostitution den Vor' zug vor dem „Verhältnis“ gibt: „Ich würde von ganzem Herzen eine Frau lieben, die schön und glühend und seelisch prostituiert wäre“ („Correspondance“ I, S. 26); und ferner: „Vielleicht ist es ein perserver Geschmack, aber ich liebe
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die Prostitution an und für sich — selbst unabhängig von dem, was darunter liegt.“ („Correspondance“ II, S. 223.) — Baudelaire läßt den Literaten anfangs nur die Wahl zwischen Dirnen und dummen Frauen: „Weil die echten Literaten zeitweise Abscheu vor der Literatur haben, des* halb lasse ich ihnen — freien und stolzen Seelen, ermüdeten Geistern, die immer Bedürfnis nach Ruhe an ihrem siebenten Tage haben — nur die Wahl zwischen zwei Klassen von Frauen: Dirnen oder dummen Weibern, der Liebe oder dem Küchentopf.“ (W. W. III, S. 288.) Aber soäter stellt er viel schärfer und einseitiger das Problem : „Warum liebt der Geistige (l'homme d'esprit) die Dirnen mehr als die gewöhnlichen Frauen, obwohl beide gleichmäßig dumm sind?“46. — Ebenso behauptet Weininger: „Bedeutende Menschen haben stets nur Prostituierte geliebt.“ („Geschlecht und Charakter“, S. 298.)
Sicherlich hat Baudelaire übertrieben, vielleicht hat er recht, falls er an französische Zeitgenossen dachte 47. Ganz gewiß aber hat er die sexuelle Disposition, die jeden geistig Tätigen eine Zeitlang wenigstens fesselt, richtig und deut- lieh gesehen. Damit ist das Problem gestellt, aber noch nicht beantwortet. Welches wird die Antwort sein?
Baudelaire und Flaubert haben ihre Lösung gegeben; jener hat die ganze Phänomenologie des Dirnentums zur einzigartigen Klarheit geläutert, dieser hat sich begnügt, die subjektive Wirkung zu analysieren.
Als Motto für Baudelaires Beschreibungen kann wohl ein Ausdruck eines seiner Fragmente gelten : „Wollust, ge^ sättigt mit Schmerz und Gewissensnöten.“ (S. seine post' humen „Projets et plans de romans et nouvelles“.) Dieser
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negative Beiklang ist für ihn typisch. Sehr selten wird ihm die reine Freude an der Geliebten zuteil, fast immer ist sie irgendwie mit Melancholie bedeckt. Nirgends ist es die Stimmung des Bourgeois, der sich gehen lassen will und bezecht der Notdurft unterliegt, sondern überall lebt im Grunde der Gedichte das Bewußtsein: hier sei die Hand Satans selbst mit im Spiel; nicht bloße Naturhaftigkeit treibt hier mißgestaltene Blüten, sondern metaphysische, kosmisch notwendige (wenn auch negative) Realitäten wirken sich sinngemäß aus, sozusagen in ganz normaler Weise. Alle subjektiven Stimmungen, von kalter Beobachtung bis zur heißen Sympathie, alle objektiven Wandlungen der Dirne selbst von bloßer Nützlichkeit bis zur mystischen Exaltation, tanzen ihren bunten Reigen, dessen Führer aber irgend eine tödliche Verzweiflung oder der Tod selbst ist.
Steigen wir unter seiner sehr kundigen Leitung durch die Sphären des Dirnentums, so mögen wir den Weg von den Grenzen des Allgemeinen zu dem Ruhepunkte der Einzelheit nehmen.
Das umfassendste Bild entrollt das Gedicht: „Femmes damnees“ („Fleurs du mal“ Nr. 136); die einen sind noch kindlicher Liebe zugeneigt, andere gleichen den Versuche* rinnen des heiligen Antonius in ihrem langsam feierlichen Schritt, andere rufen Bacchus zur Hilfe ihrer Liebesekstasen, andere verdoppeln sie durch Geißelungen — Verächterinnen der Wirklichkeit, Sucherinnen des Unendlichen, so schließt das Gedicht mit metaphysischem Ausklang*
Die Gestalt der Prostitution stellt dann die „Allegorie“ („Fleurs du mal“ Nr. 139) vor Augen. Hier ist reine Be* trachtung, keinerlei Gefühlserguß — eine objektive Be*
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Schreibung gleichsam der Göttin des Dirnentums, der Dirnen* haftigkeit schlechthin, in ihrer kalten und abgemessenen Notwendigkeit und inneren Sicherheit, die aus ihrem Be* wußtsein quillt: „notwendig zum Gange der Welt“ zu sein, „Sie kennt nicht die Hölle, und wenn die Stunde naht des Eintritts in die schwarze Nacht, wird sie das Antlitz des Todes wie ein Neugeborenes betrachten, ohne Haß und ohne Gewissensbiß.“
Von dieser immerhin abstrakten Sphäre steigt dann die Neigung in die engeren Bezirke der konkreten Erlebnisse. Aus dem Mitleid und der Liebe wird rückhaltlose Ver* ehrung, Anbetung jeder Handlung, und sei sie noch so verwerflich. Wir denken hierbei an das Gedicht „Le Pos* sede“ („Fleurs du mal“ Nr. 38), dessen Inhalt der Titel gut andeutet. Vielleicht das Aufregendste, das Baudelaire geschrieben hat! Der uneingeschränkte Gehorsam dem Weibe gegenüber, das als diabolisch erkannt ist — der Geist der absoluten Sklaverei! Die beiden letzten Strophen:
„Allume ta prunelle ä la flamme des lustres!
Allume le desir dans les regards des rustres!
Tout de toi m'est plaisir, morbide ou petulant;
Sois ce que tu voudras, nuit noire, rouge aurore;
II n'est pas une fibre en tout mon corps tremblant
Qui ne crie: O mon eher Belzebuth, je t'adore!“
Das Erschreckende in diesen Beziehungen ist weniger dieser wahnsinnige Aufopferungstrieb für das Satanische, als das unabänderliche Gefesseltsein an den Vampir, zu* gleich mit dem Bewußtsein: die Dirne hat gar keinen An* teil an der eigenen Erregung* sie bleibt kalt und gleich*
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gültig: „Deine Augen, in denen sich weder Süßes noch Bitteres enthüllt, sind zwei kalte Edelsteine, in denen Gold mit Eisen sich mischt*“ („Fleurs du mal“ Nr* 32*) — In der Tat ist es diese innere Gleichgültigkeit, diese der Ge* wohnheit entsprungene Kälte, die so erschreckend den Mann trifft — diese Isoliertheit mitten im Rausch, diese Einsamkeit mitten im Genuß I Die seelische Erregung pflanzt sich nicht fort, es bildet sich keinerlei Liebes*Ge* meinschaft — der Liebende besitzt das Ersehnte und bleibt doch einsam!
Zu diesem Gefühl der Einsamkeit tritt hinzu das Gefühl des SündemBewußtseins, das dem Momente des Rausches folgt: das Gewissen, der Reflexion entspringend — so daß nun die Seele, zu Sündhaftigkeit und Frömmigkeit hinge* trieben, rastlos sich umhergewirbelt fühlt*
Das Bewußtsein des Sündhaften, Wider*Lebens vollen seiner Geschlechtlichkeit durchdringt Baudelaires Gedichte, wo wir sie auch analysieren mögen. Es war ihm doch fremd die moderne Einstellung, welche den Menschen dazu drängt: sich seine eigene Lebenskraft, seine eigene Schwäche und seine eigene Sünde zu umgrenzen und seinen eigenen Tod. Er liegt auf den Knien, reuevoll und betend („Fleurs du mal“ Nr. 161):
„Dans ton lle, 6 Venus! je n'ai trouve debout Qu'un gibet symbolique oü pendait mon image ♦ ♦ ♦
— Ah! Seigneur! donnez*moi la force et le courage De contempler mon coeur et mon corps sans degoüt!“
Baudelaire hat in seinen Aufzeichnungen „Fusees“ diesen engen Zusammenhang zwischen Wollust
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und Sünde deutlichst beschrieben („Fusees“ Nr. 3): „Ich glaube, daß ich schon einmal notiert habe, daß die Liebe stark einer Folter oder einer chirurgischen Operation ähnlich sähe. Aber dieser Gedanke kann in der bittersten Art weiter entwickelt werden. Selbst wenn die beiden Liebenden sehr verliebt und voll wechselseitigen Verlangens sind, so wird doch der eine von beiden immer ruhiger sein oder weniger besessen als der andere. Jener oder jene ist der Operateur oder der Henker. Dieser ist das Objekt, das Opfer. Hörst du diese Seufzer, Vorspiele einer Tragö- die der Ehrlosigkeit, dieses Stöhnen, diese Schreie, dieses Röcheln? Wer hat sie nicht ausgestoßen, wer hat sie nicht unwiderstehlich erpreßt? Und was für schlimmere Qualen findet man in der peinlichen Frage, von geschickten Folter«' knechten angewandt? Diese somnambulenhaft verdrehten Augen, diese Glieder, deren Muskeln hervorspringen und erstarren wie unter dem Einfluß einer galvanischen Batte¬ rie? — Trunkenheit, Delirium, Opium, in ihren heftigsten Wirkungen, bieten keine ebenso schrecklichen, ebenso son¬ derbaren Beispiele. Und das menschliche Antlitz, das Ovid zum Spiegelbild der Sterne geschaffen schien — sieh doch: über ihm liegt nur ein Ausdruck toller Wildheit, oder es entspannt sich fast tödlich. Denn sicherlich käme es mir wie Lästerung vor, wenn ich das Wort Ekstase auf diese Art der Auflösung anwendete. — Entsetzliches Spiel, in welchem einer der Spieler die Selbstbeherrschung verlieren muß! Einmal wurde in meiner Gegenwart das Problem aufge¬ worfen: worin wohl das größte Vergnügen der Liebe läge. Einer antwortete natürlich: im Empfangen, und ein anderer: im Sich-Hingeben. — Dieser sagte: Vergnügen des Stolzes;
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— jener: Wollust der Niedrigkeit! Alle diese Schmutz* finken sprachen wie die „Imitatio Christi“* — Endlich fand sich ein unverschämter Utopist, der versicherte, daß das größte Vergnügen der Liebe darin bestünde: Bürger für das Vaterland zu erzeugen* — Ich aber, ich sage: Die einzige und höchste Liebeslust liegt in der Gewißheit: Böses zu tun* Und Mann und Weib wissen von Geburt an, daß im Bösen sich alle Wollust findet.“ (Vergl. „Mon cceur..*“ Nr* 15*)
Man darf diese Sätze nicht so radikal und allgemein auffassen, wie sie hier hingeschrieben worden sind. Sie beziehen sich faktisch nur auf das Liebesverhältnis zur Prostitution. Denn für die Ehe hatte der Dichter nicht das mindeste Verständnis — hat er sie doch einmal als „wider* wärtige Nützlichkeit“ (W* W. III, S* 92.) bezeichnet und ein anderes Mal den charakteristischen Ausspruch getan: „Die Liebe kann einem generösen Gefühl entstammen: dem Geschmack für die Prostitution; aber sie ist bald verdor* ben durch den Geschmack am Eigentum.“ („Fusees“ Nr* 10.) — Der Dekadente steht eben sexuell* leibhaftig im Banne des Abgrunds, verwirft daher die Ehe und Familie und blickt nur sehnsuchtsvoll oft hinüber zu den Gefilden der Seligen, die in platonischer Neigung an* einander hängen, während er das Sexuelle innerhalb der Sphäre der Prostitution als der Sünde angehörend emp* findet.
Und in der Tat hat er hierin völlig recht* Denn sündig oder die Kultur negierend sind alle jene Erscheinungen, die sich nicht in den Zusammenhang eines Prozesses, einer Hierarchie einordnen lassen, indem sie die in ihnen lebende,
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nach vorwärts treibende Dynamik gleichsam seitwärts ab* irren lassen von der positiven Richtung des Geschehens* Die Prostitution läßt die sexuellen Triebkräfte ins Nichts hinausströmen* Sie erlaubt keine Organisation der Lieben* den; ihre Kräfte wirken chaotisch durcheinander, der Na* menlose paart sich mit der Namenlosen I Hieraus kom* plizieren sich die Gefühlstendenzen, die den Verkehr zwischen Mann und Dirne unmittelbar durchsetzen. Es gibt hier nicht jene ruhige Sicherheit und Klarheit der Liebeseinheit, in welcher der Platonismus die gänzliche Gleichwertigkeit der Liebenden ausdrückt; auch nicht jene Zuneigung zur Gattin in der ehelichen dauernden Gemein* schaft. Ganz anders ist dieses Gefühlsverhältnis, das zwischen Mann und Dirne sich entfaltet. Hier mischt sich dem Ge* fühl der Liebe, das nicht geleugnet werden kann, eine starke Dosis Mißtrauen ein, das sich oft genug bis zum Haß steigert. Ja, man kann als regelmäßiges Schema der Ent* Wicklung dies angeben: daß die Liebe am Anfang und die Abneigung am Ende der Prostitutions* Verhältnisse steht, und daß gerade solche Umwandlung der Zuneigung in Widerwillen der typische Verlauf solcher Beziehungen ist* Damit ist nun die Antinomie gegeben, daß gegensätzliche Gefühle sich miteinander mischen, und zwar in starker Erregtheit und Betontheit und Reinheit sich miteinander mischen* Ein Rausch bewegt sich hin und her, dessen Reiz gerade in der Kontradiktion seiner Elemente besteht. Das Mißtrauen ist der psychische Repräsentant jener Leere, die den Dekadenten umfängt und ihn isoliert* Durch die Liebe sucht der Dekadente diesen Abgrund zu überbrücken, zu überspringen* Da in der Dekadenz das negative Gefühl
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überwiegt, so fängt zwar die Liebeshandlung der Dekaden* ten mit der Zuneigung an, aber sie endet mit dem Miß* trauen, mit dem Absturz der Triebe ins Negative. Was Baudelaire („Mon coeur . ♦ .“ Nr. 44) vom Liebesieben im allgemeinen behauptet, gilt nur für das prostituierte Triebleben der Sexualität: „Der unüberschreitbare Abgrund, der in der Unvereinbarkeit liegt, bleibt unüberschritten.“ In der platonischen Liebe schließt das gefühlsmäßige Be* wußtsein der Wesensidentität die Liebenden zusammen; in der Ehe umfaßt der Mächtigere den Schwächeren mit seiner Fürsorge und anordnenden Wegweisung; — im Verhältnis der Prostituierten zu ihrem momentanen „Liebhaber“ herrscht Mißtrauen in überwiegendem Maße.
Das schnelle Sich*Auf lösen und Ablösen des Zusammen* hanges verhindert jene Epoche der wachsenden Neigungen, welche gerade der platonischen und der ehelichen Liebe ihren Charme gibt und ihre vielfältig abwechslungsreiche Tönung bestimmt, jene Epoche, in welcher der Liebende in allem, was ihm vor Augen tritt, die Entdeckung neuer Vollkommenheiten der Geliebten macht — jene Epoche, die Stendhal „Kristallisation“ benannt hat. („De TAmour“t S. 5.) Der Prozeß der Vertiefung fehlt der kometen* haften Momentaneität des Prostitutions* Verhältnisses.
Dieser Prozeß wird durch die Nonchalance paralysiert, welche beide Menschen in ihrem wechselseitigen Bezug beseelt. Der Mystiker der Liebe oder der Platoniker liebt seinen Partner als Ausdruck der höchsten Wahrheit; er liebt die Frau, weil er selbst der Mann ist; zu dieser Art der Liebe treibt uns das „Ewig* Weibliche“ — im eigentlichen Sinne des Wortes. Der im Positiven lebende Kulturmensch
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wählt eine bestimmte Frau zur ehelichen Gemeinschaft und unbestimmt viele zu „Verhältnissen“; denn das Wesen des Positiven liegt in der Differenzierung begründet» Dem Liebhaber der Dirnen ist dies Moment der Individualität völlig gleichgültig; aber nicht deshalb, weil er sich aus dem Dasein ins Sein zurückversetzt fühlt, sondern weil er sich und seine Gefährtin beide dem Nichts überliefert fühlt. Es ist das Negativ^ Allgemeine des Dirnentums, das reizt — ganz gleichgültig: wer seine momentane Verkörperin ist. Die Goncourts mögen als Zeugen aufgerufen werden: „Der Hauptcharakter der Prostituierten ist ihre Unpersöm lichkeit. Sie ist nicht mehr ein Einzelwesen, nicht mehr jemand, sondern nur eine Einheit in einer Herde.“ („Jour' nal“ II, S. 6.) Darum erlischt auch diese Versuchung nie, weil der Reiz ein unpersönlicher ist. So oft auch die Zu' neigung in Abscheu und Antipathie sich verwandelt — so oft flammt doch bei der nächsten Gelegenheit die Neigung wieder auf. Der Betreffende mag sich dann noch so sehr zum Widerstande rüsten, sich noch so sehr mit sadistischer Ranküne, krampfhafter Auflehnung und mit Mordgedanken gegen die wiederkehrende Versuchung panzern — diese Ab' kehr bleibt nutzlos, diese Abneigung bleibt unfruchtbar (vergl. „Fleurs du mal“ Nr. 32, 58, 65).
Alle solche Gefühlstendenzen: Liebe, Furcht vor dem Nichts, daraus entspringende Abneigung und Mißtrauen, treiben ihr nuancenreiches, wechselhaftes Spiel in der Seele des Lebemannes. Flaubert hat diese Kompliziertheit einmal hübsch skizziert: „Ich habe niemals ohne Herzklopfen eine dieser dekolletierten Frauen unter den Gaslampen vorüber' eilen sehen können, wie auch die Kleider der Mönche
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meine Seele in irgend welchen asketischen und tiefen Winkeln kitzeln« Es steckt in diesem Gedanken der Prostitution ein so kompliziertes Problem: Luxus, Bitterkeit, Vernichtung der menschlichen Beziehungen, Anspannung der Muskeln und Klingen des Goldes — daß, wenn man lange dahin* ein starrt, der Schwindel einen anpackt; und man erfährt dabei so vielerlei! Und man ist so traurig! Und man träumt so gut von der Liebe! O ihr Dichter der Elegien, nicht auf die Ruinen, sondern auf den Busen dieser Freuden* mädchen solltet ihr euch stützen . ♦ ♦ Ja, es fehlt irgend et* was dem, der niemals in einem namenlosen Bette aufge* wacht ist«“ („Correspondance“ II, S. 233.)
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Es erhebt sich in der Seele des Dekadenten ein Wider* streit von Antinomien: der Kampf zwischen der deka* denten Anlage und der Sehnsucht zur Mystik der Reinheit des Platonismus« Ein Kampf, der notwendig mit der Niederlage dieser Sehnsucht enden muß, da die ursprüngliche Anlage immer die stärkere ist. Wir können diesen Zwiespalt nicht bloß in den Gedichten Verlaines bemerken, deren Doppel* Neigung zu Obszönitäten und kindlichster Reinheit so oft die Verwunderung seiner Kriti* ker wachrief — wir können die Entwicklung eines solchen Verhältnisses, das mit platonisierender Innigkeit begann und in der Sinnlichkeit zerbrach, in historischer Präzision beobachten: wir meinen die Liebe Baudelaires zu Frau Sabatier.
Freilich waren diese Beziehungen zwischen dem Dichter und jener Schönheit48 von vornherein sehr problematisch:
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war sie doch die „Freundin“ eines Pariser Börsenjobbers — zugleich eine neue Aspasia, an deren Diners Literaten wie Flaubert, Gautier, Müsset, die Goncourts u. a. m. teil' nahmen. Aber wer könnte eine so seltsame innerliche Katastrophe für möglich halten, wie sie uns der Brief' Wechsel zwischen dem Dichter und Frau Sabatier neuer' dings enthüllt hat?
In fünf langen Jahren, von 1852 bis 1857, rang Baude' laire um ihre Zuneigung in anonymen Briefen und Ge' dichten. Seine tiefwurzelnde Antipathie gegen die Frauen scheint erloschen. Er feiert die Geliebte als die ideale Freundin, den guten Engel, den Geist aus der Höhe, und solche Lobpreisung ist wahrhaftig keine Kleinigkeit, wenn man den schamlos obszönen Ton bedenkt, der in ihrem Kreise unter der Ägide des „Oncle Theo“, so wurde Th. Gautier genannt, üblich war.
Sie ist für ihn nicht einfach ein Weib, „das man zu be' sitzen begehrt, sondern eine Frau, die man liebt um ihrer Ungezwungenheit willen, ihrer Leidenschaft, ihrer Frische, ihrer Jugend und ihrer ausgelassenen Fröhlichkeit halber“, Ihre Schönheit vereine zwei Gegensätze: die Grazie des Kindes und die Anmut der Frau. Ein tugendliches Gefühl binde ihn an sie, vergleichbar der Liebe des Christen zu seinem Gott; weit von sich weist er alle Sinnlichkeit, wie eine Lästerung heiliger Dinge.
In diesem Gefühl erstarkt seine Neigung und noch nach fünf Jahren klingen die gleichen Bekenntnisse wieder in unverminderter Kraft: „Die Gassenjungen sind verliebt, die Dichter aber beten an ♦ ♦ ♦ Stellen Sie sich eine Mischung vor von Träumerei, Sympathie, Achtung und tausenderlei
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ernsthaften Kindereien, so haben Sie nahezu ein ziemlich getreues Bild dessen, was ich nicht besser definieren kann ♦ ♦ ♦ Sie sind mehr als ein geträumtes und geliebtes Bild, Sie sind der Inhalt meiner abergläubischen Verehrung. Wenn ich irgendeine große Dummheit mache, sage ich mir: Mein Gott! Wenn sie das wüßte! Wenn ich irgend etwas Gutes tue, sage ich mir: Dies hier bringt mich ihr näher — im Geiste.“ — Beteuerungen, die allesamt die unmittelbare Naivität der „ersten Liebe“ atmen!
Und doch tritt sogleich der Zwang der schroffsten Am tipathie ein, als eines Tages nach jener fünf Werbejahre Ablauf die Angebetete zum Weibe wurde und seiner Sehm sucht unterlag ♦ . .
Einer der ersten Briefe Frau Sabatiers, vielleicht der erste „danach“, spiegelt alle Liebesfreude wieder : „. . . Ich kann Dir sagen, ohne daß Du mich der Übertreibung zeihst, daß ich die glücklichste der Frauen bin, daß ich niemals tiefer fühlte, daß ich Dich liebe, daß ich ganz einfach, mein göttlicher Freund, Dich niemals schöner, niemals ver* ehrungswürdiger sah . ♦ ♦“
Dreizehn Tage später aber erhält sie diesen Brief Barn delaires: „♦ ♦ ♦ So habe ich Dir gestern gesagt: Du wirst mich vergessen, Du wirst mich verraten; wer Dir Ver* gnügen macht, wird Dich langweilen. Und ich füge heute hinzu: leiden wird allein der, welcher wie ein Tor die Dinge der Seele ernst nimmt. Sie sehen, meine Schöne und Geliebte, daß ich gehässige Vorurteile gegen die Frauen habe. — Kurz, ich habe kein Vertrauen; Ihre Seele ist schön, aber im ganzen doch eine weibliche Seele. — Schauen Sie, wie in wenig Tagen unsere Lage sich gründe
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lieh verändert hat» Zuerst sind wir beide besessen von der Furcht, einen anständigen Menschen zu kränken, der so glücke lieh ist, immer verliebt zu sein» Dann haben wir beide Angst vor unserem eigenen Sturm, weil wir wissen — besonders ich es weiß, daß manche Knoten schwer aufzuknüpfen sind» — Und endlich, endlich: vor wenigen Tagen warst Du eine Göttin, das ist so bequem, das ist so schön, das ist so unverletzlich» }etzt bist Du Weib» Und wenn ich nun zu meinem Unheil das Recht gewinne: eifersüchtig zu werden! Oh! wie entsetzlich, nur daran zu denken! Aber mit einem Wesen wie Sie, dessen Augen voll Lächeln sind und voll Freundlichkeit für alle Menschen, muß man ein Martyrium leiden! — Der zweite Brief trägt ein Siegel von einer Feierlichkeit, die mir gefiele, wäre ich nur sicher, daß Sie sie verstünden: Never meet or never part! Das bedeutet: es sei besser, einander niemals gekannt zu haben, aber daß man sich nicht verlassen darf, wenn man sich kennt; auf einem Abschiedsbriefe wäre dies Cachet sehr erfreulich» — Schließlich mag kommen, was da will! Ich bin ein wenig Fatalist, aber was ich wohl weiß, ist, daß ich Abscheu habe vor der Leidenschaft — weil ich sie kenne mit allen ihren Schamlosigkeiten» Und nun wird zu ver* führerisch das geliebte Bild, das alle Abenteuer des Lebens beherrschte» — Ich wage nicht, diesen Brief noch einmal durchzulesen ; ich wäre vielleicht verpflichtet, ihn zu ändern ; denn ich fürchte sehr, Sie zu verletzen» Es scheint mir, als hätte ich etwas von dem häßlichen Teile meines Cha' rakters durchschimmern lassen ♦ ♦ ♦“
Und die Liebe mußte sich zur kameradschaftlichen Freundschaft wandeln!
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Wer bisher das sonderbare Schicksal dieser Liebe be' trachtete, glitt mit erstaunter Schnelligkeit über das eigene lieh Problematische ihres katastrophalen Endes hin zu einer allgemeinen Phraseologie des Bedauerns und Verwunderns. Und doch muß hier Erkennerschaft beweisen, wer den Kern des Charakters Baudelaires begreifen möchte*
Der Drehpunkt jener Ereignis'Gruppe liegt wohl in dem Satze ausgesprochen: „vor wenigen Tagen warst du eine Göttin, das ist so schön, so bequem, so unverletzlich*“ Gewiß also keine Göttin der Liebe; sicherlich keine Gott* lichkeit, die dem Sexuellen verhaftet sei* Sondern die per* sonifizierte Reinheit und Keuschheit — die Madonna, die Vestalin, die Heilige * * * Warum die Antipathie nach dem Fall? oder: warum diese Identifizierung des höchsten Liebesbeweises mit dem Sündenfall? Hätte nicht auch diese Konsequenz entspringen können: der Wille zur dau' ernden Einheit des Zusammenlebens?
Doch der Dekadente schwankt zwischen Extremen : ent' weder Heiligkeit oder aber Sündhaftigkeit! Die Zwischen' stufe hat für ihn keine Geltung, keine unmittelbare Lebens' kraft* Sobald der Engel zur Wirklichkeit, die Vestalin zum Weibe wird, tritt für das Lebensgefühl der Dekadenz zugleich das Negative in Kraft; die Vestalin wird zur Dirne, weil sie zum Weibe wurde. Die Verehrung des Ewigen hört nun jählings auf, das Negative reißt die Frau in seinen Abgrund, alles Liebenswerte erscheint nunmehr aufgelöst im Chaos, die Liebe bricht zusammen, die Antipathie keimt schnell und plötzlich* So erklärt sich nun die rätselhafte Problematik jener Ereignisse und Briefe: Baudelaire liebte sehnsüchtig die Vestalin49, aber seine dekadente Grund'
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gesinnung zwang ihn übermächtig zum Dirnenhaften hin : zu Jeanne Duval zurück, der „Venus noire“, mit welcher er in freier Ehe lebte50.
* *
*
Zum Schluß noch ein Wort über das Verhältnis des Geistigen zum Leiblichen innerhalb der verschiedenen Liebes*Typen. Eine merkwürdige, sehr alte Meinung sucht nämlich die Differenzen zwischen ihnen durch das Moment der leiblichen Vereinigung zu demonstrieren. Der fleischliche Genuß sei das Verwerfliche. Der Platoniker enthalte sich der Sinnlichkeit, der Ehemann beherrsche sie, der Lebe* mann fröne ihr zügellos. — Das ist natürlich ganz falsch. Denn der dauernde seelischgeistige Austausch, der zwischen Ehegatten immerfort vor sich geht, repräsentiert einen viel höheren Grad von Sinnlichkeit, als die vorübergehenden, zeitlich beschränkten Betätigungen des Lebemannes. Die Ehe ist unendlich sinnlicher als das Verhältnis zwischen Gentleman und Dirne.
In der Prostitution vollzieht sich die Desorganisation der Sinnlichkeit. Denn hier ist alles dem Zufall, der Momentaneität überlassen. An die Stelle der wachsenden Vertiefung tritt die wirbelnde, eruptionshafte Vereinigung ohne festen Zusammenhalt, ohne jenen Willen zum Dauer* haften, der die unumgängliche Voraussetzung jeder wirk* liehen Vertiefung ist. Denn auch die Sinnlichkeit bedarf, wie die Geistigkeit, stabiler Existenz* Verhältnisse, um zu gedeihen. Nicht deshalb also wird der Dekadente zum Lebemann, weil er übersinnlich ist, sondern weil seine Sinnlichkeit nicht zu jener dauernd starken Leistung sich
10 v. Sydow, Dekadenz
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fähig fühlt, welche das gewöhnliche Geschlechtsleben erfor* dert. Das nötige Gleichmaß mangelt. Der Dekadente schwankt so zwischen Überreiztheit und Gefühllosigkeit des geschlechtlichen Lebens. So wird er notwendig zum Freund der Venus vulgivaga. So hat er Abscheu (wir hörten dies Geständnis von Baudelaire) vor der sexuellen Leidenschaftlichkeit, der er allerdings keine ausreichende leibliche Konstitution zur Basis geben kann. Aber diese Abscheu bezieht sich eben nicht eigentlich auf das Moment tane der Sexualität — die sexuellen Phantasien haben Bau* delaire bis zuletzt umfangen — sondern auf den dauern* den Verkehr mit seinen ununterbrochenen Anforderungen. Schwäche — unterbrochen von außerordentlicher Laszivität der Vorstellungen und Handlungen — das ist das typische Bild des Dekadenten, das sich dann leicht dahin abwan* delt, daß ausschließlich die Gedankenwelt von sexuellen Wünschen erregt wird, während die Organ empfindungen versagen51.
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Zu dieser Einstellung auf das Passiv*Negative und das Heroische der Geschlechtlichkeit hin gesellt sich als dämo* nischer Einschlag die Neigung zu sexuellen Perversi* täten; — hierzu erweitert sich oft der Typus dekadenter Sexualität. Man mag wohl schon in jener Neigung zum Dirnentum etwas Dämonisches spüren: eine Freude an der korrumpierten Seele. Nun aber tritt die Widernatur in rein sexuellem, nicht bloß sittlichem Gebiete auf. Ein paar Gedichte Baudelaires sind der lesbischen Liebe gewidmet. Und der Dichter selbst scheint vorübergehend von gleich*
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geschlechtlicher Neigung nicht frei gewesen zu sein — wenn wir hier auch wohl eher eine momentane Mißleitung am nehmen dürfen, als wirkliche Veranlagung52* Es bleibt aber diese Einstellung innerhalb des dekadenten Charakters mehr ein gedankliches Spiel, als wirkliches Handeln,
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Ebenso deutlich wie die männlichen Typen des Plato* nikers, Don Juans und Lebemanns stellen sich die weib* liehen Typen dar: Vestalin, Hetäre und Dirne, Sie sind der Widerschein des männlichen Lichtes, die Abschwächung seines Leuchtens, Die Frauen wiederholen im Kleinen das Vorbild des Mannes, aber seine Größe, die in der Selbst* bewußtheit wurzelt, fehlt ihnen, Ihre Bosheit selbst kennt nicht den unerschütterlichen Trotz des dämonischen Verführers; Lulu, ihre beste Vertreterin, vollendet in ungewußter Ruch* losigkeit ihr verderbenbringendes Leben, Aber freilich ist die prinzipielle Anlage die gleichartige: in den Unter* schichten der Menschlichkeit strömen die gleichen Ten* denzen, wie in den Oberschichten: d. h. im Mann, Wir brauchen daher die Darlegungen der Struktur des Lebe* mannes nur zu transponieren in das dumpfere Sein des Weibes, um alle jene Erscheinungen sich sinngemäß wieder* holen zu sehen.
Freilich widerspiegeln sie sich doch nicht rein. Die Fille publique sucht das, was ihr an bewußter Dekadenz mangelt, zu ersetzen durch den Anschein des Dämonischen im Äußeren: der seelische Mangel soll durch die Kleidung wettgemacht werden. „Diese Frauen, mit Reismehl ge*
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pudert, weiß wie ein weißes Übel, mit den rotgemalten Lippen, diese geschminkten Frauen mit ihrem leichenhaften Teint, dem Lächeln, das in einer Bleichheit leichenfressender Wesen blutet, das Auge untermalt mit Kohle, belebt vom Fieber, mit ihren Haaren, die einem Stücke Astrachanpelz gleichend gekräuselt und wollig ihnen Stirn und Gedanken verzehren, mit ihren irrsinnigen und kranken Gestalten — sie erscheinen wie Gespenster und Tiere des Vergnügens, Sie haben in sonderbarer Weise etwas an sich von Ge* spensterhaftem und Tierischem; eine neue Versuchung blasierten Appetits“, (Jul, et Edm, de Goncourt, „Idees et sensations“, S, 240,) Lautet diese Beschreibung der Goncourts nicht wie das Programm der so wohl bekannten Bilder des Toulouse-Lautrec?!
Dekadenz der Geselligkeit Das Kaffeehaus
Die Geselligkeit des Dekadenten trägt den Stempel des Zerfahrenen, Bald schließt er sich eng mit seinen Freunden zusammen, verläßt sie wochenlang nicht, bald trennt er sich von ihnen in scheuer Zurückgezogenheit, Der Ort, in welchem diese Art von Geselligkeit sich entfalten kann, ist das Kaffeehaus, Man trifft sich hier in einem Ge¬ bäude, dessen Besitzer unbekannt ist, das jeder betreten kann, der auch nur einigermaßen anständig aussieht und nicht hoffnungslos betrunken ist. Während die offizielle Geselligkeit nach abstrakten Gesichtspunkten wählt, die¬ jenigen, welche im Salon Zusammenkommen, durch die persönlichen Familienbeziehungen oder Berufsrücksichten
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des Gastgebers herbeigerufen sind — vollzieht sich im Kaffee* haus eine ganz andersartige Auswahl der Bekannten, Je nach Laune und Geschmack, der wechselt, schließt man seine Bekanntschaften, Oder auch nicht einmal Bekannt* schäften, denn oft genug kommt man in ein Gespräch, so ganz zufällig, weil der Andere am selben Tische sitzt, oder weil er in der Lieblings*Zeitung liest, oder weil er einen interessanten Gesichtsschnitt hat, oder aus irgend einem anderen Grunde, Und wie man sich zufällig trifft, so trennt man sich auch wieder. Man hängt nicht eng wie die Kletten zusammen — nach der Art der offiziell Bekannten, die als Berufsgenossen in einer täglichen Verbindung miteinander stehen, oder in der Weise der Salon*Bekannten, die ge* schäftliche oder verwandtschaftliche Verbindungen zusam* menhalten. Alles im Kaffeehaus ist Ungebundenheit und Unruhe. Schon die Art der Unterhaltung! Wenn der Ge* ladene der anderen Gesellschaften herkömmlich irgend einen Gesprächsstoff bespricht oder das Allgemein*Interessierende, so sucht der Kaffeehäusler nach Thematen, die außerhalb der gewöhnlichen Bedenklichkeit und Skepsis liegen: nach neuen Ungewöhnlichkeiten. Eine gleichsam visionäre Welt tut sich vor ihm auf. Die sogenannte Wirklichkeit verliert für ihn ihren drückenden Ernst, den sie für Alltagsmenschen besitzt. Und dann das Hin*und*Her der Diskussionen! Die Anderen kennen nur die Unterhaltung. Er aber kennt die Diskussion ; mag sie auch vorderhand ergebnislos bleiben — er ist von der Wahrheit des Hegelschen Satzes tief über* zeugt: „Sind die Vorstellungen erst einmal revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht stand.“ Alles gewinnt eine Elastizität, die ungeheuer ist. Tänzerisches liegt in den Ge*
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danken, die ausgesprochen sind, wie Dolche gezückt und gestoßen» Ruhelosigkeit, Verführerisches, Aufrührerisches, dem sich kein junger Mensch entziehen kann, und das kein junger Mensch entbehrt haben sollte! Die hohe Schule der männlichen Geistreichigkeit ! Die Kirche der freien Geister! Jener Baum, unter dessen Schatten Buddha saß — übertragen ins Moderne» Die Pflegestätte der Asphalt' Kultur» Schachspiel des Geistes» Alles ist offen: kein SO' genannter Anstand hält von den „verfänglichsten“ Thematen zurück»
Jeder kann kommen und gehen, wann es ihm beliebt» Kann sich so flegelhaft benehmen wie er mag und die Anderen es ihm erlauben» Die Eigentumsverhältnisse werden gewissermaßen fließend» Alles wandert von Hand zu Hand: die Mädchen, die Zeitungen, das Geld» So verbindet sich höchste Einsamkeit mit grenzenloser Allgemeinheit des ge* selligen Lebens»
Dies allgemeine Kommen und Gehen bildet ein sinn' fälliges Gleichnis der Chaotik, die sich hier offenbart» Man wartet auf das Chaos und läßt sich von ihm umbranden» Die Wirklichkeit flutet draußen am Fenster vorüber, sie strömt herein und fließt wieder hinaus» Der Irdisch'Heimat' lose „wohnt“ hier» Der den Eingesessenen Fremde. Der, der nach fremden Dingen sucht. „Nirgend, wo sich der Raum in Mauern drängt, tiefer blühet die Pflanze der Fremde auf“ (Werfel). Der Unterschied zwischen Kaffeehäusler und Abenteurer: dieser sucht das Chaos auf, das Nicht'Er' wartete, Beispiellose — jener aber ermangelt solcher experi' mentatorischen Kraft, er hält sich dort auf, wo das Chao' tische lebt und betrachtet werden kann, ohne daß man
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sich der Notwendigkeit der aktiven Eigen-Teilnahme unter- wirft* Man wartet auf das Vielfältige und läßt sich von ihm umbranden und atmet den berauschenden Duft, den es ausströmt*
Welche Vielfältigkeit! — : Kaufleute, Soldaten, Frauen, Dirnen, Rechtsanwälte, Schieber usw. Welche Abwechslung der Menschen und Schicksale! Und welche Erlebnis- und Nacherlebnis- und Einfühlungs-Möglichkeiten ! Freilich nur für den gewiegten Kenner, den Gewohnheitsmäßigen, den Erfahrenen: „Was die Menschen Liebe nennen, ist recht klein, recht eng, recht schwach, verglichen mit dieser un¬ aussprechlichen Orgie, mit dieser heiligen Prostitution der Seele, die sich ganz und gar, Poesie und Mitleid, hingibt dem Unvorhergesehenen, das sich zeigt, dem Unbekannten, der vorübergeht“ (Baudelaire, „Petits poemes“ ♦ ♦ ♦ Nr* 12)^ Man denkt hier gern an die Historisten unserer Zeit: sie, die am grünen Tisch in der ruhigen Wohnung sitzen und das Leben irgend Eines, sei es Napoleon oder Goethe, nach¬ erleben — was sind sie anderes als Stammgäste im großen Kaffeehaus des Daseins? Nur viel unproduktiver und un¬ nützlicher, als ihre staatlich nicht besoldeten Vorbilder! — Gewiß: nicht alle Berufe finden hier ihre Vertretung: der Beamte z* B. fehlt, der Künstler schafft hier kaum* Nur der Philosoph findet hier sein Feld oder wenigstens seine starke Anregung durch die unaufhörliche Problematik, die sich hier auftut, die fortwährende Negativität, die er hier erleben kann* — Doch alle diese Vorzüge sind zweischneidig;
sie schärfen den Geist, aber sie machen ihn oft so fein und
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biegsam, daß er kein Problem mehr zu entwirren, keinen positiven Halt mehr zu schaffen weiß; er fließt durch alle
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Wirklichkeit hindurch, aber er trägt keine Arche Noäh mehr. Man soll dann und wann in der Hölle frühstücken, aber man darf dort nicht zum Stammgast werden!
Dekadente Freundschaf tslosigkeit
Selbst die Freundschaft erscheint dem Dekadenten noch zu stark verpflichtend, als daß er nicht danach streben möchte, sie zu lockern und aufzulösen. Das Gefühl des Mißtrauens schleicht sich auch in diese zartesten Zusammen* hänge der Seele ein und rät: dem Freunde es öfters empfinden zu lassen, daß man auch ganz wohl ohne ihn durch die Welt kommen könne, oder es drängt gar zu jener gegen* sätzlichen Haltung, die den Freund absichtsvoll brüskiert. Diese letzte Art der Freundschaftlichkeit, wenn man diesen Ausdruck hier noch am Platze findet, sehen wir bei Friedrich Schlegel. Er ist vielleicht die „liebloseste Persönlichkeit der ganzen romantischen Epoche“, meint ein Biograph (K. Enders, „Fr. Schlegel“, S. 137 ff.). Auf sich beschränkt und doch ohne die innere unablässig quellende Produktivität, die solche Einsamkeit veredelt, vermag er nur dann seine Mitmenschen zu lieben, sobald sie ihm seine Sisyphusarbeit erleichtern: sich in Harmonie mit sich selbst zu setzen. Denn seine Grundanlage tendiert zur Negativität : „In allen Dingen sind wir enge, endliche Wesen, nur in einem machte uns Gott unendlich — in der Zerrüttung“, sagt er in seinen „Briefen“ (S. 27). Hieraus entspringt die merkwürdige Mi* schung von enthusiastischer Neigung und herbster Schroff* heit gegenüber denselben Menschen, denen er befreundet ist. Denn die Ausfüllung seines Wesens und Mangels hätte ihm nur in sich selbst gelingen mögen, aber nicht durch
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die Vermittlung anderer. Wer fremde Hilfe nötig hat bei der Ordnung innerlichster und persönlichster Angelegen* heiten, ist ein Schwächling. So entspringt Schlegels Zu* neigung der Schwäche und muß, bei längerer Anspannung in der gleichen Richtung auf die gleiche Persönlichkeit, zer* brechen. Der herbe und grobe Ausspruch der Verachtung dem Befreundeten gegenüber ist dann nur eine jener Maskierungen der Dekadenz, von denen wir später reden werden.
Neben dieser auf gegenwärtiger Schwäche beruhenden unfreundschaftlichen Haltung, durch welche der seelische Zusammenhang abgebrochen oder in seiner Intensität ver* mindert wird, findet sich noch eine andere, seltenere Er* schwerung solchen intimen Einsseins, hervorwachsend aus der Ratlosigkeit des eigenen Inneren, falls man nicht die Hoffnung hegen darf, bei Anderen Hilfe und Rettung zu finden. Wer sich selbst als ein großes Labyrinth fühlt, in welchem er sich nicht zurecht findet, scheut die Gemein* samkeit dieses Wissens mit Anderen.
Mit dieser seelischen Schwäche, die nicht festhalten mag, was sie erworben, sondern launisch ihren Besitz schnell wieder preisgibt, verbindet sich der Logik des Dekadenz* haften gemäß der plötzliche Enthusiasmus im Schließen von Freundschaften. Eine hochgespannte Wärme der Zu* neigung, welche sich dann um so kontrastierender von der bald einsetzenden Kälte der eisigen Zurückhaltung umlagert findet. Dieser Rausch der überraschen, tasso* haften Anschmiegung läßt die Schattenseiten und Bedenk* lichkeiten übersehen, welche jeder Verbindung zwischen Menschen anhaften, lassen insbesondere die Unzuträglich*
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keiten vergessen, welche den Dekadenten aus ihren Lebens* Verhältnissen heraus drohen. Darum sind es oft genug Menschen minderwertiger Art, denen der Dekadente durch seine Voreiligkeit der Freundschaftlichkeit zum Opfer fällt. — So ist das dekadente Dasein von sinnlosen oder zer* rissenen Freundschaften durchzogen.
Dekadente Schüchternheit
Eine abgeblaßte Form der mißtrauischen Furcht ist die
Schüchternheit53: die Scheu vor gesellschaftlichen Hand*
lungen in Gegenwart anderer Menschen. Der Schüchterne
geniert sich, so sich zu geben, wie er ist. Die Furcht, sich
zu blamieren, hindert ihn fortwährend. Es ist weniger die
Furcht vor Anderen, als die Furcht vor seiner eigenen Un*
fähigkeit, die seine Handlungskraft lähmt. Es ist nicht
eigentlich der Mißerfolg, der auf irgend eine Handlung folgt:
der Tadel des Vorgesetzten wegen einer falschen Ausführung
einer Anordnung, das Gelächter, welches einer törichten ••
Äußerung folgen könnte — nicht also dieser sekundäre, folgende Mißerfolg ist es, der den Schüchternen zunächst zur Schüchternheit zwingt und zur Zurückhaltung von jeder äußeren Tätigkeit, sondern die Aktion selbst, unabhängig von dem voraussichtlichen Erfolg oder Mißerfolg ist das, was den Schüchternen schreckt. Die Furcht ist funktionell geworden.
Zwar behauptet der Schüchterne regelmäßig: er habe vor den Leuten, in deren Gegenwart er sich timide zeigt, nicht die mindeste Furcht. Aber es wäre doch immerhin möglich, daß das Wissen um die eigene Unfähigkeit als genetisches Motiv der Schüchternheit zu betrachten wäre, so daß doch der in der Phantasie vorweggenommene oder in
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vergessener Wirklichkeit faktisch erlebte Mißerfolg die um bewußte Grundlage des schüchternen oder auf Einschüch' terung beruhenden Verhaltens wäre. Und in der Tat findet man die Beobachtung regelmäßig, daß der Schüchterne zugleich ein Unfähiger, Kraftloser ist, dessen Handlungen, nähme man seine Timidität fort, unglücklich verlaufen würden. Auch tritt die Schüchternheit gerade in dem Lebens^ abschnitt am deutlichsten hervor und am allgemeinsten auf, in dem die Ungewohntheit neuer Kräfte und die Unwissen' heit über ihre Verwendung den Mißerfolg der ersten Ver' suche des Gebrauches dieser Kräfte fast sicher erscheinen lassen: in der Pubertätszeit.
Der eigentliche Unterschied zwischen Furcht und Schüch' ternheit liegt darin, daß die Furcht ein viel umfassenderer Begriff ist, als die Timidität. Furcht richtet sich auf alle Erlebnismöglichkeit, Schüchternheit richtet sich auf den Konflikt mit Menschen. Beiden liegt als identisches Motiv das gefühlsmäßige Bewußtsein der Unterlegenheit, der Schwäche zugrunde; nur mit diesem Unterschied, daß die Deutlichkeit dieses Bewußtseins in dem Zustande der Furcht viel stärker ist, als im Erlebnis der Schüchternheit. Der oberste, metaphysisch dekadente Zustand ist das Leiden am Leben überhaupt — das auf eine objektive Bestimmtheit eingestellte leidhafte Gefühl ist die Furcht, und das inner' halb der sozialen Sphäre wirksame ängstliche Gefühl ist die Schüchternheit, die sich ergibt aus dem Bewußtsein der eigenen Schwäche und der Voraussicht des Mißerfolges infolge der als selbstverständlich angenommenen Absicht der Anderen, dem Schüchternen zu schaden. Der Schüch' terne mißtraut also sowohl sich selbst, wie auch den Anderen.
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Wir haben hier den mißtrauischen Menschen in seiner reinsten Gestalt, Denn derjenige, den man gemeiniglich als mißtrauisch bezeichnet, richtet sein unsoziales Gefühl zunächst nur gegen die Andern, aber nicht zugleich gegen sich selbst. Der Schüchterne erst vollbringt diese weitere Steigerung: er mißtraut sich selbst, den er für zu schwäch* lieh erklärt, und zugleich den Mitmenschen, von denen er immer irgend eine Bosheit, eine Ironie, kurz eine absicht¬ liche Verletzung voraussieht. — Daß jene Forscher53, Harten¬ berg und Dugas, diese fundamentale Rolle des Mißtrauens als sozialer Funktion innerhalb der Timidität nicht gesehen haben, ist der wesentlichste Mangel ihrer Darstellungen. Denn gerade diese doppelte Spannung: „wie werde ich dies Mal versagen“ (daß er versagen wird, ist dem Schüch¬ ternen von vornherein klar!) und: „wie werden die Anderen sich dazu verhalten — diese doppelte Spannung ist gerade das Charakteristikum des seelischen Zustandes desTimiden, seiner Unsicherheit und seines Zögerns. Er leidet im so¬ zialen Verkehr also in zweifacher Hinsicht: an den Anderen und an sich selbst.
Da der Schüchterne sich so gut kennt, faßt er natür¬ lich oft und oft den Entschluß, seine Veranlagung zu ver¬ ändern, zu verbessern. Er nimmt sich vor, diese und jene Ungeschicklichkeit das nächste Mal nicht wieder zu begehen ; aber gerade diese Absichtlichkeit seines Auftretens stört die elegante Gelenkigkeit seiner Bewegungen, alles gerät schief, anders als er gehofft, und nun quillt aus dem verunglückten Versuch kein Trost, sondern verstärkte Bitternis hervor. Und gerade durch seine Selbstbeobachtung schwächt er die Kraft seiner Worte: er stottert und kann sich nicht recht
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ausdrücken* So ergeht es dem Helden des Buches Ben j. Constants: „Übrigens hielt mich eine unbezwingliche Schüchternheit auf: alle meine Reden erstarben auf meinen Lippen oder endeten ganz anders, als ich es mir vorge^ nommen hatte: Ich kämpfte innerlich, ich war empört gegen mich selbst,“ („Adolphe“ S. 34),
Die beiden eben skizzierten Elemente scheinen mir das Eigentümliche der Schüchternheit oder Zaghaftigkeit zu ent' halten: schuldbewußte Beobachtung der Anderen und zm gleich vorwurfsvolle Selbstbeobachtung* Alle anderen Mo' mente, die Hartenberg in reicher Zahl aufführt, wie: Pessimismus, Misanthropie, AutO'Analyse, Egotismus, Mas' kierungen usw„ scheinen mir doch zu allgemeine Kenn' Zeichen des Dekadenz'Gefühls zu sein, als daß sie an dieser Stelle eine besondere Analyse notwendig machten 54.
Es ähnelt wohl solche Schüchternheit aus Schwäche in gewißer Weise jener anderen Schüchternheit, die aus der Ratlosigkeit des jungen Menschen angesichts der Verdorben' heit der Menschen entspringt ; einer Zaghaftigkeit, die einen Parsival auszeichnet* Schopenhauer ist es wohl, der junge Leute, die sich schnell im Gewirre der Welt zurechtfinden, für minderwertig erklärt. Doch ist das Verhalten der beiden Typen zu sehr verschieden, als daß eine längere Beob' achtung nicht bald die Motivationen unterscheiden könnte: Parsifal bleibt auch im höchsten Erstaunen selbstbewußt und sicher, seine Stimme bebt nicht, er stottert nicht — der Schwächlich' Schüchterne aber ist unsicher in sich, seine Stimme zittert hin und her.
Die furchtsame Schüchternheit vor Mitmenschen tritt in dem Leben jedes Menschen irgendwie auf. Bei furcht'
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samen Charakteren natürlich öfter, wie bei den mutigen. Aber auch bei diesen findet sich unumgänglich eine Situation, in welcher ein Schauer der Angst sie überläuft.
Ein jeder geht ja durch jene Zeit hindurch, in der er das Sexuelle des Lebens kennenlernt und damit das Fürchten und die Angst. Das erste Gefühl, mit dem man von den sexuellen Funktionen der Menschen Kunde erhält, umgibt sich mit dem gleichen Schauer des beunruhigend Geheimnis* vollen und Bedrohlichen, wie die Geschichte einer Gespenster* erscheinung. Das Dunkle, Mysteriöse packt den jugendlichen Geist mit unerhörter Intensität an. Er glaubt, in eine dunkle Höhle zu schauen, die noch dazu den Reiz des Verbotenen hat. Es ist aber dies nicht so zu verstehen, wie es von Freudscher Seite aus gewöhnlich interpretiert wird: daß nämlich das Sexuelle das Erste wäre und das Andere erst die zweite Folgerung und assoziative Symbo* lisierung sei, sondern so wird man das Phänomen der doppeldeutigen Gefühlslage erklären müssen, daß das all* gemeine Negative die Voraussetzung bildet, auf die erst in sekundärer Abfolge die Negativitäten der einzelnen Lebens* gebiete hin weisen. Nicht deshalb also wird das Sexuelle gern mit einer blutigen und dunklen Höhle55 verglichen, weil die Höhle auf das Sexuelle hinweist, sondern des* halb, weil das Dunkle und Abgrundhafte an das Ne* gative überhaupt erinnert und weil ferner dieses am un* mittelbarsten im sexuellen Leben naheliegt. Nicht als ob das Geschlechtliche schlechthin einen negativen Charakter trüge, dann würde freilich alle und jede sexuelle Tat den Menschen in den Abgrund stürzen der Furcht vor der Sünde — theologisierende Autoren behaupten dies zwar
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mit Vorliebe56, vermutlich, weil ihnen die existentielle Ver* gleichsmöglichkeit fehlt und sie gern die augenblickliche Ver* wirrung57 in einer ungewohnten Lebenslage sogleich für Sündbewußtsein halten — sondern nur dies läßt sich wohl als allgemein behaupten, daß der erste Anfang der außer* ehelichen Sexualität mit jenen bekannten Phänomenen sich verknüpft: Angst, Zittern, schmerzlicher Aufregung. Wäre die theologische These Wahrheit, so würde das Na* türliche einerlei mit dem Wider*Göttlichen sein: der Wider* spruch zwischen der Genus*Bestimmtheit und dem Be* wußtsein des unsterblichen Geistes im Menschen käme hierin zum Ausdruck, so äußert sich Kierkegaard. Und in der Tat mag es sich wohl bei den im Banne des wider* natürlich gesinnten Dogmas schmachtenden Seelen so ver* halten, aber für die unendlich überwiegende Mehrheit der befreiteren Menschen gilt es keineswegs. Es wäre ja auch empörend, wenn diese so selbstverständliche Lebensbe* tätigung neben allen anderen Unannehmlichkeiten nun auch noch die der generellen Sündhaftigkeit enthalten sollte. Solche Sündigkeit umzirkelt einzig das Prostitutionshafte mit seinem brennenden Feuer, und auch dies nur am An* fang des Sich*Gewöhnens ; sobald aber der Mensch die Negation als ein notwendiges Lebenselement erlebt und dann erkannt hat, verliert sich auch in dieser Lebenssphäre das ängstigende Gefühl, um nur dann und wann sich zu melden. Nur für den Heiligen ist das Geschlechtliche ein Fehltritt unter allen Umständen. Nur für ihn hat die „Scham“ einen schlechthin gültigen Sinn. Für andere ist sie ein bloßes Warnungszeichen: sieh dich vor! der Ab* grund ist deiner organischen Potenz nahe 58 ! Für die Nicht*
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Heiligen gilt nur die Forderung der Vorsich t, nicht aber die der Enthaltung, sofern das rein Positive zur Norm er* hoben wird. Wie schädlich unheiligen Naturen die Ab' stinenz sein kann, hat die Wiener Psychopathologenschule an zahlreichen Beispielen gezeigt.
Um den Nachteilen der schüchternen Lebenshaltung zu entgehen, greift der Timide manchmal zu den sonderbarsten Mitteln der Maskerade. Am liebsten nimmt er die Maske des Stolzes, der abweisenden Hochmütigkeit an, als eine mehr oder minder bewußte Schutzmaßnahme gegenüber der Außenwelt. Oder aber es wird aus dem ungern Ent' behrenden ein Verächter und Verneiner, aus dem Zag' haften ein Grobian, ein verletzend Spottender. Solche Verkleidung nahm Rousseau ganz bewußt an: „Da ich meine dumme und widerwärtige Schüchternheit, die ihren Grund in der Furcht vor Verstößen gegen die guten Ma* nieren hatte, nicht besiegen konnte, entschloß ich mich, sie gewaltsam niederzutreten. Ich wurde aus Scham zynisch und satirisch, ich tat so, als verachtete ich die Höflichkeit, die ich nicht auszuüben verstand.“ („Confessions“ II. T., 8. Buch).
Oft genug ist jene Maskierung durch abweisungsvolle Härte und Unnahbarkeit keine bewußte Absicht, sondern die Natur hat sie sozusagen in unpraktischer Vorsicht dem Dekadenten aufgenötigt — sehr zu dessen eigenem Un¬ behagen. Dann steht die Konstellation des Schicksals seinem Lebensglück noch ungünstiger, als bei Jenem, dessen Verhalten auf überwiegend bewußtem Willen ruhte; der äußere Stolz stößt die Anderen zurück und doch hat der Schüchterne den besten Willen, sich „natürlich“ zu geben.
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In diesem Zwiespalt zwischen Anschein und Wirklichkeit seines Wesens lebte Kierkegaard: „Meine Qual bestand zuerst in meinem inneren Leiden selbst, und dann wieder darin, daß man das, was Leiden und Elend war, beständig für Stolz ansah. Es ist damit wie mit jenem Lord, den der arme Tagelöhner beneidete — bis er sah, daß er keine Beine hatte“ („Buch des Richters“ S. 86).
Beruf slosigkeit
Die Dekadenz auf dem Gebiete der beruflichen Arbeit liegt nicht eigentlich darin, daß der Dekadente keinen Beruf hat, sondern darin: daß er mit der Veranlagung zum Nichts* tun zugleich den intensivsten Trieb zum beruflichen Ideal verbindet. Das Ideal der Arbeit ist die Vereinigung von einer hohen, leitenden Stellung mit der instinktiven Eignung des Menschen für diesen Posten. Mit diesem Ideal kollidiert die überwiegende Schwächlichkeit des Dekadenten. Goethe spricht einmal von „problematischen Naturen“, deren Fragwürdigkeit in diesem Zwiespalt liegt zwischen ihrem Sehnen, dem keine Position in der Welt genügt, und ihrer Leistungsfähigkeit, die keiner Lage gewachsen ist. Die Dekadenten sind solche problematischen Naturen. Sie sehnen sich nach einer weltbeglückenden Führerschaft und sind ungeeignet für jedes geringere Maß von Anspannung und Verantwortung, das ihnen der zunächst liegende Be* ruf abfordert.
Hieraus ergibt sich die Neigung zum oftmaligen Be* rufswechsel. Die Vielseitigkeit wird die Klippe, an der sie scheitern. In der Tat ist ihr Wille zu allseitiger Beruf* lichkeit kein völlig sinnloser Wahn. Ihre Befähigung der
11 v. Sydow, Dekadenz
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Einfühlung in alle möglichen Lebenslagen gibt ihnen die Möglichkeit, die ersten Stufen jedes Berufes zu ersteigen, und zwar mit einer Leichtigkeit zu ersteigen, die durchaus über dem Durchschnitt ihrer Konkurrenten liegt. Aber so* bald es sich dann darum handelt: schöpferisch und dirigierend tätig zu werden, fallen sie ab; denn zu solcher Leistung reicht ihre Kraft nicht mehr hin. Außerdem scheuen sie die Wiederholung, die Voraussetzung der Verfeinerung und Ver* tiefung. Ihre Tätigkeit erscheint ihnen nicht mehr interessant; so suchen sie aus doppeltem Grunde nach neuer Tätigkeit und gleiten von einem Gebiet zum anderen. So ahmen sie die allumfassenden Kraftnaturen nach, die jedes Lebensfeld selbst bestellen wollen — als Pseudo * Uni versalisten aus Schwäche.
Untersucht man die Struktur der subjektiven Mühe* waltung der Dekadenten, so kann man verschiedene Typen unterscheiden, die zwischen zwei Extremen schwarn ken, welche sich aus der dekadenten Mischung von Schwäche und Stärke ergeben. Auf der obersten Wert'Stufe steht jener, der einen bestimmten Beruf seiner überwiegenden Neigung und Befähigung gemäß gewählt hat und der ihn auch trotz aller inneren und äußeren Beschwerden hart* näckig durchzuhalten bemüht ist. Auf der untersten Stufe steht als interessanterer Typus jener, dessen Kraft weder zum Wählen noch zum Festhalten ausreicht und der des* halb eine solche Lebensführung innehält, die den äußerst formalen Charakter des Tätigseins ohne bestimmte Beruf' lichkeit besitzt: der Weltenbummler, der Landstreicher, der wandernde Arbeitslose, welchem die bloße Ortsveränderung die Stelle der Arbeit vertritt als die reinste Form der Be*
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wegung oder als letzter Restbestand der auf das Äußere der Welt gerichteten Tätigkeit*
Untersuchen wir die Arbeitsleistung des Dekadenten, so kann man sie folgendermaßen umschreiben* Es ist im Grunde der Mangel an Tatkraft, der die objektive Energie der Arbeitsamkeit schwächt. Sie bildet keinen kontinuier* liehen Zusammenhang ihrer Einzelmomente, sondern sie setzt sich zusammen aus negativen und positiven Elementen; so scheint sie ein Mosaik* Denn der Dekadente hat nicht die unablässige Kraft, die für die ununterbrochene Leistung not" wendig ist (vgl* Baudelaire „Lettres“, S* 400). An die Stelle der stetigen Aktivität des Kulturmenschen, welche, obzwar an" und abschwellend, doch das Kontinuierliche enthält und zeitweilige Zwischenräume völliger Leerheit nicht kennt, tritt plötzliche krampfhafte Anstrengung und krisenartige, fast krankhafte Arbeitswut, die — freilich sehr ungenügend — die Handlung einer ununterbrochenen Willenskraft ersetzt („Lettres“, S* 326, 79). So strömt die Arbeitsamkeit auf und ab in ihrer leistungsfähigen Kraft. Für den oberfläch" liehen Beobachter wechselt das arbeitsame Leben des De" kadenten zwischen äußerstem Fleiß und äußerster Faulheit hin und her* Aber es ist falsch, das Nichtstun dieser Menschenart einfach als Faulheit zu bezeichnen. Faulsein heißt: des inneren Anspornes zur Tätigkeit entbehren, das spontane Streben zur Handlung nicht in sich fühlen. Nur der Mensch der Positivität kann wirklich faulenzen* Der Dekadente aber vermag dies nicht; sondern immerwährend, zu jeder Sekunde des Lebens spürt er den schmerzhaften Stachel des Arbeitsdranges, und nur dies ist sein Fehler, daß eine entgegengesetzte Macht da ist, welche solchen
li*
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Arbeitstrieb ins Bodenlose ableitet, seinen Griff kraftlos macht, die Festigkeit der einleitenden Stellungnahme zum Gleiten zwingt»
So liegt dieser Typus immer im Kampfe wider die in ihm wohnende negierende Macht seiner Seele, und um sie zu bewältigen, muß er Anstrengungen auf sich nehmen, welche in ihrer subjektiven, der objektivierten Leistung voraus* gehenden Intensität die Arbeitskraft des normalen Kultur* menschen um ein Vielfaches übersteigen. Jede Leistung ist die Frucht eines Kampfes und Krampfes, der schmerzerfüllt und folternd ist. Nur unter Aufbietung aller Kräfte, unter der Bedingung eines äußersten Sich'Zusammenreißens ist dem Dekadenten die Vollendung möglich. Ein wenig über* treibend kann man sagen : sobald sich der Gesunde an Ar* beiten erinnert, die er vollbrachte in der Gefahr des Todes und unter Aufpeitschung aller und jeder Energie — alsdann hat er ein einigermaßen gleichartiges Bild von dem seeli* sehen Milieu, innerhalb dessen sich das arbeitsame Leben der Dekadenten abspielt.
Maurice de Guerins Ausspruch deutet auf das Charak* teristische hin: „Ich gewinne untadelhafte Augenblicke der Begeisterung nur im geheimen Rausch der Gedanken oder durch den heimlichen Sporenstich geistiger Getränke. Welche Wohligkeit in der Erregung! Dann scheint es mir, als könnte ich meine Gedanken (fast ist's irrsinnig) nur einem himm* lischen Feuer vergleichen, das am Horizonte zwischen zwei Welten zittert. Alles vollzieht sich arbeitsam in meinem Kopfe und ist nur das Resultat einer unendlich langsamen und schmerzlichen Absonderung.“ — Baudelaire formuliert später den gleichen Vorgang dekadenter Produktivität dramatischer,
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monumentaler: „Die Kunst ist ein Zweikampf zwischen Idee und Künstler, in welchem der Künstler vor Entsetzen aufschreit, bevor er besiegt wird.“
Überdies ist die Verteilung des Arbeitsquantums ganz verschieden bei dem gewöhnlichen Kulturmenschen und solchem Dekadenten. Denn während jener bestimmte Arbeitsstunden und abgegrenzte Mußestunden innehält, skan* dalisiert der andere den tüchtigen Bürger durch Untätigkeit zur Tageszeit und durch oft zur Nacht hereinbrechendes Arbeiten. Nicht übel hat Huysmans seinen Marquis des Esseintes als Schläfer am Tage und Genießer zur Nacht* zeit gezeichnet.
Bohemien und Welten bummler
Der beruflose „Weltenbummler“ ähnelt äußerlich in hohem Maße dem „Abenteurer“ — und ist doch ganz anders. Wenn dieser seine Sache auf Nichts gestellt hat und dafür sein Leben einsetzt, ist der Globetrotter undenkbar ohne einen Kreditbrief mit hohen Ziffern ; nicht sein Leben, sondern höchstens sein Geld wagt er an seine Unternehmungen. Seine Sehnsucht ist: sich immer neuen Reizen aussetzen, immer Neues kennenlernen, eine immer veränderte Da* seinsform sich durch den Wechsel der Umgebung er* kaufen. Und dies alles nicht aus Liebe zum umfäng* lichsten Leben, sondern aus Unfähigkeit: sein Dasein mit dauerndem Inhalte zu erfüllen. Die mangelnde Intensität des Erlebens und Leidens mit ihrer inneren Unendlich* keit soll wettgemacht werden durch die Extensität des wechselvollen Lebens mit seiner äußeren Endlosigkeit des Immer* Anders*Seins 59.
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Nicht der Wille zu erneuerter Positivität des Welterlebens also ist es, der den Weltenbummler zum Reisen treibt, oder das Kumulationsbedürfnis von Neuem zum schon erwor* benen Alten, nicht also die Freude an der Vermehrung dessen, was man kennt und schätzt — sondern die innere Unruhe, die dem, was man besitzt, entfliehen möchte* Wie die Seele durch die Vielgestalten der Stimmungen, so irrt der Körper durch die Vielfältigkeit der Länder — auf der Flucht vor der Leere, die der Geist in sich fühlt, auf der Suche nach Dingen, Wesenheiten und Erlebnissen, mit denen das Gähnende sich füllen könnte*
Dies zeigt uns die Selbstanalyse Amiels, als er nach den Motiven irgendeiner überstürzten Abreise sucht* „Warum denn bin ich fortgefahren? Der Grund, den ich mir gab, war die Sorge um einen armen kranken Onkel* Aber steckt in Wahrheit nichts anderes dahinter?* *♦ Aber alles das be< deutete nichts, glaube ich, ohne einen anderen Instinkt, In* stinkt des , ewigen Juden*, der mir immer die Schale ent' reißt, die ich an meine Lippen setze, der mir den dauernden Genuß verbietet und mir zuruft : V orwärts ! V orwärts ! Schlaf nicht ein, binde dich nicht, halte dich nicht auf! Dies unruhige Gefühl ist nicht das Bedürfnis zu wechseln, es ist vielmehr die Furcht vor dem, was ich liebe, das Mißtrauen gegen das, was mich entzückt, das Quälende des Glückes* Welche sonderbare Natur und welche bizarre Neigung: dieser Mangel an Wagemut zum naiven, einfachen, bedenkenlosen Genuß und dies Sich'Zurückziehen von der Tafel aus Sorge, das Mahl könnte enden * . ♦ Ja, ich bin immer der Gleiche, das schweifende Wesen, ohne Notwendigkeit, freiwillig exiliert, der Mensch ohne Rast, der ewig Fahrende, der durch eine
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innere Stimme getrieben nicht kauft und nirgends arbeitet, sondern vorüberfährt, betrachtet, sich lagert und davongeht* Ist die Ursache dieser Anstrengung nicht eine gewisse Leere? das unaufhörliche Verfolgen eines Dinges, das mir fehlt ?“ („Journal“ I, S. 109)*
Das Volk der Fahrenden im eigentlichsten Sinne ist das der Zigeuner* In der Tat ist das Zigeunerhafte zum Kenn* wort einer ganzen Kulturrichtung geworden : die „ B o h e m e “ bezeichnet ja nichts anderes als den Heimatlosen, Schwei* fenden, „den Menschen, der in seiner Geistigkeit den Zu* fällen seines Gedankens, seiner Empfindung oder seines Traumes dahingegeben lebt, wie er als soziales Wesen in dieser wirren Menge einsamer Individualitäten gelebt hat“, — so lautet Barbey d'Aurevillys Definition, deren Richtig¬ keit er an E. A*Poes, des „Roi des Bohemes“, Werken zu beweisen suchte (in „Les oeuvres et les hommes“ IV* T„ S. 346)* Kurz mit „Boheme“ ist der soziale Nihilismus be* zeichnet: Leben im Kaffeehaus, nomadenhaftes Reisedasein, Beruf losigkeit, wilde Ehe — und alles, was sonst noch sinn* gemäß dazu gehört: Armut, Internationalismus* Es sind dies wesentlich romantische Eigenschaften* Und so finden wir nicht bloß die Phänomene dieser Geistesrichtung in ihrem Leben realisiert (wie ja alle Lebenswege der Roman* tiker diese Uferlosigkeit, Richtungslosigkeit , Schwankend* heit zeigen, die wir im Begriff des Bohemianismus meinen), sondern auch diese Daseinsart als normative Forderung und als Bekenntnis der Gesinnung aufgestellt* Fl au b er t ist hier wie so oft in dieser Welt des Negativen ein unverdächtiger Zeuge: „Die Mittelmäßigkeit liebt zärtlichst die Regel, ich aber hasse sie ; ich fühle gegen sie und gegen alle Ein*
• * I I ie, Niveau, Herd]
emen Abscheu, der mir die Seele erfüllt“ („Correspondana;
’ . * '3I5)* — »Ich aber, ich verabscheue alles, was ve P ic tet, jedes Gesetz, jede Regierung, jede Regel“ („Corre spondance“ III, S. 88; vgl. III, S. 388). - „Ich hasse di Herde, die Regel und die Flachheit (Niveau). Beduin-so
viel Sie wollen, Staatsbürger-niemals“ (Correspondance“ 1
o. 368).
Hier ist noch jener kritischen Besprechung zu gedenken: die Barbey d Aurevilly den Novellen E. A. Poes zuteil werden ließ und in welcher er den Begriff der Boheme zu xieren suchte™. In diesem Aufsatze analysiert der fran- zosische Poet, der seinem ganzen Habitus nach einer der charakteristischsten Vertreter zum Katholizismus bekehrten oatanisten war, die metaphysische Wurzelung jener Werke: m einer tiefeindringenden Weise, die innerhalb des im alle*, meinen so oberflächlichen französischen Journalismus über, raschend und erfreulich wirkt. Das typisch Französische eibt hierbei insofern bewahrt, als die philosophierende Er. grundung zu einer Umrahmung einer bestimmten Person, hchkeit, eben Poes, wird. Aber trotz dieser prinzipiellen Minderwertigkeit sind diese Ausführungen doch bedeutsam genug, um sie kurz zu skizzieren, weil sie gerade bei Barbey d Aurevilly nicht einer absichtlichen, künstlichen Einstellung m eine ihm fremdartige Lebenshaltung entspringen, sondern aus der leidvollen Erinnerung an selbstdurchlebte Wirklich¬ keiten plastisch hervortreten. Lassen wir die besondere Rück- sichtnahme auf Poes Gestalt beiseite, so umschreibt der Essay das Wesentliche der Boheme folgendermaßen. - Zwei- Elemente kennzeichnen sie; Neugier und Furcht. Die Neu- 168
i, ; gier nach dem Wissen des Ungewissen streift immer auf der
Grenzscheide beider Welten hin, des Natürlichen und des Übernatürlichen, entfernt sich von jener, um an die Tore e dieser Welt zu pochen, ohne sie öffnen zu können. Die
j, , Furcht aber stößt die neugierige Seele zurück und zieht sie 3, . dennoch immer wieder zum gleichen Ziel, wirbelt sie durch I Angst und schmerzlichen Todeskampf» Alle Furcht kom
zentriert sich schließlich in der Scheu des Religionslosen , vor dem Tode; es entspringt hier die nervöse Furcht des il Materialisten, den Halluzinationen schrecken, — Der letzte
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Grund dieser peinlichen Situation liege im Individualismus, Aus ihm folge im sozialen Leben die isolierende Einsam' keit, im geistigen Leben das Anheimfallen allen zufälligen Abirrungen seiner Gedanken, Gefühle, Träumereien, Das Aufbauende der Konstruktion fehle ihm, seine Kraft liege in der Analyse,
Von jeher hat etwas Geheimnisvolles die Zigeuner um' schwebt. In so manchem Roman treten diese Fremdlinge als Bewahrer irgendwelcher mehr oder minder schlimmen Geheimnisse auf. So ist es kein Wunder, daß an dies aus' ländische Volk, diese Leibhaftigkeit des Internationalismus, die Sympathie der Dekadenten sich heftet, InBaudelaires Werken treten sie dann und wann flüchtig, aber sinnvoll in das Scheinwerferlicht seiner Sehnsucht, Alle Variationen von dem bloßen Wünschen: zu wandern weit, weit hinaus — nur fort von hier! — bis zum Preis des Wander Volkes
treffen wir hier an.
Das Gedicht „Le Voyage“ („Fleurs du mal", Nr, 151) formuliert das Prinzip mit gewohnter Meisterschaft der Präzision ;
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„Mais les vrais voyageurs sont ceux-lä seuls qui partent
Pour partir; coeurs legers, semblables aux ballons,
De leur fatalite jamais ils ne s'ecartent,
Et, sans savoir pourquoi, disent toujours: Allons!
Ceux4ä dont les desirs ont la forme des nues,
Et qui revent, ainsi qu'un conscrit le canon,
De vastes voluptes, changeantes, inconnues,
Et dont Fesprit humain n'a jamais su le nom!“
Sein Prosagedicht „Der Fremdling“ („Petits poemes ♦ ♦ ♦“, Nr. 1) läßt alle sehnsüchtige Liebe zum Leben in diese Freude am Weiten, am Wechsel, am Unbekannten zusam¬ menströmen:
— „Was ist dir, Rätselhafter! das Liebste, sprich: dein Vater, deine Mutter, deine Schwester oder dein Bruder?
— Ich habe weder Vater, noch Mutter, noch Schwester, noch Bruder.
— Deine Freunde ?
— Das ist ein Wort, dessen Sinn mir bis heute unbekannt blieb.
— Dein Vaterland?
— Ich weiß nicht, unter welchem Breitengrade es liegt.
— Die Schönheit?
— Ich würde sie gern lieben — wäre sie Göttin und Un¬ sterbliche.
— Das Gold?
— Ich hasse es, wie Ihr Gott hasset.
— Nun — was liebst du denn, erstaunlicher Fremdling?
— Ich liebe die Wolken . . ♦ die wandernden Wolken . . . dort in der Ferne . ♦ . die wunderbaren Wolken.“
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Oder man denkt an jenes andere Prosagedicht „LesVo" cations“ („Petits poemes ♦ ♦ Nr. 31); vier Knaben erzählen sich ihre Erlebnisse , die ihnen am eindruckreichsten er- schienen: der eine war im Theater, der zweite sieht Gott auf einer feuerroten Wolke thronen, der dritte wittert Liebes-* abenteuer — der vierte, letzte, hat eine Zigeunerbande ge^ sehen und meint: „Es hat mir oft so geschienen, daß es meine Freude wäre, immer geradeaus zu gehen, ohne zu wissen wohin, ohne daß sich jemand darum kümmert, und immer neue Länder zu sehen. Ich fühle mich niemals wohl irgendwo, und ich glaube immer, daß es mir wo anders besser gehen würde, als dort wo ich bin“; er berichtet die Gespräche, die er belauschte, und die Sehnsucht: mit Jenen durch die Welt zu wandern. Ein Sonett der „Fleurs du mal“ (Nr. 13) zeichnet diese Wanderer, vor deren Intuition das Reich der schattenhaften Zukunft offenliegt. Und noch das Tagebuch spricht „von der wahren Größe der Paria“ („Mon cceur . ♦ ♦“, Nr. 61), setzt sich vor: „zu rühmen das Vagabundenleben und was man den Bohemianismus nennen kann“ („Mon coeur . . .“, Nr. 67), und denkt gelegentlich an eine „Studie über die schwere Krankheit des Abscheues vor dem Heim. Gründe der Krankheit. Fortschreitendes Wachstum der Krankheit“61.
Freilich ist Baudelaire selbst nicht viel gereist. Die ein* zige größere Fahrt trat er unfreiwillig an und benahm sich gar nicht als typischer Weltreisender, wie der Kapitän, dem er anvertraut war, in seinem langen Bericht an Baudelaires Vater ausführt (J. Crepet, „Ch.B.“, S. 221 ff.). Das ist ja auch nach unserer prinzipiellen Analyse völlig begreiflich: nicht der Wunsch nach neuen Erlebnissen, sondern der
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Schrecken vor der Gewöhnlichkeit des Daseins beseelt den Weltenbummler!
*
Andere, stärker im Wünschen und Handeln, durchirrten die weite Welt, ohne Ruhe zu finden* Rimbauds Schicksal ist zu bekannt, um noch besonders erwähnt zu werden.— Interessanter ist aber des Marquis de Custine62 Bericht über seine Reisen, auf den v* Oppeln * Bronikowski vor längerer Zeit hingewiesen hat („Güldenkammer“, August 1912) — eine Häufung von Sehnsucht, Friedlosigkeit und Rastlosigkeit, so kompliziert ineinander verschlungen, daß man an Stefan Georges Gedicht denken muß, das da endet mit dem Vers: „Ihr immer schweifend und drum nie er¬ füllt“ („Stern des Bundes“, S* 35).
Um die Eigenart der Reisebeschreibung Custines im Innersten zu verstehen und manche seiner Äußerungen nicht für bloße Affektiertheit zu nehmen, wird es gut sein, die Briefe zu analysieren, die er an Rahel Varnhagen von Ense schrieb63* In seiner Einleitung spricht sich Varnhagen selbst über den Marquis recht bezeichnend aus. Düstere, uner¬ klärliche Sonderbarkeit vereinigte sich bei ihm mit der fröh¬ lichsten, witzigsten Laune. Er liebte seine Mutter mit weicher Zärtlichkeit, und doch konnte er sich ihren Wün¬ schen mit heftiger Hartnäckigkeit entgegenstellen. In der Geselligkeit reifte er zum beispielhaften Dandy heran. Alles Gemeine lag ihm fern; man sah niemals etwas bei ihm, das auf Niedriges und Gemeines auch nur hingedeutet hätte. Aber doch müsse er Funken irgend¬ welcher heftigen Leidenschaften in sich geborgen haben, brennenden Ehrgeiz und düstere Wissenslust, die er im
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Gemüte streng zusammenhielt und nie sich öffentlich äußern ließ64.
Die wichtigsten der Briefe, die der Marquis an Rahel schrieb, stammen aus dem Jahre 1817, Mit erstaunlicher Offenheit analysiert er seine Seelenzustände vor einer Frau, die, von ihm wohl sehr verehrt, doch kein besonders starkes Interesse an ihm zu nehmen scheint, wenn auch hin und wieder in müt* terlich ermahnenden Briefen ein wärmerer Ton anklingt.
Die Seelenzustände aber, welche der Briefschreiber so ein* gehend vor Rahel ausbreitet, sind völlig dekadenter Art, „Ich bin nur gut dazu, mich durch die Gelegenheit zu etwas drängen zu lassen; ebenso kann ich nur leben ohne etwas zu tun, sprechen ohne etwas zu sagen und schreiben ohne etwas zu denken,“ — „Sobald ich in mich hinabsteige, finde ich nur Zweifel, Dunkelheit, Aufregung, Bedenklichkeit ♦ , .“
— „Ich habe innerlich an unverständlichen Übeln gelitten; ich kann niemals den Schmerz aussprechen, der mich seit meiner zartesten Kindheit verfolgt hat, denn nichts ähnelt der Unendlichkeit, Trotz des Gewichtes, das mich bedrückte, verehrte ich innigst das Leben“ („Lettres“, S, 208), — „Ich behaupte: es lebt in mir eine Kraft, die mich von der Äußern weit trennt und die mich aufhält, so oft ich mich in der Sphäre der Wirklichkeit öffnen möchte. Ich bin meiner Naturanlage nach unnatürlich. Das kommt von einer kalten Heftigkeit, die in mir steckt und die mein Schick* sal im Kleinen, wie im Großen gestaltet“ („Lettres“, S. 176).
— Und noch eine zweite Trennung durchzieht seine Seele selbst: „es gibt zwischen mir und mir irgendein Unüber* schreitbares, und dies Hindernis ist umso ermüdender, als man es nicht sieht“ („Lettres“, S. 156).
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Diese unruh volle, vom Trübsinn geplagte Seele versucht, dem Leben in der Engigkeit der Reflexion zu entgehen. Der Marquis verlobt sich. Aber bald fühlt er sich enttäuscht, und er löst seine Verlobung85. Ein zweiter Versuch glückt besser. Er heiratet. Aber nach einigen Jahren stirbt seine Frau und dann sein Kind.
Nun begibt er sich auf Reisen, die ihn durch die Schweiz, Italien, England und Schottland führen. In einem zwei* bändigen Werke („Memoires et voyages“) erzählt er seine Eindrücke und Reflexionen. Beide Bände sind völlig um gleichartig. Der erste Band, welcher seine Erlebnisse in der Schweiz und Italien enthält, ist der für unsere Charakteristik wichtige. Denn diese „Reisebeschreibung“ ist nur zum Teil mit objektiven Notizen oder Berichten angefüllt: mindestens ebenso umfangreich ist der Bericht über seine seelischen Stimmungen und Verstimmungen. Custine versetzt sich in seine Jugendzeit zurück — sei es nun, daß er wirklich die* selben Gefühlslagen neu und dringend erlebt, sei es, daß er Aufzeichnungen aus jener Frühzeit in seine späteren Er* lebnisse hineinarbeitet — und so durchfährt er die Schweiz und Italien in eben jenem Zustande innerlichen Schwankens, der aus jenen Briefen an Rahel von Ense fragmentarisch, aber für den Kenner deutlich hervorleuchtete.
Nicht als ob nun jede Zeile mehr oder minder versteckt oder offen von dem Erlebenden selbst spräche; viel, sehr viel der fremdländischen Wirklichkeit um ihn herum wird vor uns lebendig: Landschaften, Sonnenuntergänge, Karnevals* treiben, Menschlich* Allzumenschliches. Aber all diesem wohnt eine gewisse Hast inne, eine zitternde und fiebernde Erregtheit des Lebens: es glüht alles auf und leuchtet mit
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überraschender Kraft* Vielleicht kommt diese Art unserem Gefühl näher, wie das Gleichmaß Goethescher Objektivität, da man hier immerdar diese Reise als ein Glied des Da* seins dessen empfindet, der uns berichtet als ein Interessanter, niemals langweilig Werdender*
Die Grundstimmung, in der uns Custine entgegentritt, ist verdunkelnde Traurigkeit und Müdigkeit, durchzuckt von wenigen hellblitzenden ekstatischen Erregtheiten und Freuden. Das Motiv, das ihn bewußtermaßen zum Reisen drängt, ist der Wunsch: seiner Traurigkeit zu entfliehen („Memoires“ I, S. 201)* Aber diese Traurigkeit wurzelt zu tief in seinem Herzen, als daß die Mittel der Zerstreuung sich als heilend bewähren könnten* Immer wiederholt sich die Klage, die aus seinen Briefen uns bekannt ist. „Mit achtzehn Jahren fühle ich, daß alles in dieser Welt für mich zu Ende ist, und doch hindern mich heilige Pflichten, sie zu verlassen! Diese Reise, die ich so sehr ersehnte, bedeutet keineswegs das Glück; es war das einzige Vergnügen, an dem ich Ge* schmack zu finden glaubte, und nun erkenne ich seine Leere bei jedem Schritt * . ♦ Die Qualen meines Herzens sind ebenso unaussprechlich, wie unbegreiflich . * * Ich fühle in mir eine schmachvolle Schwäche, eine Traurigkeit, die umso erschreckender ist, als ich ihre wahre Ursache nicht erkennen kann“ („Memoires“ I, S* 25)* — „Es lebt in mir eine dunkle Macht, die mich ziellos peinigt“ (eb. 1, S. 159). — „ ich bin für den Schmerz geboren, und ich gefalle mir in dieser Stimmung. Wenn ich meine Blicke nach rückwärts richte, sehe ich meine lebhaftesten Freuden mit einer so unerklärlichen Unruhe vermischt, von so sonder* baren Gedanken, so dunklen Wünschen, so schwarzen
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Ahnungen durchkreuzt, daß ich nicht ohne Schrecken mein Schicksal befragen kann“ („Memoires“ I, S. 173)» — „Eine Unruhe, gegen die es kein Heilmittel gibt, dringt in den Grund meines Herzens ein; dieser grausame Feind belagert mich, er bemächtigt sich meiner Existenz, verwandelt sie und setzt sich sozusagen auf den Platz meiner Seele“ („Memoires“ I, S. 165),
Diese Traurigkeit treibt ihn fort und fort zum Versuche, ihr zu entfliehen ; und die Angst vor der Depression drängt ihn zu einer gleichsam positiven Einstellung seiner Seele: der Lust am Wechsel um des Wechsels willen* Das Kenm zeichnende nun wird: daß diese Lust keine originale ist, daß er ihr innerlich gar nicht beistimmt — er fürchtet sich, so schreibt er einmal, er habe keinen anderen Beruf, als neue Gegenden zu sehen und den Platz zu wechseln, ohne ein anderes Ziel als die Bewegung zu haben („Memoires“ I, S. 239). — Noch deutlicher verrät sich diese Reiselust als Zwang in mancherlei pessimistischen Bemerkungen über das Unbefriedigende des Reisens. Fast überall ist er schnell enttäuscht, die Menschen scheinen ihm von gleichförmiger Langeweile, die schönsten Orte gewähren ihm keinen Ge* nuß — nur die Überraschung kann ihn noch fesseln und entzücken („Memoires“ I, S. 161). — Seine Stimmungen wechseln mit einer Plötzlichkeit, die ihn selbst erschreckt. In der Schweiz ersehnt er Italien, aber bei dem Betreten seines Bodens schreibt er, rasch von Melancholie erfaßt ' („Memoires“ I, S. 115): „Was soll ich Ihnen sagen? Ich fürchte, mir selbst meine Ahnungen zu gestehen ... Ich weiß nicht, was mich in diesem Lande erwartet, aber ich fühle, daß mein Schicksal sich hier entscheidet. Ich werde
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hingezogen zu irgendeinem Guten, einem Übel, das mich erwartet» Die Augenblicke erscheinen mir wie Jahrhunderte! Eine unerklärliche Unruhe macht mich gleichgültig gegen alles, was ich sehe« Es scheint mir, daß ein Kampf in mir tobt; und wenn ich mich nach der Ursache dieses inneren Streites frage, so kann ich nicht antworten ♦ ♦ ♦ Aber ich fühle, ich habe es immer gefühlt, daß ich nur von Wider* Sprüchen lebe ♦ ♦ ♦ Italien zieht mich durch neue Reize an, und ich bebe davor: es zu betreten! Es gibt im Grunde meiner Seele irgendein unerklärliches Mysterium!“
Von Zacharias Werner, der vom Gefühl der „Angst“ ver* folgt ist („Memoires“ I, S» 224), muß er es sich sagen lassen: „Sie reisen! Glauben Sie mir doch, daß man bei der Fahrt durch die Welt nur dasjenige findet, was man im Grunde des eigenen Herzens hat“ („Memoires“ I, S«214)« Custine gibt die Wahrheit dieses Ausspruches zu und bestätigt ihn durch mannigfache eigene Reflexionen« „Für den Reisenden ist die Welt nur ein Scheingebilde, keine Wirk* lichkeit. Indem man verschiedene Völker betrachtet, wird man überall zum Fremdling: man verliert die häuslichen Tugenden, die Liebe zu den Pflichten des Staatsbürgers, und man gewöhnt sich daran, die Menschen wie einen Haufen von Marionetten zu betrachten, die dazu gut genug sind, eine Viertelstunde den Neugierigen zu amüsieren, der ihnen die Ehre antut, vor ihnen haltzumachen! Wieviel morali* sehe Gefühle werden das Opfer der Reise*Leidenschaft ! Der Reisende verzichtet auf das Ansehen, das man nur erwirbt, wenn man konsequent die Funktionen seines Standes aus* übt ♦ » ♦ Die Fehler und Lächerlichkeiten der Menschen sind immer sichtbarer wie ihre guten Eigenschaften, und wer die
12 v. Sydovv, Dekadenz 177
Länder nur auf der Durchfahrt sieht, gewinnt sicherlich eine ungünstige Meinung von ihren Bewohnern; er hat das Ge* fühl für sein Volk verloren, ohne durch die Liebe zur Mensch' heit entschädigt zu werden. Er gehört zu keinem Volke, seine Heimat ist immer bei den Anderen ; vergebens nimmt ihn sein Vaterland für sich in Anspruch, er hat es geopfert für Länder, die ihn nicht adoptieren, für Fremde, die ihm mißtrauen oder sich über ihn lustig machen !“ („Memoires“ I,
S, 332 1).
Solcher theoretischen Herabsetzung der intern ationalisth sehen „Hyper'Zivilisation“ tritt in gegensätzlichem Stoß die ebenso theoretisch bleibende Hochschätzung des „gutbürger' liehen Landmannes“ („Memoires“ I, S, 412) entgegen. Aber diese Sehnsucht wird durch seine Gharakteranlage zur Um fruchtbarkeit verdammt: „für eine erregte Seele, wie die meine, ist StilLSitzen eine Qual“ („Memoires“ I, S, 93), Und schließlich stellt sich die Maskierung der Dekadenz ein, indem er die Unruhe seiner Seele als Zeichen der Um Sterblichkeit wertend, dies Gefühl des Strebens nach dem Unendlichen für weit höher erklärt, als ein gemeines Be' hagen 66,
Der Widerspruch zwischen dem Streben zum Unend' liehen und dem Leben innerhalb der irdischen Welt wird also noch nicht überwunden, er bleibt erhalten ; und Custine formuliert ihn fast lyrisch enthusiastisch: „Der Gegensatz, welcher zwischen einer glühenden Seele und der Gleich' förmigkeit der Existenz besteht, macht mir das Leben um erträglich! Ich befinde mich auf der Erde, in der gleichen Lage, wie Reisende, welche die Windstille in fernen Meeren festhält: sie erblassen angesichts der reglosen Flut, und ihre
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Blicke erheben sich gen Himmel, um Stürme zu erflehen! Ich fühle mich von Schrecken erfaßt, wenn ich an die Tage denke, deren lange Reihe noch vor mir liegt* Die gleichen Leidenschaften mit ihrer unvermeidlichen Monotonie werden die gleichen Illusionen wiederbringen, um durch die gleichen Wirklichkeiten zerstört zu werden, bis zum Tage, der schreck* licher ist als die anderen, wann der Tod für immer den Schleier der Eitelkeiten zerreißt, der so perfide über die Augen der Sterblichen geworfen ist“ („Memoires“ I, S* 165)*
Wir könnten zum Schluß noch kurz auf die kürzlich zitierte Äußerung: dem Reisenden würden die Menschen zu marionettenhaften Erscheinungen, hinweisen, um so ein auto* biographisches Dokument vorzuzeigen, das uns berechtigt, den Marquis de Custine in die Kategorie der „Welten* bummler“ einzureihen* Man denke zurück an frühere Ausführungen über die Abschwächung des Realitätsgefühls, um die Übereinstimmung beider Erlebnisgruppen zu be* merken: beiden erscheint die Welt als eine Unwirklichkeit, beiden entquillt der Weltschmerz und schließlich der Trüb* sinn67*
*
Das Spiegelbild dieses gentlemanhaften „Welten*Bumm* lers“ ist in den niederen Volksschichten der arbeitsscheue Vagabund, der Landstreicher* Beide ergänzen sich für die erkennerische Betrachtung in wünschenswertesterWeise* Denn wenn jener in seinen Selbstbetrachtungen die gefühls* mäßige Stimmung vortrefflich klar und genetisch folgerichtig analysiert, so haben wir andererseits in den Landstreichern ein weit mehr ausgebreitetes Material vor uns, das in indivi* dueller und familiärer Rücksicht einen viel tieferen Einblick
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in die Zusammenhänge des Vagabundierens mit Krankheit in seelischer und körperlicher Hinsicht liefert*
Die vielfachen Beziehungen zwischen Landstreichertum und psychopathischer Veranlagung sind neuerdings in großem Umfange aufgedeckt worden68. Ein Drittel aller Vaga* bunden ist geistig defekt und trägt die sozialen Merkmale des Niedergangs: Abstammung aus belasteten Familien, körperliche Entartung, schlechte Angewohnheiten schon in der Schule, Feigheit, Arbeitsscheu, krassen Egoismus, ge* ringen Geschlechtstrieb, geistige Indolenz. Das Hauptmotiv ist in den meisten Fällen die unüberwindliche Arbeits* scheu, begründet in geistiger Mangelhaftigkeit, besonders des Willens.
Wiewohl eine scharfe Grenze zwischen Vagabunden und Verbrechern besteht — jener wird von diesem verachtet, wie immer der Dekadente vom Dämonischen — so gehen doch beide in ihren gefährlichsten Formen auf eine gerneim same Wurzel zurück (Herz, „Rückfälliges Verbrechertum in Österreich“ in H. Groß' Archiv, 26. Bd.); in der Tat ent' springen Dekadenz und Dämonik derselben Tendenz des Negativen.
Verarmu ng
Die positive Auffassung des Eigentums verlangt die Im dividualisierung der Privat'Eigentümer in der kapitalistischen Gewohnheit; die absolutistische fordert die Gemeinsamkeit der Dinge im Kommunismus. Das Negative opponiert gegen die Eigentumsordnung durch das bewußte Unrecht, den aktiven Angriff gegen die Eigentumsverhältnisse über' haupt — und zweitens durch die Nonchalance in der Ver^
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mögensverwaltung, eine Nachlässigkeit, die zur Verminde' rung des Vermögensbestandes führt* Diese letzte Form ist die, welche uns interessiert*
Der Mangel an Sorgfalt in der Vermögensver' waltung ist eine spezifisch romantische Eigenart* Man gibt auf sein Vermögen keine Acht* Man macht sich ein gutes Gewissen, indem man alle finanziellen Erwägungen als völlig belanglos, eines anständigen Menschen unwürdig him stellt* Und man hat nicht völlig unrecht hierin, weil in der Tat diese ganze Sphäre ein sittlich niedriges Gebiet ist, dem man nicht allzuviel Aufmerksamkeit widmen sollte, oder nur soviel, als zur Bewahrung des Lebens unumgänglich notwendig ist* Aber immerhin: es ist keineswegs so kuF turell bedeutungslos, wie die romantische Stimmung es gern behauptet.
Die Folgen dieser Mißachtung bleiben nicht aus: die Ver* armung ist die Konsequenz* Zwischen den Bohemiens wird das Eigentum zu einer Art Fiktion* Die Pumpwirtschaft herrscht* Bald dieser, bald jener hat Geld — dann muß er die Last der Existenz der Anderen tragen* Die feste AK grenzung fehlt* Man möchte sie Bettler mit zufälligem Eigen' tum nennen. Eine materiell gesicherte Lebensweise wird zur Unmöglichkeit. Wie gewonnen, so zerronnen! Die AK machungen mit Redaktionen, Verlägen usw* werden nicht eingehalten; Mißverständnisse und Enttäuschungen sind die Folge, und damit der Mangel an Erwerbsgelegenheiten*
In der Tat tritt in allen Romanen, die irgendein Herunter' kommen einer Familie oder eines Menschen darstellen, die Verarmung als ein beliebtes Einzelmoment des ganzen De' kadenz 'Vorgangs auf. Und in der Wirklichkeit ist es gerade
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ebenso* Die Verminderung der wirtschaftlichen LeistungS' fähigkeit ist regelmäßig verknüpft mit den sonst als Deka' denz'Kennzeichen genannten Phänomenen, Die Folgen dieser Schwächung zeigen sich auf allen anderen Lebensgebieten, Vor allem natürlich auf sozialem Gebiet, Da seine Struktur den Willen zur Macht am reinsten ausgeprägt zeigt, so zieht die Verminderung des Besitzes die Verminderung des sozialen Ansehens mit automatischer Sicherheit und (meist) Gleich' zeitigkeit nach sich. Wer nicht so viel Geld hat wie die' jenigen, in deren Kreisen er aufwuchs, scheidet damit aus ihrer Gesellschaft aus. Der „arme Verwandte“ ist kein gern gesehener Gast, Und das mit Recht: denn alle Versteifung der Betreffenden darauf, daß sie eben mit den Reicheren verwandt seien, zieht zur Begründung der Folgerung: also müssen sie mich gleich hoch schätzen wie früher, als ich noch mehr Geld hatte, bloß zoologische Momente heran, nämlich das Geborensein von dieser oder jener. Aber zook> gische Momente haben keine unmittelbare Kulturbedeutung. Nicht deshalb wird der Verwandte in patrizischen Kreisen geschätzt, weil er von einem Patrizier gezeugt und von einer Patrizierin geboren ist, sondern deshalb: er kann mithelfen, die Macht des Patriziates aufrecht zu erhalten! Kann er dies nicht, weil er keine finanzielle oder finanziell verwert' bare Kraft besitzt, so geht er seine Verwandten naturgemäß oder vielmehr moralgemäß nichts mehr an, zum mindesten erlahmt das Interesse ganz erheblich und erlischt in der näch' sten oder übernächsten Generation.
Diese gesellschaftliche Deklassierung hat weitere Folgen: Verbitterung, Schmerzlichkeit, Empörung — die ganze Fülle der negativen Gefühle stellt sich ein. Das Ressentiment'
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gefühl mag sich bemerkbar machen: heruntergekommene Adlige halten Volksreden wider die „ Anmaßung der Junker“, erwerbsunfähige Literaten wettern gegen das „feiste Bürger^ tum“, abgegangene Diplomaten regen sich über die „Um fähigkeit der äußeren Politik“ auf.
Ganz anders wird die Bewertung, sobald wir die Armut im Zusammenhänge der kulturellen Lebendigkeit betrachten. Buddha wie Christus waren ja Bettler, und R. M. Rilke versichert: „Armut ist ein großer Glanz aus Innen“69. Die so oft bemerkte und gegeißelte Banausenhaftigkeit der bloß mit Gelderwerb und Eigentumssorge Beschäftigten beweist allerdings zur Genüge, daß geistig Hochstehende solcher minderwertigen Lebenstätigkeit überhoben sein müssen, um auf ihren Gebieten ihr Werk zu vollbringen, daß sie also in materieller Sorglosigkeit leben sollten — sei es nun die Um bekümmertheit des Armen oder die der vermögenden Erben. Nichts bedeutet für die Lebendigkeit der Kultur eine größere und wahrhaft verabscheuungswürdigere Gefahr, als das moderne Streben nach Arbeits* und Erwerbs 'Zwang (im sozialen Leben), vereint mit dem Sozialismus: Sozialismus ohne Arbeitszwang ist vielleicht unschädlich, aber beide zm sammen sind das Attentat auf die Freiheit des Lebens!
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Nun ist die Konstitution des Dekadenten freilich nicht so einfach, daß er seine Verarmung entweder als ein schlimmes oder zum Guten wendbares Geschick ertrüge, sondern es verbindet sich zugleich mit der Unfähigkeit zur finanziellen Mühewaltung die extreme Hoffnung auf den Erwerb von immensen Reichtümern und der Versuch, sie möglichst rasch zu erlangen. So wird der Dekadente zum waghalsigen
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Spekulanten; und zwar zu einem Spekulanten ohne Kenntnis und Verständnis, daher auch ohne Erfolg. Meist sind es die sonderbarsten Projektenmacher, denen er zur Beute wird — Leute, die das Perpetuum mobile erfinden und dgl. Regelmäßig handelt es sich um Unternehmungen, für die er auch nicht die geringste Sachkunde hat — während der wirklich begabte Spekulant von seinen Dingen sehr viel versteht; so gründen Literaten Muster-Farmen, Maler be¬ teiligen sich am Kolonialhandel, Philosophen interessieren sich für technische Erfindungen. Der Erfolg bleibt natürlich aus, und das Verhängnis geht seinen Gang weiter.
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DRITTES KAPITEL
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DIE DARSTELLUNG DER DEKADENZ IN DER KUNST
Allgemeine ästhetische Reflexionen
Die Kunst ist die Vorbereitung der metaphysischen Geistigkeit Diese Auffassung scheint einer rein formalen Ästhetik entgegenzustehen» Und in der Tat ist es richtig, daß die konsequente Folgerung aus jener Systematik dahin drängt: die letzte Deutung der Kunstformen der letzten, weil höchsten Kulturstufe zu entnehmen und von der künstlerischen Gestaltung den Rückschluß auf die meta^ physische Sphäre zu wagen, so daß die Beurteilung, wie der Schaffensprozeß, aus dieser Problemlage her erfolgt. Gleichwohl ist gerade unsere Auffassung die Grundlage zu einer Einstellung der ästhetischen Untersuchung, die vieb mehr erst die Voraussetzung für eine formale Analyse her* gibt, so daß die ästhetische Kritik nicht den Boden der Kunst aufzugeben braucht, um sie beurteilen zu können. Da das Kunstwerk ein noch nicht zur völligen Reife ge^ langtes metaphysisches Ideal ist, weist es zwar auf ein solches hin, besitzt aber doch seine eigene Sphäre und da* mit seine eigene Gesetzlichkeit. Zwar enthält jedes Kunst' werk also einen metaphysischen Sinn, aber man wird jenem nicht dadurch gerecht, daß man diesen formuliert, sondern dadurch, daß man das Kunstwerk kraft des eigenen künstlerischen Vermögens rezeptiv auffaßt und es in seiner Eigenart erlebt. Es ist sicherlich ganz interessant, den meta*
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physischen Gehalt eines Kunstwerkes auszusagen, aber man kommt ihm damit ebensowenig nahe oder näher, wie durch die vielfach übliche Interpretationsmethode dem Bauwerk, wenn man es durch Vergleiche aus der Musik verständlich machen will und von der Harmonie oder der Rhythmik der Architekturen spricht* Man hat damit insofern nicht unrecht, als die Architektur die Vorgängerin der Musik im System der formierenden Künste ist, aber es wäre doch angebrachter: die Architektur vom rein architektonischen Standpunkte aus zu würdigen* Es soll damit der meta- physischen Interpretation ihr Recht nicht völlig bestritten sein, nur soll sie künstlerisch-kritisch fruchtbar gemacht werden*
Es kann auch nicht geleugnet werden, daß gefühlsmäßig- metaphysische Motive den Künstler zu einem Kunstwerk drängen, wie schon zur bewußten Problemstellung dessen, was er künstlerisch darstellen will. Gewiß gibt es Artisten, bei denen sich jedes Gefühl sogleich umsetzt in Rhythmen, Versmodulationen, Linienführung usw* Aber nicht alle Produktiven sind von solchem puren Handwerks-Geist erfüllt; es gibt doch Menschen unter ihnen, die außer und über ihrer Werkstatt Anderes kennen* Als Charles Bau¬ delaire in seinen intimen Aufzeichnungen sein Ideal der Schönheit reflektierend analysiert, sind es hauptsächlich metaphysisch-psychologische Momente, die er betont: „Ich habe die Definition des Schönen, meines Schönen gefunden. Es liegt in ihm irgendein Feuer und eine Traurigkeit, eine Unbestimmtheit, die der Vermutung Raum läßt* Ich werde, wenn man will, meine Gedanken an einem sichtbaren Ob¬ jekt verdeutlichen, z. B. am interessantesten Objekt der Ge-
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Seilschaft, an dem Antlitz des Weibes, Ein verführerischer und schöner Kopf — ich will sagen: ein Frauenkopf ist ein Haupt, das träumen läßt, aber auf unbestimmte Weise, von Wollust und Traurigkeit; es führt mit sich eine Idee von Melancholie, Mattigkeit, selbst Sattheit — oder eine entgegengesetzte Idee, d, h. eine Glut, einen Trieb zu leben, zusammen mit einer rückwärts*strömenden Bitterkeit, wie aus Entbehrung oder Verzweiflung entspringend. Das Mysterium, das Bedauern sind ebenso charakteristische Elemente des Schönen, — Ein schöner Männerkopf braucht — vielleicht ausgenommen für Frauenaugen — diese Idee der Wollust nicht mit sich zu führen , ♦ ♦ Aber dieses Haupt wird ebenso irgendein Feuer und eine Traurigkeit enthalten, geistige Nöte, dunkel zurückgedrängte Ambitionen, die Idee einer grollenden und beschäftigungslosen Macht, manchmal die Idee einer rächerischen Gefühllosigkeit , , ,, manchmal auch — und hierin liegt eines der interessantesten Kenn* Zeichen der Schönheit — das Mysterium, und endlich (da* mit ich den Mut habe zu gestehen, wie modern ich in Dingen der Ästhetik bin) das Unglück, — Ich behaupte nicht, daß die Freude nicht mit der Schönheit zusammen* gehen könne, aber ich sage, daß die Freude eines der ge* wohnlichsten Schmuckstücke ist, während die Melancholie sozusagen der vornehme Gefährte ist, so daß ich kaum (ist mein Gehirn ein verzauberter Spiegel?) einen Typus der Schönheit mir vorstellen kann, in welchem kein Unglück enthalten ist. Gestützt auf diese Ideen — (andere würden sagen: von ihnen besessen) — begreift man, daß ich schwer* lieh einen anderen Schluß ziehen könnte, als diesen: daß der vollkommenste Typus der männlichen Schönheit der
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des Satan ist, wie ihn Milton sah,“ („Fusees“, Nr» 16; vgl. Nr. 17.)
Für die formale Ästhetik ist aus dieser auf das rein See* lische tendierenden Skizze — denn Unglück, Verzweiflung, Mysterium, Traurigkeit sind ja alle Kategorien des Ge¬ fühles — höchstens jene Wendung brauchbar: „eine Unbe¬ stimmtheit, die der Vermutung Raum läßt.“ Das bedeutet: eine Umschreibung, die nicht radikal umzirkelt, eine Form, die nicht völlig in sich geschlossen ist.
Allerdings widerspricht nun diese Theoretik seiner son¬ stigen Forderung (W. W. II, S. 103, II, S. 329, VI, S. 17), daß sämtliche Teile des Kunstwerks in wohlüberlegter und deutlicher Bedingtheit zueinander stehen sollen, und sie widerstreitet auch seiner dichterischen Praxis, die überall nach willenssicherer Verfestigung der Teile der Kunstform strebt. Aber von einem Künstler soll man eine scharf prä¬ zisierende Ästhetik nicht erwarten! Und es darf uns des¬ halb nicht rätselhaft erscheinen, daß dieser Vorläufer der Parnassiens ab und zu ganz romantische Ideen vertrat, die unparnassische Malerei Delacroix' propagierte und im übrigen seine eigene Kunst durch diese Zwiespältigkeit so frappierend anziehend machte: daß ein peinigend-sonder- barer und ungewohnter Stoff in die streng geregelten Vers¬ maße des Sonettes gefaßt wird. Es liegt wohl in seiner historischen Stellung begründet, daß er meist in seinen ästhetisch-kritischen Schriften zu einem Kompromiß ge¬ drängt wurde: „Das Schöne ist immer bizarr. Ich will nicht sagen, daß es in kühler Absichtlichkeit verzerrt werde, denn in diesem Falle wäre es ein Monstrum . ♦ ♦ Ich meine, daß es immer ein wenig Bizarrerie enthält, naive,
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ungewollte, unbewußte Bizarrheit, und daß es diese Bizarr« heit ist, die es gerade zum Schönen macht“ (W. W. II, S. 216.) — „Was nicht ein wenig deformiert ist, scheint gefühllos; Unregelmäßigkeit, d. h. das Unerwartete, das Überraschende, das Erstaunenerweckende, ist ein wesent« licher und kennzeichnender Teil der Schönheit“70.
Recht glücklich leitet die Baudeiairesche Forderung der „leichten Deformierung“ auf das Wesentliche hin: auf die Tendenz der negativen Kunstrichtung. Deformierung, — d. h. es wird eine Gestaltung vorausgesetzt, die alsdann irgend wie aus ihrer Bestimmtheit ins Anders« Artige hinaus« gerissen wird, dadurch irgend eine Abweichung, irgend eine Ungewöhnlichkeit gewinnt, eine Krankhaftigkeit und Schmerzlichkeit. Alle diese Momente setzen eine Festigkeit voraus, die gelockert wird, eine Minderung der Kräftigkeit, die wir mit dem Ausdruck Gesundheit meinen und zu« sammenfassen. In der Tat brauchen wir nur einen Blick auf die berühmtesten Gestalten der Hochrenaissance zu werfen, um zu sehen, wie hier alle absichtliche Sorgfalt auf gesunde, kräftige Selbstsicherheit abzielt. Was hierbei nur überraschen könnte, ist die Einheitlichkeit und Gehäuft« heit der positiven Lebenselemente, die der Durchschnitts« mensch freilich nicht aufzuweisen hat, eine in sich konzen« trierte kraftvolle Gelassenheit, die dieser nur fragmentarisch und geschwächt beweist.
Und wie die Einzelgestalt der Klassik in der dekadenten Kunst deformiert wird, so geschieht das Gleiche auch der künstlerischen Konstruktion, die mehrere Gestalten im Kunstwerk zusammenfügt. Auch hier wird das künstle« rische Leben entstellt. Nicht nur in der Art, daß das Werk
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zur Ruine, zum formlosen Schutthaufen verwandelt würde — sondern auch so: daß diese Deformierung einen be* stimmten Sinn erhält und eine bestimmte Aufgabe* Dieser Sinn liegt in der Absicht, das Negative des Lebens künst* lerisch zu fassen und darzustellen* Alle jene Mißbildungen sind gleichsam Säugpumpen, mit denen man das Endlose einsaugen möchte* Baudelaire hat, freilich um die Kunst eines Dämonischen zu charakterisieren, doch den Gefühls* gehalt der dekadenten Kunst recht gut beschrieben: „Im Schoße dieser Literatur, wo die Luft verdünnt ist, kann der Geist eine unbestimmte Angst empfinden, eine zum Weinen bereite Furcht und ein Unbehagen des Herzens, welche in unermeßlich weiten und sonderbaren Ländern wohnen*“ (W* W* V, S* 30*)
Die dekadente Kunst will eine Wirklichkeit ergreifen, die nicht mehr in der Reichweite menschlicher Hände liegt, eine Wirklichkeit, die bei der Berührung selbst zerfließt und sich zerstreut. Sie treibt die Sehnsucht nach Rhythmen, Farben und Worten, deren Sinn über das Gegebene hin* ausweisen soll, um den Blick in die Endlosigkeit zu öffnen* Rimbaud sagt an einer Stelle: „Was man nicht weiß, ist vielleicht entsetzlich.“ („Oeuvres“, S.343, im „Forgeron“*) Es liegt ein engster Zusammenhang vor zwischen dem, was man wissen, und dem, was man sagen kann* So kann man jenen Satz auch dahin abändern: was man nicht sagt, ist vielleicht entsetzlich! Oder anders formuliert: was man sagt, ist nicht das, was man meint — was man sagt, wird nur gesprochen, um auf anderes, Unausgesprochenes, Un* aussprechliches hinzudeuten. Man darf hier nicht von Symbolismus reden* Denn damit erfaßte man nur einen
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Teil dieses Phänomens der dekadenten Poesie. Es bleibt in dem, was man landläufig Symbolismus nennt, bei aller Stellvertretung ein Etwas vorhanden, das zwar worthaft nicht darstellbar, aber doch eben vorhanden ist und gern ausgesprochen werden möchte; es steht dies Etwas hinter dem Symbol als das positiv Gemeinte. Das Symbol, das im dekadenten Gedichte wortkünstlerisch geformt wird, meint nicht jenes selbe Letzte: Unbegreifbar^Höchste, som dern das Unbeschreibbar' Chaotische, das Negative, das als Bleigewicht am Kulturell- Positiven hängt, als Stachel ins Wesentliche sticht.
Es ist nicht nötig, und auch nicht möglich vielleicht, daß alle Menschen diesen Sachverhalt erleben können. Man mag einen Versuch machen mit diesem oder jenem, indem man ihn den Dialog zwischen der Chimäre und der Sphinx aus Flauberts „Versuchung des hl. Antonius“ lesen läßt — jenes Zwiegespräch, aus welchem dieser Satz den Mittelpunkt bildet: „Je cherche des parfums nouveaux, des fleurs plus larges, des plaisirs ineprouves.“ Wer diesen Dialog liest und nicht im tiefsten erschüttert wird, hat eben für solche Kunst kein Organ, keine Erlebensmög' lichkeit. Denn jene Worte beklagen in Wirklichkeit die Unmöglichkeit der Erfüllung ihrer Sehnsüchte: das Land zu erreichen, wo das Dasein keine Last und Unerträglich' keit ist, wo die Lust unendlich und der Duft unendlich ist, aber ebensosehr auch und überwiegend vielmehr das Land des ewigen Wechsels und der weiten Grenzenlosigkeit. — Huysmans schildert den Eindruck dieses Dialogs auf den typischen Dekadenten, des Esseintes: „Gewiegt von der wundervollen Prosa Flauberts, hörte er schwer atmend
13 v. Sydow, Dekadenz
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das schreckliche Zwiegespräch, und Schauer überrieselten ihn vom Nacken bis zu den Füßen, als die Chimäre den feierlichen und zauberhaften Satz sprach ♦ . ♦ Ach! er war es, zu dem diese Stimme, so geheimnisvoll und wie eine Beschwörung klingend, sprach; er war es, dem sie ihr fieberhaftes Verlangen nach dem Unbekannten erzählte, ihr unerfülltes Ideal, ihr Bedürfnis: der schrecklichen Rea* lität zu entfliehen, die Grenzen des Gedankens zu über' schreiten, herum zu tappen, ohne jemals zu einer Gewiß' heit zu gelangen, in den Nebeln dessen, was jenseits der Kunst liegt Das ganze Mißgeschick seiner eigenen An' strengungen strömte ihm in sein Herz zurück.“ („A Re' bours“, IX. Kap.; vgl. den Zusatz „A Rebours“.)
Im Übergange aus dieser Welt der Gewißheit und Ord' nung in jenen Bereich der Überraschung und Seltsamkeit und des Andersseins, in der Grenzscheide eben beider Reiche soll das Kunstwerk stehen, vielmehr es soll nichts anderes sein als das reichverzierte Fenster, aus welchem man in die negative Endlosigkeit blickt, nicht mehr als ein mächtiges Tor, das den Weg zu jenem Reiche verschließt und öffnet. Es gilt einen Strahl zu fangen jenes Lichtes, das jenseits unserer Sonnenlicht 'Welt sprühen mag. So öffnet sich das Kunstwerk dem Endlosen. Es hat etwas Fragmentarisches an sich, ist das fragmentarisch Gewor' dene oder Werdende.
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Die dekadente Kunstrichtung und Ästhetik ist keines' wegs identisch mit dem, was wir im allgemeinen unter Impressionismus verstehen. Denn der Impressionist er' greift in seinem Kunstwerk die naturhafte Wirklichkeit, die momentan vorübereilt und nicht Halt macht. Er faßt
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also das positiv Bestehende, im Gegenwärtigen Lebende, das Fließende, Dahingleitende; der Aspekt der Ewigkeit mangelt ihm* — Von ihm aus spannt sich dann die Vision zu der „idealistischen Kunst“ hin — einer Kunst, die das Allgemeine der Wirklichkeit zu ergreifen strebt. Beiden ist gemeinsam das Gefühl der Befriedigung, das sich im Er¬ leben des idealistischen Kunstwerkes zur höchsten Freude steigern kann.
Die dekadente Kunst richtet ihren negierenden Protest gegen beide Pole der Kunst. Sie stellt das Negative der Wirklichkeit sowohl im Impressionismus, wie im Idealis¬ mus der Konzentration des Werkes entgegen. Sie zeigt den negativen Aspekt des Lebens — sei es nun mit Bezug auf eine bestimmte Individualität, sei es in Hinblick auf das Typisch-Menschliche. Beide Kunstgruppen also: Impres¬ sionismus, wie Idealismus — enthalten die Möglichkeit negativer Ausbildung.
Aber jene bisher betonte Richtung der dekadenten Kunst auf das Negative findet ihren Gegensatz im Streben zur reinsten Absolutheit. Diese stellt sich in der straffsten or¬ ganisatorischen Ausgestaltung des Werkes dar — einer Ausgestaltung, welche dem künstlerischen Dinge die Ge¬ schlossenheit des Ich verleiht. Sie ist es, auf welche Bau- delaires Forderung der wohldurchdachten Zuordnung aller Teile des Werkes zueinander hin weist. Aus ihr entspringt jene rastlose Arbeit an der formalen Ausgeglichenheit, die Flaubert in seine Arbeiten zu legen pflegte. Als logische, auf das Gleichartige bedachte Konsequenz würden wir darum erwarten: innerhalb solcher Werke von ästhetisch festester Struktur zugleich eine Lebendigkeit zu finden, wie
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sie etwa Maurice de Guerins Wunderschönheiten ent-' strahlt. Wir möchten eine Geistigkeit voll Hoheit, Ge* messenheit und Allmacht erkennen. Aber eben dieser Wunsch geht nur ganz selten in Erfüllung. Fast regelmäßig sind es die negativen Lebensaspekte, deren klagender Be* rieht die dekadenten Werke erfüllt. So widerspricht die absolut bejahende Form dem verneinenden Inhalte.
Dekadentes Kunstgewerbe
Der Sinn des Kunstgewerbes ist die Gestaltung der Kleidung des menschlichen Körpers und der handgreiflichen Gebrauchsgegenstände nach künstlerischen Gesichtspunkten.
Seine Dekadenz liegt in einem eigentümlichen Kompn>
miß zwischen Unansehnlichkeit und Eleganz. Gewöhnlich:
äußere Anständigkeit und schmutzige Unterkleidung: so in
Reinkultur, wenn man so sagen darf, bei der puella publica.
Daneben bei „Künstlern“ minderer Art recht häufig. In
der einen Seite dieser Komplikation: der Minderwertigkeit,
findet sich ein Einklang zwischen Trauerkleidung71 und
Verkommenheit <2. Bei dieser sehen wir schlechtsitzende
Röcke, abgerissene Knöpfe, durchgescheuerte Ärmel. Bei
der Trauerkleidung haben wir ganz ähnliche Merkmale zu
nennen, wenn wir an die Sitte früherer oder zum Teil noch
zeitgenössischer Kulturen denken. Als Europäer sind wir
gewohnt, uns in Schwarz zu kleiden, um unsere dem
spielerischen Leben abgewandte Gesinnung zu symbolh
sieren. Was ist die schwarze Farbe aber anderes, als sozu^
sagen die Stilisierung der Beschmutztheit? Weiter gingen ••
die Ägypter, wenn sie sich das Gesicht mit Kot bestrichen, sich in der Asche wälzten, oder andere Völker, die ihr
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Gewand einrissen. Priamus wälzte sich zum Zeichen der Trauer um Hektor auf einem Düngerhaufen, Oft auch kleidete man sich in Sackleinwand.
Mit dieser nun aus anderen Gründen als Leidtragung
angenommenen Minderwertigkeit der Toiletten verbindet
der Dekadente die Sehnsucht zur höchsten Eleganz. Schöne
Schlipse oder Lackstiefel! Es ist dabei — und eben dies ist
charakteristisch! — nicht notwendig, daß diese Eleganz sich
auf alle Kleidungsstücke bezieht; eines oder das andere
wird nur in diesem Stande erhalten, die anderen mögen
ruhig sonderbar heruntergekommen mit jenen kontrastieren.
••
So schwankt das Außere des Dekadenten zwischen Dandy und Bettler. Auch wenn er noch so elegant sich darstellt, ohne sichtbare Zerrissenheit oder Abgeschabtheit also, hat man doch an seinem Anblick keine reine Freude. Irgend eine Extravaganz, die irgend wie unangebracht ist, chokiert die feinere Empfindung.
Das Absolute bleibt eben fast ausschließlich ersehnt, aber nicht errungen. Aber es ist ganz logisch, wenn wir hören, daß Baudelaire eine bizarre Eleganz der Toiletten der Frauen liebte, deren kapriziöser Reichtum und heraus* fordernde Phantastik an Schauspielerisches und Kurtisanen* haftes denken ließ 73, starke, lebensvolle Farbigkeiten also, die in schärfstem Kontraste standen zu dem schwarzen Rock, in welchem er in unserer Erinnerung fortlebt: das Leben an der Seite der Todes "Traurigkeit!
Wie die Kleidung, so der Habitus der Möbel und son* stigen Gebrauchsgegenstände : eine Vereinigung von Minder* Wertigkeit mit eleganten Stücken. Häufig eine Vorliebe für die verschossene Eleganz früherer Generationen*
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Dekadente Architektur
Das Wesen der Architektur liegt, insofern sie freie Kunst ist, in der Gestaltung des Innenraumes zur Einheit, in die doch das äußere Leben durch Tür und Fenster hereinflutet* Man hat sich, wie gesagt, davor zu hüten: daß man In> pressionismus mit Dekadenz verwechselt* Würde beides identifiziert, so hätten wir die Architektonik des Rokoko, deren meisterhafte Beschreibung Schmarsow in seinem Buche „Barock und Rokoko“ (1897) gab, zu analysieren* Da wir aber beides trennen, so haben wir nach anderen Phänomenen innerhalb der Baukunst zu suchen* Diese treten vor uns hin als Grabmäler und Ruinen, jene als die eigentliche Ausdrucksform der dekadenten Gefühlsweise, diese als ihre unfreiwillige Wirklichkeit.
Der Reiz des Ruinenhaften ist schon zu oft analysiert worden, als daß es nötig wäre, alle Motive ausführlich zu betrachten, die zum Kultus zerfallener Burgen und Tempel und Wohnhäuser treiben können. Bald dieses, bald jenes Motiv spielt seine überwiegende Rolle, je nach der Ver* anlagung des Genießenden: der rein historische Reiz aus der handgreiflichen Berührung interessanter geschichtlicher Bauten entspringend — die freudige Genugtuung, die in der Vergleichung des niedergetretenen Ehemals mit dem triumphierenden Jetzt wurzelt — ein gewisses moralisches Gefühl der Gemeinschaft mit den „Ahnen“ (seien es auch fremde Familien, durch deren vorgestellte Gefühle auch der Fremde hindurchgleitet), ein verschwommenes Gefühl des vielfältigen Lebens, das mit diesen Überresten während ihres geschichtlichen Lebens verknüpft war — endlich jenes
ästhetische Gefühl, das die Ruinen als impressionistische Architekturformen erlebt Aber neben diesen Motiven lebt doch noch ein anderes, das uns wohl am nächsten rückt in jenen romantischen Gedichten, die von Rittern zu erzählen wissen, die in zerfallenen Burgen hausen, von Gespenstern, die in den Ruinen umgehen, von dämonischen Geistern, die das Verfallen der Häuser herbeiführen zugleich mit dem sitt liehen Verfall der Bewohner und als Strafe hierfür»
Es scheint mir in der Tat ein starkes Wohlgefühl den Menschen zu durchdringen, sobald er die Idee der Ver* gänglichkeit sozusagen in architektonischer Veranschau' lichung vor sich sieht» Es ist nur ein untergeordneter Fall jener Freude am eigenen Schmerz, von der wir oben ge* sprachen haben» Ein Gefühl, das sich nicht ganz so stark gebärdet, wie das Gefühl inmitten einer unheimlichen Dunkelheit, aber doch ihm wesensgleich» Mehr abstrakt tritt es auf, wenn man so sagen will, indem es das Gefäß der Unheimlichkeit und des Abgrundhaften zwar nicht weiter entfernt, eher näher rückt und konzentriert, aber es dafür in eine Gestalt bannt, durch die es unschädlich, wenigstens inoffensiv gemacht wird» Der Abgrund wird von uns durch sein Werk und Tun getrennt, distanziert und zu stillstehender Objektivität herabgesetzt, an der wir unsere Überlegenheit dieses Zeitpunktes spüren, ohne doch uns als gänzlich dem Negativen übermächtig zu wissen» Noch sind wir Lebende, aber uns und unseren Werken droht dies Schicksal des Niedergehens, das wir in jenen Ruinen dokumentiert sehen»
Aus dieser zwiespältigen Einstellung unserer Gefühle: dem Beharren im Leben und der Nähe des Sterbens, entspringt
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jene verschiedene Stimmungslage, in der wir innerhalb und außerhalb der zerfallenen Dinge leben. Der Anblick der Trümmerhaufen und der zerbröckelnden Wände läßt in uns noch viel von unmittelbarer Lebenssicherheit glänzen. Wir fühlen uns noch so ziemlich unangefochten. Noch sind es die wissenschaftlichen und reimästhetischen und lebensfreudigen Momente, die uns mit ihrem positiven Wert erfüllen. Man geht um die Ruinen herum und ist interessiert, erfreut und in seinem Lebensgefühl erhöht. — Erst wenn wir die Trümmer besteigen, die morschen Gänge entlang gehen, die unsicheren Treppen erklimmen — erst dann ergreift uns ganz eigentlich jenes Gefühl der Lebenszwiespältigkeit, von dem die Rede ist. Denn nun fühlen wir uns inmitten der Wirksamkeit des Lebens ver* nichters, umfangen von dem, was seinen unerbittlichen Griff schon längst gespürt hat, umgrenzt von den düsteren Kennzeichen der Negation. Aber noch wölbt sich der Himmel über uns und deutet auf die Lebenskraft hin, zu deren ungehemmten Genuß uns nur ein paar Schritte außerhalb der Ruine führen können. Diese Doppeltheit zwischen Tödlichem und Lebendigem ist der dekadente meta* physisch'ästhetische Reiz der Ruinen — ein Reiz und ein
Erlebnis, dem Heben und Senken unserer Augen anheim*
%
gegeben.
*
Das Eigentümliche der architektonischen Grabbauten liegt wohl in der strengen Abgeschlossenheit gegenüber der Außenwelt. Bei den gewöhnlichen Architekturen vermitteln Tür und Fenster mit der Umwelt, durch die das Leben in das Innere der Bauten eindringt als Licht und Luft. Solche
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Helligkeit und Luftigkeit wird als unpassend empfunden, sobald es gilt: den Toten ein Haus zu bauen* Hier streben wir nach Abschluß und Ruhe, nach Dunkelheit und Dumpfig' keit* Der Melancholiker liebt ja über alles die Ruhe in dunkelndem Licht* Hier bei den Gestorbenen ist es die Steigerung der Todessehnsüchte der Traurigen, die uns er' füllen; die Wohnung des Toten ist die Behausung des Trauernden, nur in dem Stimmungsgehalt erhöht und ver' stärkt*
So sind die Grabbauten fensterlos; dem Einblick öffnet sich höchstens eine vergitterte Tür, die Wände sind kahl und ohne plastischen Schmuck; oder man tritt in eine rund abgeschlossene Räumlichkeit, in die ein Deckenfenster Licht fallen läßt; oder sie ist völlig abgeschlossen, lichtlos und luftlos, wie die ägyptischen Pyramiden, nur durch Geheimtüren zugänglich.
Diese Dunkelheit ist der farbige Stimmungsträger der Traurigkeit. Man steht im Düster und fühlt die Gemein' samkeit zwischen sich und dem Toten durch die Gleich' heit der Lichtlosigkeit im Sarge und im Grabbau. Das Düstere und Wortlose, als die Symbolik des Traurigen, das den Toten überwältigte und das auch dem Lebenden droht* Wer im Grabbau steht, nimmt die Existenz des Gestorbenen vorweg*
Diese Dunkelheit benimmt dem Menschen die Möglich' keit, den Raum in seiner Struktur und Umgrenzung deut' lieh erkennen zu können; das ästhetische RaurmErlebnis wird verhindert* Ganz konsequent: denn der Tote hat ja auch keinen Raum um sich; wie der Mensch erstorben ist, so geschieht das Gleiche dem Raume: er wird zur leb'
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losen Enge zusammengepreßt, wie auch der Sarg den Toten eng umschließt74*
Dies ist die eigentliche Form des Grabbaues unter dem Zeichen der tragischen Auffassung» Der Mensch ist ge* storben, die Seele ist verschwunden und niemand — o Schrecken! — kennt ihre Stätte» Mit solcher Gesinnung kompliziert sich in der Dekadenz der starke Drang zum Absoluten. Und so wandelt sich mit dieser Gesinnung der künstlerische Ausdruck der Architektur. Es entsteht ein Bau, der überwiegend jene tragische Konzeption zum In* halte hat: Dunkelheit und Abgeschlossenheit, darüber aber eine strahlende Helligkeit auflagern macht, die in schneiden* den Kontrast zur Düsterkeit tritt» Es mögen etwa in dem unteren Teile der Kapelle sich Grabgestalten regen voll schwermütigen, drängenden Lebens, in ruhelosem Seelen¬ schmerz und voll milderer Wehmut, in tiefem Brüten und gehemmter Willenskraft; alle: Bilder der Trauer und der Lebenshemmung und Müdigkeit. Darüber aber spanne sich eine helle Decke voll bunter Arabesken. Blicken wir um uns, so umfängt uns Verzweiflung, schauen wir in die Höhe über uns hinauf, so strömt befreiendes Licht auf uns nieder. Beide Elemente der Grabkapelle aber seien so aufeinander eingestellt, daß die Architektur als Notwendigkeit für die Umrahmung und Stabilisierung der plastischen Gestalten er* scheine. So verschmelze zweierlei im härtesten Gegensatz Stehendes: die Kapelle als ein „leichtes, herrliches Ge* bäude“ und die Skulpturen als dumpf in sich gekehrte Gestaltungen. — Nichts anderes aber als solcher Bau ist die Grabkapelle der Medici, Michelangelos Werk75.
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Dekadente Musik
Das Beispiel für sie ist die Kunst Claude Debussys76, dessen Werke einstimmig als Muster des musikalischen Impressionismus anerkannt sind, um dafür gepriesen oder gescholten zu werden* Der französische Musiker ist einer der schärfsten Wagnerfeinde geworden ; aber nicht so: daß er sich nach früheren Meistern zurücksehnte, sondern so positiv gesonnen, daß er eine neuartige Musik ins Werk setzte, durch die er den Einfluß des deutschen Meisters zu brechen hoffte und in der Tat schon weit zurückgedrängt hat* Diese neue Musik war nun freilich nichts anderes, als eine Übertragung der ästhetischen Prinzipien, die in den anderen Künsten in Frankreich längst herrschend geworden waren, auf die Musik*
Vom Symbolismus Mallarmes stark beeinflußt, verwirft Debussy Wagners musikalische Syntax als zu schwerfällig, zu absichtsvoll und autoritativ, zu streng thematisch — mit einem Wort, er verwirft Wagners Systematik, weil sie systematisch ist* Er „lehnt sich gegen die musikalische Rhetorik auf, mit der uns die Gewohnheit der Jahrhunderte vertraut gemacht hat, gegen die symmetrischen Konstrukt tionen, die periodische und voraussehbare Rückkehr der Motive, die Kunststücke der rhythmischen Umgestaltung und Modulation und vor allem die Schulübungen der Ver^ änderung von Themen, welche für so viele Musiker die Kunst der Entwicklung bedeuten*“ (R* Rolland*) Er führt aus, was einer der impressionistischen Musik'Ästheten for* derte: „Wir wollen die freie Rede in der freien Musik, die ewige Melodie, die unendliche Variation, sowie die Freiheit
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der musikalischen Phrase» Wir wollen den Triumph der natürlichen, freien, wie die Rede ergreifenden und gleich dem griechischen Tanz plastischen und rhythmischen Musik“ (C* H. Bordes, zit* bei R. Rolland)* Diesem Willen zur radikalen Freiheit erscheint natürlich Wagners unendliche Melodie noch als zu endlich, sein Prinzip der Leitmotive als zu rationalistisch, zu konstruiert und festgefügt*
Die Musik Debussys mißachtet daher die festgeschlossene, periodisierende Gliederung, vermeidet die gedankliche Logik, die treibende, ausspinnende Entwicklung* Das Körperliche, Sinnliche entweicht ihr, alles wird zart und zärtlich — in „sichtlich luftigen und gebrechlichen Konstruktionen, denen das Knochengerüst fehlt“, wie Laloys hübsche FormU' lierung lautet* Die musikalische Substanz löst sich in kleine und kleinste Teilchen auf* Was sie hauptsächlich ausnutzt, ist die harmonische Bewegung — Rhythmik und Melodie vermag sie nicht mehr zu beherrschen ; aber keine harmonische Gestaltung, wie sie die melodische Entfaltung krönend dem mystischen Bewußtsein entspricht, sondern eine solche Formung, daß die wahre Harmonie der Bach* sehen Ruhe als etwas Jenseitiges gefühlt wird: eine Har* monie, in welcher die Satzteilchen chaotisch durcheinander gewirbelt werden* Selbst die Verteidiger Debussys erkennen an, daß durch das Übergewicht des harmonischen Ein* drucks seine Musik unförmig wird. — Und seine Gegner betonen immer wieder: in nebelhaft verschwimmenden Klängen erlischt alles tonale Bewußtsein, man taucht unter in einem Strome breiter, durchsichtig gewobener und doch verwirrender Harmonien, tastet nach festen Umrissen und greift ewig ins Leere, Wesenlose, Phantomhafte; ein zäh'
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gestaltloses Tempo enthalt alle möglichen Rhythmen und wird doch nie zu einer Einheit; von einem zum anderen Nonnenakkord taumelt diese Harmonie, eine narkotische Traumwelt schwebt vor uns; diese Musik ersinnt die zärtliche Dissonanz, den schmeichlerischen Mißklang, die kosende, harmonische Ohrfeige» Dissonierende Akkorde überwiegen und geben einen mattschillernden, ungewissen Ausdruck»
Man sieht: das Negative überwiegt, wie immer in den Analysen dekadenter Produktionen; es fehlen Motiv, Me¬ lodie, Rhythmik» Zwar gibt es bei Debussy wirkliche Hauptmotive, aber sie verändern sich fortwährend, und sie wirken nur durch allgemeinsten Gefühlswert, nicht durch ihren präzisierenden Inhalt; ein Motiv, das z» B» Golaud zu gehören scheint, schildert an anderer Stelle die Unruhe des Meeres» Sie bleiben ferner ohne festeren Zusammen¬ hang, flüchtig, kurz und unentschieden in der Linien¬ führung.
Es fehlt Debussy die orchestrale Steigerung. Jedes In¬ strument isoliert sich und posiert in der träumenden Vision, die sich in vielfältigen, farbigen Flecken entrollt.
Über den gefühlsmäßigen Gehalt der prägnantesten Werke Debussys — es kommt vor allem seine Kompo¬ sition von Maeterlincks „Pelleas und Melisande“ in Be¬ tracht, deren erste Aufführung (am 30. April 1902) selbst der kritisch ablehnende R» Rolland für „eines der wich¬ tigsten Ereignisse in der Geschichte der französischen Musik“ erklärt — herrscht unter den Feinden und Freunden eben¬ sowenig Streit, wie über die musikalische Grammatik seiner Arbeiten. Alle greifen nach den Vergleichen des
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Opiums, das einen trunken macht; alle stimmen überein, diese Musik sei getrieben vom Geiste des Müden, Blut' losen, Molluskenhaften, Gelähmten, entnervt Dahin' schleichenden; sie enthalte eine graue, trostlose, melancho' lische Atmosphäre, wie überströmend von ruheloser Er' regung.
Wir können diese Skizze gut abrundend schließen mit einer Beschreibung, die Debussy sympathievoll der Musik des Russen Mussorgsky — der ihn stark beeinflußte — zuteil werden ließ77: „Da ist nie die Rede von irgend welcher Form, oder wenigstens ist diese Form so mannigfach, daß es unmöglich wäre, sie mit einer bekannten — man könnte sagen administrativen Form in Verwandtschaft zu bringen; alles das hält sich und ist zusammengesetzt vermöge kleiner, nacheinander folgender Tonstriche, die durch ein geheim' nisvolles Band und auch durch die Gabe einer geheimnis' vollen Hellseherei vereinigt sind. Manchmal gibt uns Mussorgsky die Empfindungen schauernden Schattens wieder, Empfindungen, die das Herz umspannen und pressen bis zur Beklemmung.“
Dekadente Malerei
Auch die malerische Gestaltung in ihrer Verschieden' artigkeit muß aus unseren metaphysischen Prinzipien her ihre Deutung finden! Kling er weist in „Malerei und Zeichnung“ darauf hin, daß alle skeptisch'kritische Kunst' Übung sich mit Vorliebe der Zeichnung zu wendet. Er hat damit völlig recht. Denn die Zeichnung als Schwarz' Weiß' Kunst zeigt schon durch ihr Ausdrucksmittel ihre Stellung zur natürlichen Gegebenheit. Sie kann dieser gar nicht
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gerecht werden, weil ihr die Farbe fehlt. Das Dunkel be¬ herrscht sie. Das Schwarze, Dunkle hat seit jeher als Farbe des Todes gegolten* es ist gewissermaßen die Farbig¬ keit des Abgrundes, des Chaos — wie das Hell-Leuchtende des Weiß, des Silbers und des Goldes als göttliche Farben erscheinen. Mit dieser Neigung zur Farblosigkeit geht zu¬ sammen die Vorliebe für eine Gegenständlichkeit, in der sich die Macht des Abgrundes bildhaft verwirklicht* die Entstellung der Gegebenheiten, ihre Defigurierung und De- naturalisierung tritt ins Werk,
Der charakteristischste Künstler dieser Richtung ist Alfred Kubin78, Er ist schon deshalb interessanter für die Re¬ flexion als etwa Munch, der hier auch zu nennen ist, weil er sich als Literat durch seinen Roman „Die andere Seite“ ein unvergängliches Verdienst erwarb und weil er in herzhafter Offenheit sein ursprüngliches Welterlebnis be¬ schrieben hat, so daß auch seine metaphysische Einordnung klar und einfach ist. Die Kunst Kubins hat das Dekadente des Lebens in zeichnerischer Darstellung zur Quintessenz gesteigert. Seine Blätter sind meist so unendlich trübsinnig, vielleicht schwerer zu ertragen als die gleichartigen Werke von Rops oder Munch, weil in diesen doch eine gewisse Kraft aufbrausender Empörung steckt, vielleicht schwerer zu ertragen auch, weil in Kubins Oeuvre alle unheim¬ lichen Elemente des Mitternächtigen, Spukhaften, Grauen¬ erregenden gesammelt sind? Tote und Sterbende, Gefol¬ terte und Gehängte, Kranke und Lasterhafte in buntester Menge,
Denken wir, daß Mainländer recht hätte: die Welt ein sterbender Gott wäre — und stellen wir uns den Zu-
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stand der Welt in seinem letzten Todesröcheln vor; dann gewinnen wir ein ziemlich genaues Bild von der Art Kubinscher Weltauffassung. Denn hier ist nichts mehr so, wie wir es seit der Renaissance'Zeit gewöhnt sind. Alles geht kunterbunt durcheinander. Kaum ein DarstellungS' mittel der Realistik behält seinen alten Sinn. Die Perspek' tive gilt kaum noch; die Komposition zerfließt, und ihre Konstruktionen stürzen ein; die Dinge tauchen in so ab' grundtiefen Nebel und tauchen wieder aus ihm hervor, daß ihre Sonderexistenz weich und schwach wird. Man merkt: hinter allem lauert ein jäher Abgrund, wie in Maeterlincks „Aveugles“, der noch nicht sichtbar ist, aber alle Wirklichkeiten zu vernichten, einzusaugen droht. Eine unheimliche Stimmung schwebt ruhelos über und in und hinter allem, wie sie die Menschen im Jahre 1000 ver' spürt haben mögen, als der Welt'Untergang unvermeidlich und unmittelbar bevorstehend schien. Hier ist alles Gleich' nis und Zeichen für das Vergehen und für die Nichts' Würdigkeit des Daseienden. Die Gestalten und ihre Um' gebung werden zitternd und schwankend. Irgend eine Um rast, die aus dem Endlosen kommt und durch das End' liehe wieder zur Endlosigkeit zurückkehren will, lebt in den Dingen dieser Phantasie' Welt. Alles scheint verworren und schattenhaft, übergänglich und vergänglich. Man glaubt kaum, daß ein Einziges dieser Wesen auch morgen noch an seiner Stelle stehen könnte — so schattenhaft, so auf' gesogen oder angesaugt von innerer Leere stehen sie da. Kranke Organismen in Hülle und Fülle schweben hin' gewischt an uns vorüber. Kaum eine — nein gar keine Gestalt gibt es in diesem umfangreichen Werk, die man
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nicht in irgend ein Hospital stecken möchte ; und sie wenden sich und drehen sich, wie von inneren Krämpfen verrenkt. Sie stehen oder winden sich in Landschaften, so unbe* stimmten und perspektivisch unklaren, daß man nie weiß, wo der Himmel anfängt und das Land auf hört — alles fließt endlos ineinander über. Sie leben in Häusern, deren Bau so windschief ist, daß sie jeden Augenblick mit dem Einsturz drohen. Das „Zinshaus“, das so geheimnisvoll dasteht wie die Wohnung des Gottes des Chaotischen selbst; die „Sterbende Stadt“ mit ihrem niederstürzenden Turm, zerberstenden Häusern und fallenden Steinen; die „Stiege“ mit ihrem beunruhigenden Dämmerschein, in dem ein Dirnlein wartet — wir wüßten nicht, wo in der Kunst' geschichte der Charme des Chaotischen so intensiv zum Ausdruck gekommen wäre. Nichts bleibt harmlos und in sich sinnvoll: der „Schatten“ selbst des Menschen wird unheiin* lieh wie ein entdeckter Doppelgänger, „Spaziergänger“ werden zu problematischen Pennbrüdern, die über irgend ein ver* brecherisches Unternehmen ratschlagen.
So entstellt sich alles. Aber nicht in der Art Th.Th. Heines oder Gulbranssons: es wird keine Satire gegen minder* wertige Dinge und Menschen, um sie zur Besserung zu drängen, ins Werk gesetzt, sondern hier hat alles seine sub* jektiv* absolute Wurzelung im Negativen; hier führt kein Gelächter als Brücke zum Positiven hinüber, sondern es beharrt das Negative auf seinem Eigenrecht, und jeder Blick fällt ins EndloS'Bodenlose, aus dem es keine Rückkehr gibt. — Man mag darüber traurig werden oder gar sich entrüsten ; gewiß aber bleibt dies: daß kein anderer Zeichner ein so intensives und konkretes Bewußtsein vom Negativen und
14 v. Sydow, Dekadenz
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Dekadenten ermöglicht und aufnötigt wie eben Kubin; und nur Künstler mit metaphysischem Pathos zählen in der Weltgeschichte der Kunst, nicht aber verfehlte Wissen* schaftler und Registrator*Naturen, wie etwa M. Lieber* mann! Denn dies ist das Große bei Kubin, daß alle Minderwertigkeit und Elendigkeit doch nicht bloß die des höheren zoologischen Genus „Mensch“ ist, sondern das Leiden eines von göttlicher Allmacht ursprünglich Erfüllten, dessen irdisches Schicksal und schmerzliche Stationen der Zeichenstift des deutsch*böhmischen Künstlers schildert. Überall schwingt metaphysisches Pathos mit.
Dekadente Plastik
Die Plastik ist diejenige Kunst, die das Organische des Lebens darstellt, in dem sie es noch an das Materielle des Steins, der Bronze usw. fesselt. Soweit sie sich für das Dekadente, das Geschwächte des Menschlichen, interes* siert, werden wir ihre Werke dort zu suchen haben, wo es gilt, das Gefühl der Traurigkeit und Ohnmacht und Schwächlichkeit zu erwecken: in den Statuen der Grabmäler. Da ist es ein weithin berühmtes Werk, das uns als Beispiel dienen möchte: die Mediceer*Gräber Michelangelos.
Man könnte glauben, es wäre schließlich gleichgültig, welche bestimmten Grabmäler man wähle — überall müsse die gleiche Stimmung inkarniert sein. Aber doch ist dem nicht so. Wie oft sehen wir den Toten nicht in der ruhigen Starrheit der Abgeschiedenheit. Wie oft erhebt sich der Sterbende nicht in anderen Denkmälern, um in verzückungs* voller Verklärung das Überirdische zu schauen. Die rest*
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lose Ruhe und die Ekstatik der Beseligung — beide sind nicht das, was wir suchen: die Trauer des Sterbens* Nur in Michelangelos Werk finden wir sie.
Nicht zufällig. Keineswegs so, als sei der Wille zu diesem Monument in ihm, dem Meister, als ein fremder Gedanke und eine erzwungene, erwollte Idee aufgetaucht *t sondern so: daß sich alles Lebensgefühl Michelangelos mit der ur- sprünglichen Kräftigkeit des Selbstverständlichen in diesen seinen Gestalten konzentrierte, als der plastische Ausdruck seiner tragisch-gespannten Seele.
Wenn wir in sein Leben blicken, so staunen wir über die reiche Fülle an Entwürfen, Plänen und Beginnungen voll Eifer, flammender Ruhmbegier. Nichts war ihm zu groß — Berge wollte er meißelnd zu menschlicher Schorn heit wandeln. Nichts war ihm zu fremd — als Bildhauer schuf er Roms größtes malerisches Werk. Nichts war ihm zu klein — er überwachte Bruch und Transport der Stein¬ blöcke. Wenn wir aber auf seine Werke sehen — was er¬ blicken wir anderes als Fragmente, Anfänge, Trümmer I Gewiß trug die Ungunst der Zeiten viel dazu bei, dies Trümmerfeld noch wüster zu gestalten: der Wechsel der Päpste, die Unruhen der Kriege, die Launen der Auftrag¬ geber. Aber die Hauptschuld am Fragmentarischen seiner Werke trug Michelangelo selbst79. Unruh voll, immer un¬ zufrieden mit sich und anderen, nie gestillt im Wollen und Vollbringen, hat seine Natur ihn vom Beginnen dieses einen Werkes zum Arbeiten an jenem anderen Werke ge¬ trieben. Er arbeitete nicht, weil es ihm Freude machte — so wie Goethe sein Dasein künstlerhaft erweiterte — son¬ dern getrieben und gequält vom Genius als einer ihm
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fremden Macht* In innerer Angst und Hoffnungslosigkeit und Unbefriedigtheit.
Freilich, seine malerischen und plastischen Werke sprechen sich nicht direkt aus über seine innerlichen Stimmungen. Nicht, als ob sie völlig schwiegen. Aber da den Künsten außerhalb der Wort-Kunst die Eindeutigkeit des Sprach¬ lichen fehlt, so ist es der vorgefaßten Meinung leicht, sie falsch zu deuten. So entgeht auch Michelangelo nicht diesem Schicksal. Vom Sturm der Leidenschaften, von der Wild¬ heit der selbstmörderischen Grübelei, von der Traurigkeit und Öde der quälenden Einsamkeit — kein Wort, — keine Andeutung weist in manchen Analysen seiner Werke auf sie hin! — Aber seine Gedichte bezeugen sie laut und un¬ überhörbar.
Dies Seelenleben offenbart sich in Michelangelos Ge¬ dichten : durchwühlt vom Widerstreite heftigster Wünsche und kalt berechnender Gedanklichkeit, triumphierender Freude und reuevoller Zerknirschung, meist umschwebt von der peinigenden Atmosphäre innerer Zersetzung. Immer wieder klingen die Klagen:
„Entzieht der Welt die Sonne ihre Strahlen,
Dann bleib* im Dunkel glühend ich allein?
Wenn andre freudig ruhen, stürz ich voll Pein Zu Boden und vergeh* in Seelenqualen.“
„Ich leb* vom Tod, und wenn ich*s recht verstehe,
So leb* ich glücklich durch mein Unglück eben?
Wer nicht versteht, von Angst und Tod zu leben,
Der komm ins Feuer, worin ich vergehe.“
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Unbehaglich und freudlos dehnt sich sein Leben hin* Fremd bleibt er den Menschen und die Menschen ihm; „wie ein Henker kommst du einsam daher“, rief ihm wohl Raffael zu, und ein neuerer Biograph gesteht es halb wider ' willig ein: „Nicht unter dem Mars oder der Venus, unter dem bleiernen Saturn ward er geboren!“
Er selbst weiß um dies Anderssein:
„Reiß aus der Glut mich, und von ihr getrennt
Muß an des Lebens Bächen ich verderben;
Ich nähr' mich nur von dem, was glüht und brennt,
Und leb' von dem, wovon die andern sterben*“
Darum hatte er keine Gemeinschaft mit gleichwertigen Zeitgenossen* Sondern er umringte sich gern mit einfachen Leuten, Tölpeln und Dummköpfen. Nichts wäre falscher, als hier eine Gesetzlichkeit des Genies überhaupt als Er* klärung behaupten zu wollen — man blicke nur auf Balzac, Goethe und so viele andere, um das Genie in regster Freundschaft mit fast Gleichwertigen zu finden* Sondern es zeigt sich hier bei Michelangelo die typische Vorliebe der Dekadenten für Abnormes, Häßliches, Seltsames, Chaosartiges — kurz, für die organischen Bildungen* in denen sich die Natur selbst ad absurdum zu führen scheint.
Das Liebesieben eines dekadenten Menschen repräsem tiert das Eigentümliche seiner Seele in der schärfsten Poim tierung* Wie mag man Michelangelos Liebe umschreiben?
Keine Befreiung ist es, die er in ihr erlebt, und keine Bereicherung seines Seins* Nur seine Melancholie erweitert sich, steigert sich zu wahrem Paroxysmus. In zahlreichen
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„Liebes“*Gedichten wiederholt sich immer wieder bis ins späte Greisenalter die klägliche Klage, daß Gott Amor noch immer nicht aufhöre, ihn zu verfolgen und zu besiegen. Wahrlich, eine seltsame Liebe ist es, von der diese Ge* dichte zeugen; also stöhnte wohl die goldlichtentsprossene Persephone in den Armen des dunkelsten Königs! Eine Regung ist es, gemischt aus Trieb, Reflexion, Abscheu und Verzweiflung. Fast nirgends findet sich das ruhevolle Schweben in Seligkeit, fast nie klingt das triumphierende Bekenntnis des Besitzes; Wünsche und immer Wünsche — unzufrieden und hoffnungslos, klagend und gierig und leidenschaftlich, folgen sie sich in leidenschaftlicher Ver* flechtung. Und nur ganz selten leuchtet der kalte, schmäch* tige Strahl platonischer Neigungen auf.
Diese krampfhafte Verschlingung der seelischen Tendenzen Michelangelos, dies Gefühl der Unseligkeit und der unge* heuere Wille, ihr zu entgehen, oder, so könnten wir den Sachverhalt ebenso richtig umschreiben, ein ungeheueres Streben, das von der Melancholie, dem Gefühl der Sinn* losigkeit des Daseins, gehemmt ist — diese Komplikation der Anlagen und Strebungen, bei Baudelaire in geringerem Maßstab sich wiederholend, ist die Quelle der Lebenshab tung so vieler Werke Michelangelos und deren Sinngehalt. In ihm wurzeln diese gewundenen Körper, diese Gestalten, die handeln wollen, aber doch durch irgend etwas zur kon* templativen Ruhe genötigt werden (wie Hamlet in seinem rächerischen Werke durch das Gefühl von der Sinn* losigkeit des Tuns überhaupt gehindert wird); ein Wider* Spruch tut sich in ihnen kund, der in unerlöstem Gegen* satz beharrt.
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A. Riegl80 hat diese Komplikation annähernd richtig er* kannte wenn er auch die originale Quelle nicht auf wies. Erzeigt in seiner Analyse der figuralen Struktur der Gestalten der „Nacht“ und des „Tags“, daß eine rotierende Bewegung in ihnen liegt, eine Bewegung, „die das Eigentümliche an sich hat, daß alle Teile in steter Bewegung sind, ohne daß das Ganze sich vom Flecke rührt : äußerste Ruhe des Ganzen, äußerste Bewegung der Teile . ♦ . Die Figuren sitzen, schlafen, aber alle Glieder sind aus der Gleichgewichtslage.“ Die „Nacht“ hat den Willen zum Schlafen, aber dieser Wille wird durch Träume gebrochen, durch Träume voll Schmerzlich' keit und Unruhe. — Giulianos Gestaltung weist die gleichen Merkmale: die Glieder drängt der Wille, sich dem Be* schauer zuzuwenden, das fast zürnende Antlitz aber verrät, daß dieser Wille jäh durch ein Gefühl durchbrochen wird* Das Grabmal des Lorenzo de' Medici ist von derselben Struktur ; nur ist das Rotieren leiser und in den Bewegungen der einzelnen Figuren maßvoller. Aber auch hier als Signum des Negativen: das „dumpfe Brüten, beherrscht von herben, sorgenschweren Empfindungen, was in den Pro* pheten der Sixtinischen Decke so oft wiederkehrt“.
Diese Feststellungen gelten aber nicht bloß für die eine Mediceer^ Kapelle, sie könnten ihr Echo bei anderen Werken des Meisters hören : bei dem Moses, dessen Gebärdung so unklar ist, daß es noch immer trotz so vieler Deutungen nicht gelang, zu erforschen, ob ein Aufspringender oder Erregt'Blickender oder Sich'Setzender gemeint ist81; bei dem „David“, von dem man auch nicht genau weiß, was seine Aktivität bedeuten möchte; bei dem „Sieger“, der in ungewisser Haltung auf dem Rücken des Besiegten kniet;
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bei der Madonna der Medici'Kapelle vor allem, jenem herrlichen Werke, in welchem der heranwachsende heldische Lebenswille an der mütterlichen Brust Mariens saugt, die in der Düsterkeit eher einer Todesgöttin, als der Madonna gleicht (die beste Abbildung bei Thode III 2, S* 461)* Ge* wiß trifft diese Charakteristik nicht alle Werke des Italieners, abzr doch so viele, daß die Identität des Lebensgefühles in seiner poetischen wie plastischen Kunst klar zutage liegt: der mächtige Lebenstrieb durch Melancholie zur Ohnmacht gehemmt
Nichts wäre falscher, als hier von „barocker Kunst“ zu
reden* Denn es ist gerade das Kennzeichen des Barock
und vor allem seines wundervollen Meisters Bernini: daß
hier die Lebensfreudigkeit in ungehemmter Kraft sich aus*
lebt, dahinströmt im Bewußtsein der großen, weiten, selig
überstürzenden Macht, die vom Himmel und seinen guten
Mächten geschenkt wieder zum Himmel in heldischer Ek'
stase sich erhebt* Von dieser absoluten Seligkeit des Lebens
und Schaffens weiß Michelangelo nichts, für ihn war Pro*
duzieren eine Erleichterung höchstens, ein Sicherheitsventil
gegen vielleicht verbrecherische Neigungen, die in seinem
Unterbewußten wohl ebenso wühlten wie in der Seele Beet'
hovens. So mag man Michelangelo den Vater der Barock'
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kunst nennen, falls man nur das Außere seiner Werke in Rechnung stellt : die Erregung voll Gefühl und BewegungS' drang* Aber sinnlos ist es, ihn für einen Menschen mit der Seele des Barock zu halten und gar in seiner von Me' lancholie und Verzweiflung verdüsterten Gesinnung die Kraft zu suchen, die in der weithin schattenden Gebärdung der Barockkunst strömt. Wohl aber möchte man ein meta'
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physisches Band zwischen beiden problematischen Phäno* menen insoweit knüpfen, als man meinen darf: durch die teils heroische und teils dekadente Kunst Michelangelos hindurch sich drängend fand die allzu irdische Kunst der Renaissance solche Läuterung und aus der Verzweiflung am Weltlichen zum Überweltlichen sich erhebende Kraft, daß sie sich zu jener unermeßlichen Großartigkeit konzen* trieren konnte, die wir unter dem Namen des Barock ver* ehren — und wer weiß, ob Italien ohne Michelangelos Schwermuts' Sinn zum leuchtenden Siegertum Berninis sich hätte erheben können?
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Mimischer Ausdruck der Dekadenz
Die Mimik ist die Kunst des Ausdrucks von Gefühlen oder Handlungen durch die Bewegung des Körpers; und zwar ist diese Bewegtheit des Leibes in weitestem Un> fange zu verstehen: als Gehen, Tanzen, Gestikulieren, Schreien und Klatschen mit den Händen. Die wichtigsten Inhalte gewinnt die Pantomimik aus dem gewöhnlichen Leben, als Darstellung von Vorgängen des Krieges, der Jagd, der Liebe und heiliger Handlungen. Das Mimische des Ausdrucks des Dekadenten im Leben ist die Gestikulation als leibliche Symbolik des Schmerzes, besonders der Trauer, der Angst, der Ermattung, des Greisenhaften — kurz der negativen Lebensmotive, abwechselnd mit dem leibhaften Ausdruck hoher Lebenslust.
Eine Pantomime mit lediglich negativem Inhalte ist uns nicht bekannt, sie würde wohl auch etwas eintönig wirken, da die Bewegungen der Schmerzlichkeit von geringerer Modulationsfähigkeit sind, als die der Freude und Behag-
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lichkeit. Man möchte höchstens an jene mittelalterlichen „Totentänze“ denken, die wohl auch mimisch dargestellt wurden; aber leider ist kein Zeugnis, wie es scheint, auf uns gekommen, das eine bestimmtere Vorstellung von dem äußeren Gehaben des Todes und seiner Opfer uns zu machen gestattete. Es könnte ein grausiges Bild aller Schrecknis und Trostlosigkeit abgeben82. 'y^
Der tiefe Schmerz der Schwermut verträgt keine eigene liehe Pantomimik im Sinne einer handlungsvollen Ge* schichte; oder: sobald das wahrhaft Kummervolle erreicht ist, hört die leibhafte Beweglichkeit auf. Die volle Traurig* keit ist unbeweglich. Der Trübsinnende blickt zu Boden, läßt den Kopf hängen, seine Gelenke sind in matter Schwere erschlafft, sein ganzer Körper hat einen Hang zur Erde, seine Bewegungen sind, falls er sich aufraffen muß, langsam, schwerfällig, als ob an den Füßen Bleigewichte hingen. Wenn er sitzt, so stützt er das schwere Haupt mit der offenen Hand, während der andere Arm matt niederhängt. Der Mund ist halb geöffnet; er seufzt und weint. Der Blick ist starr auf einen Punkt gerichtet, ohne ihn aber wirklich fest zu betrachten, eigentlich ins Leere schauend oder nach innen zurückgebogen; er hat deshalb nicht die Leuchtkraft des Auges, wie der Fröhliche, sondern ist matt und stumpf. Die Stirn ist von senkrechten Falten durchzogen. Die Stimme ist dumpf, die Sprache langsam, schwach.
Anders der aktiver Leidergriffene. Er ist nicht so matt, wie der Schwermütige, nicht so ruhig, sondern voll Bangigkeit und Erregtheit. Er ringt seine Hände als äußeres Zeichen seiner Trauer. Seine Brust atmet schwer, der
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Körper windet und verdreht sich, das zurückgeworfene Haupt ist zum Himmel gewandt, die Augenbrauen ziehen ihre inneren Spitzen gegen die Mitte der gekrausten Stirn hinauf, in allen Muskeln des Gesichts ist Gespanntheit, in den Augen liegt unstetes zitterndes Licht, die Mundwinkel ziehen sich nach unten in zitternder Bewegung. Die Arme gleiten direktionslos hin und her. Die Schultern zucken heftig auf und ab. Die Beine werden schwankend und schwach83. — So bildet der trauernd Erregte gleichsam das Abbild des Sterbenden, während man bei dem Anblick des ruhig und starr Trauernden an die Leichenstarrheit des Toten denken muß. Darum ist auch in jenem Falle das Laut werden des Schmerzes im Weinen ein anderes, als bei diesem; dort fließt die Träne in konvulsivischem Zucken und heftig strömend, während der Starre seine Zähre in gleichmäßigem Flusse dahinrollen läßt.
Die Angst diängt den Menschen zur Abwehr mit er* hobenen und starr ausgereckten Armen, deren Hände sich vorn nähern. Es ist die Gebärde des Sich'Abschließens vereint mit der Geste der Abstoßung und Vermeidung. Der Körper folgt dieser Regung, indem er sich zur Seite biegt, um das Drohende zu vermeiden. Die Füße heben sich, um zu entfliehen. Der Gang ist weit ausgreifend mit großen stoßenden Schritten, die Beine werden nachgeschleppt, die Knie schlottern. Bei plötzlichem Erschrecken zuckt man zusammen, der Leib wird mit einem Ruck eingezogen, die Schultern fahren etwas in die Höhe. Vor allem sind es die Hände, die solchem jähen Erschrecken Ausdruck geben: sie ballen sich oder werden gewaltsam an den Körper ge* preßt in den verschiedensten Haltungen oder sie werden
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hoch ausgestreckt, indem sich der ganze Körper auf den Zehen stehend in die Höhe reckt* Der Mund öffnet sich, um den Laut des Erschrecktseins auszustoßen. Der Atem zuckt jählings auf und nieder. Die Nasenflügel erweitern sich bebend. Der Blick ist mit überweit aufgerissenen Augen starr auf die Gefahr gerichtet oder scheu abgewendet. Das ganze Gesicht ist heftig verzerrt, die Stirn gerunzelt, die Mundwinkel ziehen sich krampfhaft wagerecht zur Seite. Sprachlich äußert sich die Angst zunächst in mono* tönern, leisem Jammern; der laute Ausruf, den die Angst auspreßt, ist „Hu!“, wobei der Körper sich schüttelt und erbebt. Der Gang des Furchtsamen: die Knie sind nicht fest durchgedrückt, sondern biegen sich, man geht auf den Zehen, man macht kleine Schritte, der aufgehobene Fuß zittert. Der Atem geht schwer. Die Sprache setzt oft aus und sinkt ins Flüstern nieder. Die Augen, groß und rund, rollen unruhig. Die Hände pressen sich an die Brust und ans Kinn. Der Gesichtsausdruck zieht die inneren Augen* brauenspitzen schwach zusammen und in die Höhe, so daß die Miene etwas weinerlich erscheint.
Das Auge des von Scham und Schüchternheit Er* griffenen blickt scheu und unruhig, die Lider blinzeln leb* haft aus Verlegenheit, man wagt nicht, das Gesicht und den Blick zu erheben. Scham im erregteren Ausdruck be* deckt das Gesicht mit beiden Händen oder drückt das Gesicht des Knienden auf den Boden. Die Stimme ist schwach, die Sprache verwirrt und stotternd. Der Atem geht beklommen. Die Schritte sind leise, zögernd, tastend.
Alte Leute gehen mit vorgebeugtem Oberkörper, mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen, in kleinen,
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stoßenden Schritten, oft Halt machend, um sich von der Anstrengung des Schreitens zu erholen* Ihre Gesichtszüge sind erschlafft und voll Runzeln und Falten* Das Auge blickt ohne Feuer der Lebhaftigkeit* Die Bewegungen der Hände und Arme sind voll gemessener Enge, steif und ohne weitgreifenden Schwung; oder sie zittern leise, ohne die Kraft des energischen Zufassens* (Fr* Wilhelm Müller, „Leben und Tod“, S* 14—20*)
Die Mimik des Dekadenten ist eine Mischung aus diesen Bewegungen und Stellungen der müden Lebendig' keit und aus einer Körperhaltung, aus welcher überschau' mendes Kraftgefühl spricht ; oder nicht so sehr eine Mischung wie vielmehr ein Wechsel zwischen beiden Einstellungen, von denen die erste sich als die überwiegende erweist. Aus den Augen leuchtet im „Hochgefühl“ des Selbstbewußt- seins der Mut, der Blick ist scharf, das Gesicht strahlt lächelnd vor Freude, die Brust wölbt sich hervor, alle Muskeln spannen sich an, die Hände ballen sich in noch ungebrauchter Kraft, der ganze Körper erscheint verstärkt und veredelt; die Stimme klingt stark, fest und hoch im Ton* Steigert sich der Mut bis zum Gefühl der Kühnheit, so verstärkt sich diese Haltung in jedem Stück; vor allem wachsen die Bewegungen, die dort mit entschiedener Festigkeit, aber ohne Übertreibung ausfallen, nun zu über' raschender Größe und Schnelligkeit ihrer Auffassung. — Diese Haltung, welche man gern allen irgendwie bedeu' tenden Männern zuschreiben möchte, steht dann in auf' fälligem Gegensatz zu der Schlaffheit, deren Ausdruck in überwiegender Stärke die Bewegungen der Dekadenten zeigen. Das Porträt eines ihrer größten Vertreter gibt voll
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Enttäuschtheit Maxime du Camp: „Lange, lange nachher mußte ich Chauteaubriand erblicken* Ach! wie wenig ent' sprach er der Idee, die ich mir von ihm machte! Er ging gebeugt, die rechte Schulter hochgezogen, die Stirn geneigt, mit schlotternder Hand — wie vernichtet durch eine um erträgliche Müdigkeit. Sollte ich den Trübsinn malen, so würde ich keine andere Gestalt wählen“84.
Dekadente Romankunst
Die faszinierendste literarische Darstellung alles dessen, was wir dekadent nennen, hat wohl Alfred Kubin in seinem Buche „Die andere Seite“85 gegeben. Dies ist sein Unterschied von „A Rebours“, daß in dem Werke des französischen Schriftstellers die Dekadenz in eine ein' zelne Gestalt komprimiert ist, die sich innerhalb der Kultur' weit bewegt; mag der Marquis des Esseintes sich noch so sehr abschließen — ab und zu muß er doch die große Welt durchfahren. Anders die Darstellung Kubins! Hier ist zum ersten Male eine abgeschlossene Dekadenz 'Welt gezeichnet. Ein ganzes Reich, aus welchem alle positiven kulturellen Elemente ausgeschieden, oder in welchem sie nur mit ihren Karikaturen vertreten sind. Eine Traum' weit; aber ohne das zerrissen Assoziative des Traumhaften. Denn mit solcher Intensität ist das Gleitende des Erträumten zum Stillstand gezwungen, mit solcher Härte die Weich' lichkeit des Fiktiven zur Form gestaltet, daß erreicht ist jener eigentümliche Zustand des Halbschlafens, Halb' träumens: wenn man noch in den Bildern des entgleitenden Traumes befangen, doch nicht mehr ganz in ihrer AtmO' Sphäre lebt. Etwas Nebelhaftes, Dumpfes. Eine Unbe'
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stimmtheit, wie in einem Kaffeehaus, in dessen vielfältigen und unübersichtlichen Nischen flüsterndes Leben sich regt, wie in einem solchen Kaffeehaus, in dem es dunkelt und die Lichter noch nicht brennen» Das merkwürdig Geheimnis* volle, das uns in guten Stunden in solchem Milieu über* fällt — aus dem Dufte des Kaffees steigt es auf und gleitet um uns her, halb einschläfernd, aber doch die letzte Fein* heit des Lebensgefühles noch überhöhend; dies Geheimnis* volle zerlegt Kubins Buch in verschiedene Menschen, andersartige Situationen, differente Handlungen, und auch Dinge: denn Straßenecken und ihre Häuser, Pflastersteine und Fensterscheiben, Höfe und Treppen — alles, alles um einen herum wird Konzentration und Auswirkung zugleich des Sonderbaren» Hier ist nichts mehr vernünftig, nichts mehr gerade. Alles ist paradox, in steter Bewegung und Änderung, fortwährend ein Zeugen und Sterben, Sterben!
Irgendwo in Asien liegt dies Reich. Der Himmel ist ewig trübe, nie schien die Sonne, nie waren bei Nacht Mond und Sterne zu sehen. Anhaltende Dunstbildungen überall. Präzise Farben fehlten. Ein stumpfes Oliv über* zog die Pflanzen, grau und braun waren Luft und Boden getönt. Eine weiche, warme Luft wurde des Nachts vom Zwielicht erleuchtet.
Die Bewohner dieses Landstrichs rekrutieren sich aus bestimmten Typen. Menschen von übertrieben feiner Empfindlichkeit, solche mit kleinen fixen Ideen, wie Sammel* wut, Lesefieber, Hyperreligiosität waren für diesen Traum* Staat wie geschaffen; neben dieser besseren Schicht leben dort einseitig oder abnorm Entwickelte: Hypochonder, Spiritisten, Taschenspieler, Raufbolde usw. Alle Geschäfte,
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d|e man mit ihnen abschließt, sind in ihrer Gültigkeit frag
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fast aehr rf" der SpitZe di6SeS Reiches ^eht eine
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fach ein Kranker, sondern er ist erfüllt von der Sehnsucht *iach dem Unendlichen: „Gib mir einen Stern, gib mir ' linen Stern !** ruft er dem Besucher eines Tages entgegen • in einer „Audienz“, deren Erzählung zu den rühmens* wertesten Seiten dieses Buches zählt* Doch mag sich Pa* era noch so hoch recken, trotz aller Zauberkunst greifen •eine Hände ins ungeheure Leere. So ist er das typische :3ild der personifizierten Dekadenz! — So groß die ver* rührerische Dekadenz ist, so stark ist auch der Zauber, den lies Traumreich auf seine Bewohner ausübt: „Uns er* schien dies Traumreich unermeßlich und grandios, die ibrige Welt kam gar nicht in Betracht, man vergaß sie* *Cein Mensch, der sich hier eingelebt, wollte wieder hinaus, ;da draußen* das war Schwindel, das gab's gar nicht»**
Jene Sehnsucht zum Ewigen, die in Patera lebt, reprä* sentiert sich vergrößert in der Gruppe der Theosophen, lie neben der Chaotik des Traumreiches siedeln. Bei ihnen irleben sich die mystischen Zusammenhänge der Welt, die Gemeinsamkeiten aller Existenzen. Aber diese Gemeinsam* reit unterbricht sich nun wieder, da das Ich sich als aus inzählig vielen „Ichs“ zusammengesetzt herausstellt — aus :chen, von denen immer eins hinter dem anderen auf der .^auer steht, mit eigenen Sonderansichten.
So zeigt sich. dies Traumreich als die ausgebreitete Er* ncheinungswelt der Dekadenz in allen Hinsichten: ruhend Ulf dem Nichts, voll Dunkelheiten aller Art — und doch durchleuchtet vom Strahl aus der Ewigkeit. Daher hat es reinen festen Bestand in sich, es geht zugrunde an eigener fochwäche und im Zusammenprall mit der Tatkraft eines inergischen Menschen. Zuerst erhob ein eingewanderter
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5 v. Sydow, Dekadenz
und enttäuschter Amerikaner seine revolutionäre Stimme gegen die Institutionen des Zauberreiches und dann erst begann der innere Zerfall der Schöpfung Pateras durch den Ausbruch der Schlafkrankheit* Diese Müdigkeit und Schläfrigkeit überfiel alle Bewohner des rätselhaften Landes der Dekadenz, — nur der Tatmensch blieb von ihr ver* schont* Die Sehnsucht zum Todes* Schlaf ist es, die sich in dieser Form symbolisiert — eine Sehnsucht, die in der Tat ein typisches Merkmal der Dekadenz ist, als der düstere Hintergrund, auf dem die Sehnsucht zum seligen Leben der aus dem Nichts des Irdischen Auf erweckten als ein schmächtiger Feuerstrahl leuchtet* In diesem tiefen Schlaf wird das Traumreich von Tieren überflutet* Wölfe, Wild* katzen, Luchse überfallen die müden Menschen; selbst die gezähmten Haustiere werden störrisch, bösartig und wildern auf eigene Faust* In allen Mauern klaffen Sprünge, das Holz wird morsch und die Stoffe zerfallen; so wird auch die leblose Materie sympathetisch müde und kränklich* Dieser Degeneration der Umgebung geht das Verkommen der Menschen parallel* Die Unsittlichkeit nimmt überhand. Viele werden menschenscheue Einsiedler* Revolutionäre Bewegungen setzen ein. Selbstmorde sind an der Tages* Ordnung. So zerfällt dies Reich der Dekadenz in sich. Zum Schluß ermordet jener Tatmensch, der die Revolution leitet, den Herrscher selbst* Da zeigt sich die Krönung der Wunderlichkeiten: Pateras Kopf ist ein Wachspuppenkopf, seine Augen sind mit Quecksilber gefüllte Glaskugeln, die Prunkkleider sind mit Stroh ausgestopft — der allmächtige Meister war eine Mystifikation I Das Traumreich aber wird von der Kulturwelt mit Beschlag belegt.
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Ein philosophierender Epilog Kubins, welcher durch einige überraschende Ereignisse im Roman vorbereitet ist (Patera zeigte einmal das Gesicht des Amerikaners!), weist auf die Doppelgestalt des Lebens hin: ein Gott, der den Tod will, teilt die Herrschaft über die Wirklichkeit mit einem Widersacher, der das Leben will, — „der Demi' urg ist ein Zwitter*“ Ein Selbstbekenntnis Kubins, das in seiner Gleichwertung des Lebens und Todes zwar objek' tiv falsch, aber im Zusammenhang der überwiegend deka' denten Kunst dieses genialen Menschen subjektiv ver' stündlich, logisch ist.
Das dekadente Drama
Die Dekadenz gestaltet nicht das heldenhafte Aufsich' beharren und nicht den kämpferischen Aufstieg, sondern den Absturz, das Unterliegen ; der Grundton ist der tragische. Die Handlung geht nur mühevoll an, ermüdet weiter. Es bleibt noch ein Rest von ihr, gleichsam anonym, versteckt, als Garderobenhalter, auf den dann die verschiedenen Kleidungsstücke, die verschiedenen Geschehnisse, neben' einander aufgehängt werden. Die fast reine, sich gleich' bleibende Zuständlichkeit des Geschehens formt so das ab' solute, die Zusammenfassung des (positiven) Handelns zu Hauptpersonen das heroische Element inmitten der ver' neinenden Kräfte.
Aus der großen Menge dekadenter Schauspiele sind seit langem als lehrreich in ihrer beispielhaften Konstruktion die Erstlingsdramen Maeterlincks und etwa Gorkis „Nachtasyl“ genannt worden. Mit Recht; wir werden sie kurz analysieren.
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Vielleicht könnte statt des „Nachtasyls“ ebensogut „Hamlet“ besprochen werden. Aber das russische Stück ist wohl ein einfacheres Exempel für unser Problem. Zwar ist auch jenes englische Drama ein Schauspiel des Ver* sagens, des Zögerns wider Willen, des vergeblichen Degen* kreuzens und der fruchtlos*sinnlosen Tätigkeit. Wie viel wird nicht begonnen; und es erstickt im Keim! Ophelia und Hamlet, Hamlet und das Königspaar, der König und die beiden Edelleute — wie tragen sie alle irgendein gro* teskes, lächerlich machendes oder herabziehendes Element in ihrem Dasein und wechselseitigen Verhältnis. Polonius: ein läppisch gewordener Höfling; Ophelia: diese demi* vierge mit dubiösem Getue; Hamlet selbst: diese echt ku* binsche Figur in ihrer schwankenden Erregtheit und falsch angewandten Entschlußschnelligkeit; — wie tragisch*sinnlos endet das Treiben dieser dumpfen Schicksalsmarionetten durch Gift und meuchlerischen Degenstoß ! — Aber trotz dieser dekadenten Züge liegt doch soviel Kraft in anderen Mitspielern, wie Laertes und Horatio, soviel Reiz doch auch in Ophelia, soviel Kühnheit in Fortinbras, daß es zunächst ratsamer erscheint, sich ganz kurz das Stück des russischen Dichters in die Erinnerung zu rufen, um ein konkretes Exempel für unsere Zwecke zu gewinnen (vgl. den Zusatz: „Hamlet“).
Im „Nachtasyl“ ist nicht das allermindeste von jener shakespeareschen Energie zu merken. Es vollziehen sich kaum Veränderungen. Das Vagabundenleben entrollt sich in gleichförmiger Beweglichkeit, die nur ein paarmal durch Mord und Selbstmord durchbrochen wird. Insofern liegt freilich eine gewisse Handlung im Stücke, als der Mord*
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anschlag nicht plötzlich auftaucht, sondern in seinen Vor* aussetzungen schon im ersten Akte angedeutet ist. Aber diese Andeutungen betreffen nur das sozusagen Negative des Mordes: das vorangehende Liebesverhältnis zwischen Wasjka Pepel und Wassilissa; und es tritt so klein und zögernd zwischen dem Gerede der Gauner hervor, daß man das Stück schon mehrfach lesen muß, um die Ver- bindungsfäden wahrzunehmen. Im zweiten Akt findet sich eine magere Fortsetzung, und erst im vorletzten, dritten Akt tritt die eigentliche dramatische Problematik auf, um dann sogleich durch den Mord erledigt zu werden.
Um diese zunächst ganz langsam, dann mit größter Ge* schwindigkeit emporschießende „Handlung“ strömt in kleineren kurzweiligen Momenten das Andere des Inhaltes: das Klagen, der Rausch aus Kolportage-Sentimentalität und Schnaps entsprungen, die Verzweiflung, der Haß, das Mißtrauen, die müde Resignation und der forschende Wahrheitsdrang, in Form von kleinen Dialogen, Mono¬ logen und Streitereien, die immer ganz kurz sind und schnell abbrechen, weil keiner etwas Richtiges zu sagen weiß. Alle Handlungen sind krampfhaft, sie steigen schroff, gleichsam isoliert von jenem kurzatmigen Gerede in die Höhe, um dort zu zerstäuben. Darum endet das Stück sehr konsequent und gut abschließend mit dem Selbstmord des Schau¬ spielers — hier ist die große Leere enthüllt, als deren Masken jene korrupte Gesellschaft einhertreibt!
Das Dämonische tritt also in den Flauptmomenten als siegreich hervor. Und um die dämonischen Taten, den Mord und Selbstmord, wirbelt das Dekadente herum. Es ist in moralischer Hinsicht beachtenswert, daß sie gerade
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von denen vollbracht werden , die noch am stärksten Neigung und Fähigkeit zum Guten haben: vom Schau* Spieler und von PepeL In rein künstlerischer Hinsicht kann man wohl sagen , daß jener Zusammenhang der Handlung in all seiner Kürze noch ein Rest des gewöhn* liehen Dramas ist; er gibt das (wenn auch minimale) Mo* tiv zum Weiterlesen, zu dem sonst kein zureichender Grund vorläge, da der allgemeine Charakter der Ereignisse sonst qualitativ nicht differiert* Während aber bei den idealisti* sehen Stücken die Handlung in übergreifender Mächtigkeit alle Besonderheiten in sich saugt und diese aus jener ihren Sinn empfangen, isoliert sich hier die Handlung von ihnen; diese spielen für sich, jene vollbringt sich für sich; fast könnte man sie trennen* Die Einzelepisoden erwerben so eine dramatische Wichtigkeit, die ihnen nicht zukommt; die Gespräche zwischen dem Baron und Satin oder Kleschtsch und Bubnow, der Tod Annas, das Verhältnis zwischen dem Baron und Nastja — alles dies geht in impressionisti* scher Verselbständigung einher* Dem Inhalte nach passen sie freilich gut zur sog. Handlung: die Negativitäten werden hier so gehäuft, daß man den Selbstmord und Todschlag völlig begreift als den Krampf des Negativen, das in sich zusammenbricht* Das absolute Element wird inhaltlich ganz wenig angedeutet im alten Landstreicher, den die religiöse Sehnsucht zum Aufsuchen neuer Sektierereien treibt*
Negativer noch als bei Gorki zeigt sich die Dramatik bei Maeterlinck in einigen seiner bekannten Erstlings* werke* Während bei dem Russen ein Zusammenhang der Handlung nur lose, wenn auch äußerlich * sichtbar die
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Individuen zusammenhält, zerfällt solche Einheit völlig bei dem Belgier* Die Isolierung der Einzelnen ist so weit ge* trieben, wie nur irgend möglich. Ihre Aktivität ist auf das Mindestmaß gesunken; sie tun ja kaum etwas, sie sprechen nur, und ihre Rede ist nicht eigentlich die ihnen eigene, sondern das Lautwerden ihres ihnen noch unbekannten und unbewußten Schicksals und das Sprechen des an sich stummen „Abgrundes“. Hier sind die Akteure allerdings nur noch Masken des Nichts, das im Hintergründe arbeitet als das wahre Agens; das Greisenalter wird mit Vorliebe zum Sprachrohr des Nichts ausgewählt — ein treffliches Symbol für die Verknüpfung von Alter und Tod.
Nicht eigentlich eine Handlung also wird vorgeführt. Es fehlt der Zusammenstoß zwischen den Menschen. Es geschieht etwas, das die Situation, die das Stück hindurch dauerte, in schreckender Weise abschneidet, aber dieses Abschneiden geschieht nicht von den Menschen, sondern durch eine außer ihnen stehende Macht, die garnicht einmal sich ihrer als Werkzeuge bedient, sondern sie nur als Zu^ schauer duldet. Es fehlt also Einheit und Deutlichkeit der Vorgänge; es ist nur ein Zustand, der aufgedeckt wird, oder eine Handlung, deren Resultat erst am Schlüsse des Stückes zum Ausdruck kommt.
Am schönsten ist dem belgischen Künstler die dekadente Form des Dramas geglückt in den „Blinden“. Junge und greise Blinde, die in einer Baumlichtung starr und steif nebeneinander sitzen, sich nach der Heimkehr in ihr Hospiz sehnen, den Priester, ihren Führer, vermissen und Er^ wägungen und Lamentationen laut werden lassen darüber, daß er nicht zurückkehrt, um sie weiter zu führen; — in
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ihrer Mitte aber sitzt eben dieser Priester in bleicher, stum* mer Todesstarrheit: „die stummen und starren Augen be* trachten nicht mehr die sichtbare Seite der Ewigkeit und scheinen blutbesudelt unter einer großen Zahl von undenk* liehen Schmerzen und Tränen,“ Zwischen den blinden Frauen und Männern entspinnt sich in ganz dunkler Nacht bei kärglichem Mondschein das angstvolle Fragen und Rufen nach dem Führer, Bis endlich der Hund des Hospi* tals einen Blinden zum Priester führt.
Es geschieht also kaum etwas. Was geschah und schick* salsvoll ist, liegt schon vor dem Beginne des Stücks. Das Chaos und seine verderbliche Nacht bildet den Mittel* punkt des Spiels. Seine Wirkungen breiten sich immer weiter aus und umschlingen plötzlich die Lebenden, bisher noch Zuschauenden. Doch tritt das Chaos nicht wie im „Nachtasyl“ noch zu isolierter mörderischer Tat hervor, sondern es bleibt gleichsam erstarrt — als ob es selbst dekadent geworden wäre.
Vielleicht das interessanteste der kleinen pessimistischen Dramen Maeterlincks ist „Mort de Tintagiles“. Eine alte Königin läßt ihren Enkel aus der Mitte seiner Schwestern entführen und töten. Ein Übergang liegt hier vor zwischen jenen Stücken, in denen der Hauptakteur der dunkle Abgrund ist, und jenen anderen, in denen die Handlung von sichtbaren Personen getragen ist. Hier bleibt nämlich die Handelnde im Turme unsichtbar, nur ihre Erwürgung des Enkels geht deut* lieh hörbar hinter verschlossener Tür vor sich. Aber ihre Dienerinnen, die den Enkel holen, werden sichtbar und agieren. Diese finstere Macht im dunklen Turm ist ganz die Repräsentation des Schicksals in „Intruse“, „Aveugles“,
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„Interieur“ und doch zugleich darüber hinaus gesteigert, Ihre abstrakte Geistigkeit: Grausamkeit, Unverständlich' keil:, Anonymität, ist die gleiche geblieben; nur dies hat sich verändert: während dort der Abgrund sozusagen ein allgemein menschlicher ist (Krankheit, Sterben, Unglücks' fall), ist er hier im „Tode des Tintagiles“ zu einer be' stimmten Person konkresziert, die den Mord verübt — aber freilich einen Mord, der mit jenen Sterbefällen noch dadurch verknüpft ist, daß das Mordmotiv vage und daß die Mörderin unsichtbar bleibt,
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Es leitet dieses Stück schon hinüber in die Kategorie der Dramatik des Dämonischen, Während die Dekadenz solche Menschen bevorzugt, die aus innerer Schwäche ZU' sammenbrechen, stellt die Dämonik in den Mittelpunkt ihrer Darstellung den Revolutionär, den Empörer und H asser, den Verführer und Vernichter. Man vergleiche nur das „Nachtasyl“ mit Wedekinds „Erdgeist“. Dort ein leises Wellenschlägen, nur dann und wann ein jähes Um' brechen und Rauschen der Woge; hier bei Wedekind ein krampfhaftes Zucken, ein furchtbarer Kampf, ein diabolisch Ungeheures, das die Kulturwelt vernichten will.
Dekadente Lyrik
Es möchte vielleicht etwas verspätet erscheinen, wenn wir nach so vielen Vorgängern eine Analyse der „Fleurs du mal“ Baudelaires versuchen. Aber man muß trotz aller Anerkennung mannigfacher Bemühungen doch sagen, daß die Klärung der Problematik des Aufbaues der „Blumen
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des Bösen“ bislang ebenso wenig geglückt ist, wie die metaphysische Erkennung des Wesens des großen Dichters selbst* Ja, eigentlich ist die konkrete Überlegung noch gar nicht auf die Struktur des Buches, also auf den Gedanken* gang des Zusammenhanges der Gedichte, eingestellt ge* wesen, sondern die Diskussion ist versandet in der Frage nach den Menschen, an die dieses oder jenes Gedicht ge* richtet wäre* Und doch ist dieses Suchen nach historischen Anknüpfungspunkten verhältnismäßig bedeutungslos, we* nigstens für die Frage nach der Disposition der Gedichte in der vorliegenden Aufeinanderfolge* Baudelaire selbst redet hierüber in einem Briefe an Alfred de Vigny ganz unmißverständlich86: „Das einzige Lob, das ich diesem Buche wünsche, besteht in der Anerkennung, daß es nicht ein bloßes Album ist, sondern daß es einen Anfang und ein Ende hat* Alle neuen Gedichte sind gemacht worden, um einem eigenen Rahmen angepaßt zu werden, den ich gewählt hatte*“ — Man darf nun freilich begründete Zweifel äußern, ob diese Absicht der Gleichartigkeit und der An* passung bei allen neu angefügten Gedichten von Erfolg gekrönt war; z* B* „Semper eadem“ und „Le masque“ sind im Rahmen dieses Gedichtbandes doch kaum von höherer Bedeutung* Immerhin bleibt die Absicht der irgend* wie sinnvollen Konstruktion im ganzen deutlich und die Aufzeigung der Logik der Gedichtfolge eine Notwendig* keit für das völlige Begreifen des Sinnes dieses Buches87.
Es handelt sich bei den „Fleurs du mal“ nicht um eine beliebige Aneinanderreihung inhaldich verschiedener Zyklen oder gar um ihre Durcheinanderflechtung, sondern um einen einzigen, großen, logisch gegliederten Zyklus. Der
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Gehalt des Zyklus aber ist das Leben des Dekadenten. Die AutoBiographie Baudelaires sub specie aeternitatis.
Darum steht als erstes Gedicht der Prolog „Au lecteur“88, der das allgemeine Thema des Buches formuliert: den Ennui. Dieser ist das Grundgefühl, dessen Melodie in allen Ge* dichten auf' und niedersteigt ; eine Lebenshaltung, deren Al> Wandlungen: Maskierungen, Katastrophen, Gegensätzlich' keiten, Anschwellungen und Niederbrüche, sich einspannen in den Ablauf des Lebens von der Geburt bis zum Tode.
In sechs großen Schichten bauen sich die Gedichte auf. Zunächst als breit hingelagerter Untergrund die Abteilung „Spleen et Ideal“ — 85 Gedichte umfassend89 — , dann „Tableaux Parisiens“ — mit 18 Gedichten — , drittens als Überleitung „Le Vin“ — 5 Poesien enthaltend — , darauf die eigentlichen „Fleurs du mal“ — 9 Gedichte umschließend, dann „Revolte“ — 3 Gedichte — , endlich als Krönung „La Mort“ in 6 Gedichten. Die ersten vier Teile leiten sich jeweils durch ein Gedichtwerk ein, welches die gleiche Rolle in ihrem kleineren Zyklus zu spielen hat, wie das Gedicht „Au lecteur“ im Rahmen der ganzen Folge.
„Spleen et Ideal“ umschreibt den Kampf zwischen Trübsinn und dem Streben zum Ideal. Seine Einleitung ist „Benediction“: Geburt und Schicksal des Dichters; die Mutter verabscheut ihn, die Mitmenschen quälen, sein Weib haßt und verachtet ihn, — er selbst aber erkennt in all solchem Unglück nur die Prüfung Gottes, der ihn läutern will.
Es klingt dies Gedicht in starkem und weltüberwindendem Tone aus. Doch erscheint diese heroische Haltung nicht so ganz gerechtfertigt, wenn man den Weitergang dieses
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Teiles und den schließlichen Abschluß des ganzen Buches erwägt: da jener mit der Tieftraurigkeit der „L'Irremediable“ und „L'Horloge“, dieser aber mit der Trostlosigkeit des „Le Voya ge“ endend viel eher den „Spleen“ als das Streben zum Ideal als den Kern des Lebens zu verkünden scheinen; wie denn auch das Leben des Dichters im ärgsten Pessk mismus versank, nicht aber zum Gott' und Welt'Ver' trauen sich erhob*
Man möchte den Fortschritt dieses ersten Teiles in vier Stationen gliedern* Deren erste Stufe umfaßte die Werke 2 bis 17 als die Entwicklung des Lebensbeginnes des Dich' tenden; ihre zweite beschriebe sein Erlebnis der Doppelt' heit von Himmel und Hölle in der Schönheit und Liebe (wurzelnd im verhängnisvollen Zusammenleben mit Jeanne Duval) in den Werken 18 bis 40; in der dritten Schicht: den Gedichten 41 bis 49, erschiene das Ideal durch Frau Sabatiers huldreiche Vermittlerrolle in nächster Nähe und beglückender Stärke; bis dann in der weiteren Folge des vierten Teiles wieder der Spleen die Übermacht gewinnend den Dichter in düstere Traurigkeit versenkt*
Die ersten Gedichte deuten auf die verschiedenen Eie' mente, deren Zusammenhang das Leben des dekadenten Dichters ist: das Leiden dessen, den seine meervogeh gleichen Kräfte zum König im Azur vorbestimmen, doch am Gang in der irdischen Welt hindern — die Sehnsucht zum Aufschwung in die Glanzgefilde der Heiterkeit und zur intuitiven Einfühlung in die Sprache der Blumen und der stummen Dinge — das Verständnis für die vielfältig auf ihre Wesensgleichheit deutenden Äußerungen der Düfte und Farben und Töne — das Lob der naturhaften Ur'
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geschlechter voll Kraft und Gesundheit — dann zu neuem Thema weitergreifend , das individuellere Schicksal des Dichters durcheilend: der Preis der großen MabMeister 90 ausklingend in das Bekenntnis zur Kunst als dem „glühen' den Seufzer, der hinrollt von Zeiten zu Zeiten0, um an der Küste der Ewigkeit Gottes zu ersterben — die Klage um seiner Muse Leid und Armut — das Bekenntnis zu seiner eigenen, nur selten von Sonne und Glück erhellten Düsterkeit — die Neigung zum Zigeunerhaften und meer' haft Wogenden des Lebens — der reuelose Stolz des Sünders und die göttliche Strafe, die dem Hochmutsvollen droht» Die zweite Schichtung weist auf die Schönheit und ihre Einheit mit der Wollust in der Zwiespältigkeit des heroi' sehen Lebens hin: die gigantische Kraft und Größe des Ideals — das DoppebGesicht des Siegerstolzes vereint mit der andersseitigen Verzerrtheit im Weinen voll Lebens' Überdruß — die Zwiegeburt der Schönheit aus Hölle und Himmel; und nun nach diesen vorbereitenden Strophen' folgen ein in sich zusammen sich neu schließender Zyklus des Rühmens und Verfluchens der janushaften Weiblich' keit: präludierend mit Versen voll Sehnsucht und BeraU' schung, in deren Schluß freilich schon das Leiden unter der teilnahmlosen Kälte des Weibes anklingt — ein Motiv, welches die folgenden vier Gedichte in meisterlicher Kühn' heit und Härte entfalten — dann das Auf und Ab der Neigung: bald in fatalistischer Gedanklichkeit das Sterben der Geliebten übersinnend, bald aus eigener Schwäche ihren Trost erflehend, dann wieder voll Empörung wider die Despotie der Liebe oder in sklavischer Unterwürfigkeit zu Jeglichem bereit oder in dankbarer Erinnerung der Trau'
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lichkeiten früherer Gemeinsamkeiten gedenkend — um in fünf abschließenden Sonetten der Vieh Geliebten Denkmal und Ruhm zur Schau zu stellen.
Nicht Glanz und Freude waren die Erlebnisse, deren Umschreibung diese Gedichtreihe vergeistigt, sondern Dum kel und Schmerz, vergleichbar den hochgerühmten Gestalt ten der Nacht und des Tages, welche in der Grabkapelle der Mediceer in leidvollen Träumen sich winden. Nun aber bricht in scharfer Gegensätzlichkeit das volle Licht und die jähe Grelle aus der idealen Weiblichkeit in das Auge des Poeten herein: einleitend in halb scherzhaftem Zwiegespräch, überströmend dann in acht Gedichten der Verehrung des Engels voll Fröhlichkeit, Güte, Schönheit und Glück,
Aber auch dieser Kreis der Beseligung hat seine Tarn gente des Widerwillens: „aimable pestilence!“ — und so stürzt gleich darauf der allzu schöne Wunderbau der Glück" Seligkeit in sich zusammen. Der infernalische Zauber der „schwarzen Venus“ siegt über die englische Lichtgestalt. Ohne doch selbst die Beute dieses Sieges sich zu eigen machen zu können ; nur die Allmacht des Ideals wird zer" brochen. Viele Seelen steigen in den Gedichten des vierten Teiles vor uns auf: Agathe, Franziska, Sisina, Marguerite91; an sie wendet sich das Herz Baudelaires in Gesängen der Wehmut, des Lobpreises, liebesinniger Grausamkeit — um sich dann nach einigen Strophenreihen, die Persönlich" Überpersönliches dichterisch durchdringen, wieder sich selbst und seinem Weltschmerzzu überlassen in Gedichten, welche ihren Kern in vier dem Spleen gewidmeten Poesien haben, um die sich dann die anderen Dokumente der Müdigkeit,
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Trostlosigkeit, Trauer und Verzweiflung als Schalen gleich' sam herum legen ; so endet dieser Teil der „Blumen des Bösen“ im Banne des Negativen*
Nachdem sich der Geist des Dekadenten so in Leiden und unerfüllter oder vernichteter Sehnsucht gesättigt hat, wendet er sich der Umwelt zu* Paris umfängt ihn mit den Wirklichkeiten der schmerzlichen Zerrissenheit, die er selbst in sich spürt und deren Menschlichkeit in seiner brüder' liehen Seele das dichterische Echo weckt* Das EinleitungS' gedieht und seine nächste Folge haben eine gewisse gleich' maßvolle Attitüde, deren Ungerührtheit aber alsbald in weiche Anteilnahme sich wandelnd die Zerbrochenen und Leidtragenden in ihre Sympathie hüllt und die Wandel' färben der Lasterhaften beschreibt*
Aus der Beklommenheit des Lebens aber in solcher Um' weit hebt den Menschen der Rausch empor* Der dritte Teil der „Fleurs“ widmet sich dem Wein und seinen Geschöpfen, den künstlichen Paradiesen voll imaginärer Seligkeit*
Doch in dieser rauschvoll überempfindlichen Stimmung erblühen die absonderlichsten Blumen : die wahren „Fleurs du mal“* Das vorbereitende Sonett erwählt das Thema: Wollust oder Vernichtung in ihrer verlockenden Wandel' form* Die weiteren Gedichte objektivieren diesen Gefühls' gehalt: Lustmord, Lesbische Liebe, die Verschwisterung von Ausschweifung und Tod und Verblutung. Um dann wiederum auf das Persönlich'Eigenste zurückgewendet in das Lied der Reue und des Abscheues auszuklingen.
Aber ist solch Widerwille gegen die widerlichen Wirk' lichkeiten nicht zugleich ein Protest gegen die weltschöpfe' rische Macht? Wer schuf den Menschen in seiner Zwie'
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spältigkeit des Lasters und der Reinheit? Ist Gott nicht mitschuldig an dem Frevlerischen des Irdischen ? ! Der fünfte Teil der „Fleurs“ zieht die logische Folgerung dieser Über" legung: „Revolte“. Die „Verleugnung des HL Petrus“ zollt dem lügnerischen Jünger Christi Beifall: „Saint Pierre a renie Jesus ♦ . . il a bien fait!“, „Abel et Cain“ schließt mit der Aufforderung: „Race de Cain, au ciel monte — Et sur la terre jette Dieul“; bis schließlich die vielgerühm" ten „Les Litanies de Satan“ zum Gesang des Lobes der höllischen Majestät anschwellen.
Hiermit ist der Gipfel des wider-göttlichen Lebens er" stiegen. Nur noch eine negative Macht bleibt von der dichterischen Phantasie noch unergriffen, wenn auch oft gestreift: „La Mort“, Ihr ist der letzte Teil der „Fleurs“ Vorbehalten, Vielleicht schloß die erste Ausgabe dieses Buches sinngemäßer, als die folgende, da sie sich zum Ab" Schluß auf drei Sonette beschränkte, deren einziger Inhalt eben der Tod war; später sind noch drei weitere Gedichte angefügt worden, welche zwar dem Gehalte nach sich ganz gut dem ursprünglichen Stamme zuordnen, aber doch in ihrer träumerischen Nachdenklichkeit und Zartheit in Etwas die Gewalt beeinträchtigen, die wir dem mantegna" haften Schlußwort dieses Buches der Unerbittlichkeit wüm sehen möchten. Aber unter allen Umständen und trotz aller Bedenklichkeiten sozusagen abstrakter Natur bleibt zum wenigsten das letzte der Gedichte „Le Voyage“ ein Werk höchster Meisterschaft. Es ist die Gesamt"Abrech" nung über das Leben der Dekadenz. Die Sehnsucht schweift suchend durch die Länder und Religionen dieser Erde, um schließlich zu erfahren:
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„Le monde, monotone et petit, aujourd'hui,
Hier, demain, toujours, nous fait voir notre image: Une oasis d'horreur dans un desert d'ennui!“
und so wendet sich, wie der ganze Zyklus, auch dieser allerletzte Teil dem Tode zu als Erlöser aus dieser irdischen Einöde des Schmerzes:
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„Verse-nous ton poison pour qu'il nous reconforte!
Nous voulons, tant ce feu nous brüle le cerveau,
Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu'importe? Au fond de l'inconnu pour trouver du nouveau!“
* *
*
Es liegt in allen „Prosagedichten“ Baudelaires jene Stimmung, von der im Anfang die Rede war. Sie scheinen viel mehr zu sagen, als sie wirklich aussprechen. Sie wirken durch das, was sie verschweigen. Ohne daß dies Verschwiegene als eine Neuigkeit geahnt würde, die überraschend käme, ein Paradoxon, das verblüffte, ein Geheimnis voll Erstarrungsmacht. Sondern hier steht eine Stimmung, ein Märchen oder eine Gestalt vor uns und wird leise andeutend aber doch genau geschildert. Aber diese Schilderung bleibt nun nicht bloße Schilderung, voll Freude am Gegebenen der Wirklichkeit oder der Phantasie — wie etwa in den Fragmenten M. de Guerins — nicht also reines Sich'Erschöpfen in dieser oder jener Situations-* malerei, — sondern jede Gestalt, jeder Satz, jedes Wort wird hier zum Zeichen für das Negative, das düstere und gewaltige Jenseits der endlichen Welt. Darum sind sie
16 v. Sydow, Dekadenz
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vielleicht präziser negativ als die „Fleurs du mal“ und studierenswerter als jene*
Es wendet sich wohl gegen diese These ein historisches Bedenken: hat Baudelaire seinen Ruhm als das „Genie der Dekadenz“ nicht durch seine Gedichte erlangt? Sind seine Prosagedichte nicht ziemlich einflußlos geblieben, während jene vielfältig weiterwirkten? — Aber es scheint mir, daß diese Höherschätzung der Sonette eben auf einem Stand* punkt fußt, der für die Frage nach der sichtbaren Macht der Dekadenz in diesen Dingen belanglos sein müßte* Es ist nämlich gerade das Nicht'Negative der eigentlichen Gedichte gewesen, was sie überschätzen ließ ; die feste par* naßhafte Formung und das ihr entstrahlende Gefühl: in solcher FomvFestigkeit einen unerschütterlichen Halt im Gewoge der komplizierten Inhaltlichkeit zu fassen. Und ganz gewiß liegt in diesem eigenartigen Kontrast zwischen Inhalt und Form ein ästhetischer Reiz von erstaunlicher Kraft (vergl. „Lettres“ S* 238 f.). Aber bedeutsamer und zum mindesten psychologisch interessanter sind doch jene Werke, in denen Inhalt und Form weniger schroff gegen* sätzlich zueinander stehen; dies aber ist bei den „Poemes en prose“ durchaus der Fall: sie sind negativ durch und durch*
Baudelaire selbst hat sich in seinen Briefen ein paarmal über diese Prosagedichte geäußert ; ihre Komponierung setze voraus „eine bizarre Exaltation, die der Schauspiele, Volks* massen, Konzerte, selbst der Laternen bedarf“, ihrem In* halte nach seien sie gleichartig den „Fleurs du mal“, aber freier, detaillierter und spöttischer92* — Wir wissen nicht, welche Werke er höher schätzte. Man könnte meinen, daß
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sein Erstlingswerk für den Autor regelmäßig weniger wert' voll sei, als ein folgendes Buch; doch bleibt dies nur Ver' mutung. *
Die Themata der Prosagedichte sind ein wenig anders geartet, als die der Gedichte. Es fehlen alle zu rauhen und zu entschiedenen Töne. Das Irdisch'Kräftige ist noch mehr zurückgedrängt als dort, die harten Dissonanzen und die blasphemischen Gebete fehlen; das Stoffliche ist gleichsam noch mehr in Äther aufgelöst. Es fliegt durch sie hin etwas, das an Wolkiges gemahnt und an Schwebendes, an Leicht' füßigkeit und an ein zartes Lächeln. Sie haben nicht die Gebundenheit des Nachklanges, wie die Gedichte. Viel' leicht treffen diese schärfer und spitzer in das Herz, wohl erschüttern sie tiefer die Seele bis in ihre tiefste Schicht hinunter, — aber dieses Erbeben und diese Heftigkeit bleiben beschlossen innerhalb des Gedichtes und seiner unmittel' baren Lesung. Mit dem letzten Vers hört auch das Schick' sal auf, an die Türe des Herzens dröhnend zu schlagen, und mit dem Gedenken an das Strophisch 'Versmäßige der Worte erlischt auch das Wissen um ihren Inhalt.
Anders die Wirkung der Prosagedichte. Baudelaire charakterisiert sie in ihrer Widmung folgendermaßen: eine poetische Prosa, musikalisch ohne Rhythmus und ohne Reim, schmiegsam und fest genug, um sich den lyrischen Bewegungen der Seele anzupassen, den Windungen der Träumerei, den plötzlichen Erschütterungen des Gewissens: ein Ideal, geboren aus dem großstädtischen Leben und aus dem Anwachsen seiner zahllosen Wechselbeziehungen. — Man könnte zweifeln: was haben diese kleinen und klein' sten Gedichte mit dem Rhythmus der Großstädte zu tun
und mit ihrer rastlosen Bewegtheit und mit ihrer riesen* haft ausgedehnten Kraft? Ist in diesen Städten nicht alles grenzenlos, weithin zerflatternd in allem Treiben, immer über sich hinaus in aller Tat wirkend, immer unter dem Aspekte des Weiterschreitens in jedem Mo* ment? — Nun: eben diese vielfache Kompliziertheit der Wirklichkeit und ihr Nicht*Stillestehen ist stimmungshaft in jenem Buche geformt worden. Denn wenn sie auch eine Handlung enthalten, eine Begrenzung durch ein Thema, ein Gespräch, eine Tat, eine Schilderung, so sind sie hierin nicht erschöpft; sondern nachklingend verstärkt sich der Eindruck so mancher dieser wundervollen Künstlichkeiten in oft beunruhigender Weise, Es liegt dieser Erfolg in zweierlei begründet. Einmal in der stark reflektierenden Art, mit der die Erlebnisse gestaltet sind; der Leser fühlt Neigung, die kurz angedeutete Reflexion Baudelaires über sein Erlebnis selbständig weiter zu führen. Und dann zweitens in der formalen Konstruktion der Gedichte, Bau* delaire hat in einer der erst spät veröffentlichten Vorreden zu seinen „Fleurs du mal“ gesagt: „Daß der poetische Ausdruck (dadurch berührt er sich mit der Musik und der Mathematik) die horizontale, die gerade aufsteigende, die gerade hinabsteigende Linie nachahmen kann, daß er senk* recht zum Himmel aufsteigen kann ohne Atemnot, oder senkrecht zur Hölle hinabsteigen . ♦ ♦ ; daß er der Spirale folgen kann, die Kegellinie beschreiben oder das Zickzack einer Reihe übereinander gestellter Winkel“93, Für die Auf* fassung des Künstlers besitzt also das Wort einen musik* haften Gehalt neben seinem begrifflichen Inhalte. In der idealistischen Poesie wird diese Bewegung streng geregelt
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und zu den akzentuierten Versfüßen und Strophen zu¬ sammengefaßt. In den Prosagedichten aber fehlt diese Be¬ herrschung des Melodiösen durch die etwas rohe Gliederung nach langen und kurzen Silbenwerten. Der Rhythmus bleibt unterhalb der Oberfläche des Werkes, er wirft nur dann und wann kleine Ringe und Strudel an den Wortspiegel ; indem er so gleichsam anonym einhergeht, gewinnt er durch seine Verborgenheit die Kraft, über den Rahmen des Themas hinaus zu wirken, da der Genießende von selbst danach strebt: das vom Dichter nicht zu Ende geführte Musikalische des Werkes seinerseits zu vollenden.
Der Inhalt der Prosagedichte kommt diesem Andeutungs¬ haften, Nicht-Beendeten entgegen. Er ist gleichsam die Seele der „Fleurs du mal“, befreit von ihrer Eckigkeit, Kantigkeit und ihrem musikalischen Panzerhemd. Es ist deren Substanz genommen und irgend wie verfeinert, ge¬ glättet, poliert, zerstampft in einem Zaubermörser und in die Luft geblasen und doch wiederum durch Feenkraft festgehalten und zusammengeschlossen, so daß das Sonnen¬ licht durch diese schwebende Ballung dringend in tausend¬ fältiges Schillern sich verliert. Was Baudelaire an Dela¬ croix' Werken pries, gilt in eigentlichster Weise von seinen eigenen Prosagedichten : besser als in irgend einem anderen Kunstwerk ist hier ausgedrückt das Unfaßbare, der Traum, die Nerven, die Seele. Freilich ist dies eine anders geartete Seele, als die des großen Malers. Denn hier ist alles nur Symbol jener Resignation und Müdigkeit, die wir aus den Erstlings-Gedichten Baudelaires kennen, in kleine und enge Szenen gefaßt: Bekenntnisse des Künstlers, notizenhafte Schilderungen irgend eines Seelenzustandes, Porträte schöner
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Frauen und Maitressen; alle Stimmungen wirbeln bunt durcheinander: höchste Verbitterung und sanfte Trauer, mildes Entsagen und härteste Ironie — den Grundton aber bildet (wiewohl sich der Wortlaut fernhält von aller müsset' haften Sentimentalität und rein objektiv zu schildern scheint) eine müde Resignation, die langsam, Wort für Wort, Laut für Laut das Herz zerbricht.
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SCHLUSSKAPITEL
DAS VERFÜHRERISCHE DER DEKADENZ
Wir haben bisher bei der Analyse der dekadenten Gefühle die Seite der Negation sehr stark betont und so ist die De* kadenz nicht ganz zu ihrem Recht gekommen. Denn ihre Struktur ist eben doppeldeutig, nicht so einseitig. Es lebt im Dekadenten neben allem Leiden doch eine große, weit' überwindende Stimmung des Mutes und der Freudigkeit. Wie könnte man sonst die unermüdlich rege Geistigkeit Baudelaires verstehen wollen, die immer neu zu ihrem schmerzhaften Blick auf das eigene Unglück sich zwang. Es liegt bei aller Mangelhaftigkeit doch der oft auf leuchtende Schimmer unauslöschlicher Jugend gerade über die Gesichter der bedeutenden Dekadenten gebreitet. Und wie möchte man sie nicht in gewissem Grade um ihre Lebensaufgabe beneiden? Stehen sie doch gleichsam als Schildwachen am äußersten Rande des Weltlichen, nicht so borniert ins rein Negative gerissen, wie der dämonische Mensch, und auch nicht engherzig auf das bloß Positive oder Absolutistische verwiesen. Mit sehenden Augen blicken sie hinaus in die äußerste Finsternis, in welcher der Kulturmensch ratlos herumtappt und der Dämonische rückhaltslos ertrinkt. Vor ihrem Schauen ist das Rätselhafte der drei Reiche offen' kundig klar und gelöst \ sie erkennen am schärfsten den Zu'
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sammenhang der Dinge und Geister* Daß sie praktisch ver* sagen, gehört zu ihrer Kreuzeslast, die sie wie jeder Andere tragen müssen* Was sie anfassen, bekommt oft eine Locker* keit, die es aus der Festigkeit der Gegebenheit beseligend erlöst, erhält eine gewisse kristallene Klarheit, die geheime Verborgenheiten in der Struktur der Dinge sehen läßt. Denn alles Fragwürdige des Daseins gewinnt unter ihren Händen eine Deutlichkeit, die zwar unwahr vergrößernd, doch dem, der im erlernten Verlogenen und Verschönerten der Wirk* lichkeit lebt, ein unendlich nötiges Korrektiv gewährt. Es wurzelt in dieser Tatsächlichkeit wohl größtenteils das Ver* führerische der Dekadenz.
Eine der merkwürdigsten unseres an Merkwürdigkeiten doch überreichen Lebens — diese Verführung zur Dekadenz und durch die Dekadenz! Sollte man nicht — im Banne der verbreiteten gutmütigen Lebensauffassung — meinen: Abschreckung, Scheuerregung wären die Grenzzirkel der Dekadenz? Und doch erfahren wir alle Tage das Gegen* teil, sehen wir wie Kräftige und Selbstbewußte mit geschickter Kunstfertigkeit sich den Gewohnheiten der Schwachen und Schwankenden unterwerfen. Wie ist dies möglich?
Vielleicht können wir noch an andere Erscheinungen er* innern, die in dieselbe Kategorie der Geringschätzung des Lebens hineingehören: die tollkühne Besteigung der Berg* gipfel und die Waghalsigkeiten des Krieges.
Man hat wohl gesagt, daß das menschliche Kraftbewußt* sein, das Streben nach Ausdehnung der menschlichen Macht unsere Achtung vor der Kühnheit des Bergsteigers erkläre. Wie ein Symbol wirke der Mensch auf der Spitze des Fel* sens am Abgrund — ein Symbol menschlicher Kraft. Er,
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der Kühne, handele im Namen des ganzen Geschlechtes, das durch ihn repräsentiert werde* Nicht er allein steht auf der Höhe inmitten der Abgründe, sondern er ist nur der Gesandte, geleitet vom Willen der Menschheit, die es nur nicht der Mühe für wert hält, in ihrer Gesamtheit dort sich einzufinden. Wie gewisse Gärten, von ihren Besitzern dem öffentlichen Gebrauch anheimgegeben, dann und wann ge* schlossen werden, um das Herrschaftsrecht ihrer Eigentümer nicht an die Öffentlichkeit zu verlieren, so erscheint unv gekehrt der Wanderer in den entlegensten Gegenden, um das Herrschaftsrecht der Menschheit zu repräsentieren.
Schwerer zu lösende Verknüpfungen bietet das Problem der kriegerischen Tat. Gewiß ist es das Wesen des Krieges, daß das Individuum sich völlig eins mit seinem Volke fühlend sein Leben für das ruhmvolle Glück des Staates einsetzt. Aber damit ist unsere Lust am Einzelfall des kriegerischen Geschehnisses noch nicht erklärt. Sicherlich macht der Kampf der geschlossenen Truppenmacht einen schon durch die Masse imponierenden Eindruck. Aber höher stellen wir doch die Tat, in der ein Einzelner sich als Mutig' Kraftvoller bewährte; daher unsere Sehnsucht nach dem Wissen um Einzelheiten der Kämpfe, um das spezielle Vep dienst dieses oder jenes Feldherrn, daher unser Streben: Ruhm und Ehrung dem obersten Führer zuteil werden zu lassen ; so daß der Sieg nur als der Erfolg dieses einen Führers erscheint. Im Feldherrn nennt und meint das Volk sich selbst.
Wenn im Bergsteiger sich die Menschheit ehrt, so ehrt sich im Feldherrn das Volk. In beiden Fällen repräsentiert der Geehrte eine unter ihm stehende Einheit — dort sozu' sagen mit dekorativer Geste, hier als wirksame Aktivität.
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Diese Erklärung versagt aber, wenn wir das Gebiet der Dekadenz betreten. Hier kann das zur Tat Anreizende nicht die Hoffnung auf die Achtung durch Menschheit und Volks* tum sein, denn beide Wesenheiten versagen deutlich und unüberhörbar dem Dekadenten ihre Anerkennung. Hier muß nach einer anderen Motivation gefragt werden.
Man mag hier zunächst an den Abenteurer denken. Dieser behandelt das Unberechenbare als Berechenbares — so lautet Simmels Definition, und er fühlt sich wohl in dieser Para* doxie des Lebens. Aber so wenig dieser Typus die öffent* liehe Achtung genießt, wiewohl auch er bereit ist, sein Leben zu verlieren — so wenig scheint er auch Verführerisches zu besitzen. Man macht sich nicht zum Abenteurer, wenn man nicht schon einer ist. Wohl aber gibt es eine Sehnsucht zur Dekadenz, auch wenn man gar nicht dekadent ist. Und wiederum stellt sich die Frage, wie ist dies zu erklären?
Oder haben wir in jenen zwei Typen des Bergsteigers und des Kriegers eine Stufenleiter gefunden, die wir nur noch weiter hinabzusteigen brauchen, um unser Ziel zu er* reichen? Der Bergsteiger symbolisiere die Menschheit, der Krieger das Volk — wäre der Dekadente auf sich selbst be* schränkt? Sollte es so sein, daß nunmehr das Individuum als Individuum zur Vereinzelung und Ungebundenheit heraus* tritt aus jenen machtvollen Einheiten, welche die Verein* zelung hemmten ? Die Dekadenz wäre alsdann die Konzen* tration des Eigenwillens, der nicht flüßig im Bette des all* gemeineren Willens von Volk und Menschheit fließen mag, oder die Verhärtung des Handelns in eigensinniger Zurück* haltung, die Versteifung des Gefühles auf sich selbst. Und sicherlich sind damit dekadente Charakteristika genannt.
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Ohne doch damit das für unser Problem Wesentliche zu treffen* Denn nun erschiene die Dekadenz als eine bloß ge* hemmte Menschheit* Und ohne die Kraft zu verführen. Denn „verführen“ heißt doch eine positive Lockung aus' üben, locken kann man nur mit der Erhöhung des mensch' liehen Kraftbewußtseins; jenes sich in sich Zurückhalten ist aber das Gegenteil von der Steigerung der Macht — denn es ist ja die Enthaltung von der Tat, der Trägerin und Vor* aussetzung der machtvollen Autorität. Und so bleibt bei solchem an Hegel orientierten Hinweis auf das Bloß'Indivi' duelle unser eigentliches Problem ungelöst: woher das Lockende der Dekadenz?
Eine Steigerung der Lebensmacht durch die Dekadenz — dies ist das Problem und zugleich seine Lösung* Seine Paradoxie wird sich vielleicht in etwas mildern, wenn wir an die bekannte Paradoxie des Christentums erinnern: daß der reiche Jüngling durch die Ablegung seines Reichtums zwar äußerlich ärmer, aber innerlich reicher wird* „Nihil habentes, omnia possidentes“, sagten die Franziskaner von sich* Neben dem kulturellen Alltagsleben existiert also ein anderes, das als höher empfunden wird* Man kann auf das Kulturleben verzichten und doch reicher und durch die Teil' nähme am göttlichen Leben mächtiger als die übrigen Mem sehen werden. — Etwas ganz Analoges spricht sich in der Verführung durch die Dekadenz aus. Es wird hier eine Lebendigkeit erlebt, die außerhalb des unmittelbaren Ver* ständnisses des Kulturmenschen liegt* Nicht freilich in dem Sinne, als ob etwas in Wirksamkeit träte, das der Kultur radikal fremd wäre, sondern in dem Sinne, daß weltwirk' same Wesenheiten zu einer Selbständigkeit und Größe heran'
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wachsen, die ihnen sonst versagt bleibt. Und daß dadurch der bewußt reflektierende Blick und das bewußte Erlebnis auf Dinge sich richten, die sonst absichtsvoll übersehen und nicht beachtet wurden.
Mit anderen Worten: der Dekadente weiß mehr als der Kulturmensch. Der Dekadente weiß um den Ab* grund, über den sich das kulturelle Treiben wie ein Seil spannt. Der Kulturmensch lebt in dem Glauben, daß diese Welt und Menschheit die einzig möglichen sind, oder wenig' stens ist es diese Auffassung, die dem Kulturleben seinen eigentlichen Charakter verleiht. Der Dekadent weiß, daß diese Auffassung ein Irrtum ist, und daß tausend andere Explikationsmöglichkeiten des göttlichen Lebenstriebes exh stieren könnten.
Von hier aus erklärt sich die Überschwänglichkeit, die Manche zur Schau tragen, deren Blicke diesen Abgrund der Relativität alles Daseins gelotet haben. Eine Trunkenheit, ein Sichverlieren in diese grenzenlosen Abgründe, ein Sich' aufgeben angesichts dieser ungeheuren Grundlosigkeit. Denn all diese Abgründlichkeit wird nicht als etwas Starres, Totes erlebt, sondern als eine sozusagen gestaltlose Menschlich' keit, die sich aufgelöst hat. Als ein Wirbeln, ein Hinundher' Fließen, als ein geistiger Glanz. Das Subjekt selbst erlebt leibhaft dies Hinausgleiten aus der kulturellen Wirklichkeit. Wiewohl seinen verfestigenden Halt im Absoluten findend, strömt es doch mit in jenem Wirbel, der sich chaotisch um die insulare Kulturwelt und in ihre vielfach zerzackten Küsten drängt. — Und eben diese Doppelheit des Daseins : die Existenz vor der Kultur'Ordnung und jenseits ihrer im Chaos — dies ist es, was allerdings eine besondere Typologie
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des Dekadenten ermöglicht* Und was zugleich die letzte Erklärung für das Verführerische der Dekadenz bildet: der Dekadente hat Teil an einer Leben digkeit, die größer ist als jeder denkbare Umfang der positiv* absoluten Kultur (vergl. E. v* Sydow: „Der Wert der Dekadenz* Kultur“ in „1920, Neue Blätter für Kunst und Dichtung“ [Dresden], Jan./Febr.)*
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Diese Bewußtheit um Dinge, die irgendwie unbeachtet oder im Verborgenen bleiben — sollten, ist es, was jene Generationen auszeichnete, die vom „Mal du Siede“ er* griffen waren* Auch früher waren die ganzen Komplexe der negativen Wesenheiten beachtet und betrachtet worden, vielleicht noch präziser analysiert, als späterhin* Aber vor dem 18. Jahrhundert bleibt der weltschöpferische Wille um beugsam angesichts der drängenden Bedrohungen. Denn man hat eine Hilfe von oben her, zugesichert durch gött- liehe Prophetie. Man weiß Bescheid mit dem Rätsel des Todes, hat klare Antworten auf die Fragen nach dem Ur¬ sprung von Krankheit, Not und Bosheit* Der gottmensch¬ liche Geist triumphierte kraftvoll über die Negativitäten des Lebens* Und es erhält sich aufrecht das starke Pathos, das den jenseitigen Himmel als die eigentliche Heimstatt des Menschen erklärt*
Im 18* Jahrhundert aber beginnt der Zusammenbruch der katholischen Religion, beginnt zugleich der Lebensüberdruß. „Wie ein Zauberkreis“, sagt Renan sehr gut, „umfaßt der Katholizismus das ganze Leben mit so großer Kraft, daß alles fade erscheint, sobald man seiner beraubt ist.“ Ohne Verbindung mit der Zentralmacht des Lebens überhaupt wird das menschliche Leben inhaltsleer und den Menschen
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selbst ergreift nach dem ersten Rausch, der aus dem Be* wußtsein der Selbständigkeit entspringt, bald das Gefühl des Lebensüberdrusses, das Bewußtsein von der Sinnlosig" keit des Daseins* Ein französischer Literaturhistoriker, Ed* Scherer, hat diesen Gefühlszustand des 18. Jahrhunderts so charakterisiert: „Das achtzehnte Jahrhundert trägt es über* all mit sich, dies unheilbare Leiden des Lebensüberdrusses. Dies ist sein Grund, ich möchte sagen sein Prinzip. Hierin finden seine Aufregungen ihre Erklärung, seine Verab" scheuungen, seine versteckten Traurigkeiten, die Kühnheit seiner Laster. Es schwankt, ohne einen festen Halt zu finden.
Es beschäftigt sich mit allem, um immer wieder in eine
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noch tiefere Enttäuschung zurückzufallen. Jede Frucht, die jene Zeit kostet, läßt ihr einen immer bitteren Aschern geschmack zurück. Sie peitscht sich auf und gelangt doch nicht dazu, sich lebendig zu fühlen. Sie ist traurig, traurig wie der Tod, und hat nicht einmal die Größe der Melan* cholie. Die ganze Welt gilt ihr nur als Schauspiel, sie selbst sieht betrachtend ihrem eigenen Leben zu, und dies Schauspiel hat aufgehört, sie zu interessieren. Müdigkeit, innereTrockem heit, Niederbruch aller Lebenskräfte — dahin istmangekorm men“ („Etudes sur la literature contemporaine“, Bd. II, S. 99).
Von nun an beginnt der Triumphzug des „Ennui“ durch die französische Kultur und durch die Gebiete der von ihr stark beeinflußten Literaturen. Mit außerordentlicher Kraft, fast monomanisch konzentriert, versenkten sich die neueren Romantiker in die Rätsel der negativen Welt. Nichts soll mehr unenthüllt bleiben, die Verhüllungen, die ein anstäm diger Geschmack um die Sonderbarkeiten gewisser seelischer Erscheinungen gelegt hatte, werden mit fast krankhafter Ge"
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schwindigkeit fortgezogen, und jeder blickt voll Aufmerk' samkeit und voll eines gewissen Stolzes in den Abgrund, den er in sich und in den Seelen der Mitmenschen findet,
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Die Dekadenz hat eine viel stärkere Verführungskraft, als die Dämonik, Es ist ja leicht begreiflich, warum man lieber den Greis, als den Empörer zu erleben strebt — falls man nämlich gezwungen ist: in solchem Erlebnis und solcher Verwandlung seine eigene Ichheit aufs Spiel zu setzen. Denn in jenem Falle hat man immer noch die stillschweh gende Voraussetzung gemacht, daß zu jeder beliebigen Zeit die Verwandlung wieder rückgängig gemacht werden könnte; sobald die Existenz in Leid und Müdigkeit nicht mehr zu' sagt, kehrt man flugs zur Lebendigkeit in Freude und Kraft zurück ! Dieser Reintegrationsprozeß scheint völlig der eigenen Kraft anheimgestellt, sodaß er jederzeit in die Wege geleitet werden kann. Bei dem Dämonischen ist alles anders: wer sich dem Verbrechen zuwendet, ist in seinem Leben von dem Verhalten der Anderen abhängig, kann nicht zu jedem ihm passend scheinenden Zeitpunkt „wieder anständig werden“, sondern muß erst die vorherige Zustimmung der Mitmenschen einholen, die ihm gewöhnlich in praxi ver* sagt bleibt. Überdies heißt aber „verführt werden“ soviel wie: in seiner Lebensweise nicht gefestigt sein, und der Halt' lose ist gewöhnlich ein Schwächling; somit liegt dem, der sich von der Dekadenz verführen läßt, der Zustand der Müdig' keit und Greisenhaftigkeit von vornherein ziemlich nahe — näher jedenfalls als das Dämonische, das wohl den Druck des fordernden Positiven zu durchbrechen „aufreizt“, ohne daß man aber eigentlich von ihm „verführt“ werden kann.
17 v. Sydow, Dekadenz
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DIE DEKADENZ ALS KULTURELLES MITTEL
So sehr man die Reihe früherer Generationen beklagen mag, die so gänzlich um alle Freude des Daseins betrogen scheinen und völlig entleert aller lebensfördernden Element tarkräfte, so wenig darf man sich doch von allzu mitleids* voller Gesinnung hindern lassen, das Positive zu sehen und zu loben, das aus dem bitteren Quell solcher Erlebnisse entsprang* Das wesentliche Resultat kann kurz dahin be* stimmt werden; die moderne Welt hat das Negative anerkennend in sich aufgenommen. Während die christliche Vergangenheit mit allen möglichen Waffen gegen die negativen Kräfte zu Felde zog, nähert sich unsere vor* urteilslosere Zeit dem „Abgrunde“ vorsichtig und überlegend, anerkennt seine Existenz als eine Notwendigkeit, vermeidet den Don Quichotte*Kampf als unnütze Kraftvergeudung und sucht nur nach Mitteln: die negativen Tendenzen auf eine möglichst geringe Wirksamkeit einzuschränken* Der moderne Mensch will nicht bloß über das Leben, sondern auch über das Negative herrschen, indem er dessen relative Notwendigkeit einsieht*
Es ergibt sich aus dieser mehr prophylaktischen Stellung* nähme eine Nähe zwischen positiven und negativen Kultur* mächten, die der früheren Zeit theoretisch unbegreiflich und
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praktisch unmöglich gewesen wäre. Man kann ruhig sagen,
daß dem modernen Menschen ein Dasein ohne negative
Beimischung langweilig und unerträglich fade erscheint*
Goethe hat die typische Wendung gebraucht: „Ehedierömi*
sehe Republik ausgeartet, als jahrhundertelang kein Ehe*
bruch vorgekommen, gegen den Vatermord gar kein Gesetz
nötig geschienen usw*, sei es doch übrigens so langweilig
und nüchtern hergegangen, daß kein honetter Mensch sich
dort gelebt zu haben wünschen möchte“ („Goethes Unter*
haltungen mit dem Kanzler Fr, von Müller“, S. 132). Wenn
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man diese charakteristische Äußerung, der sich aus späteren Schriftstellern gleichartige in zahlloser Meng^ zur Seite stellen ließen, vergleicht mit der christlichen radikalen Ablehnung alles Sündigen, einer Ablehnung, die selbst das wissen* schaftliche Interesse am Bösen verwirft — Kierkegaards Sätze in seinem Buche „Der Begriff der Angst“ (S. 8f.) sind da* für kennzeichnend — so begreift man so recht die außer* ordentliche Wandlung, die in dieser Hinsicht vor sich ge* gangen ist. Die Stimmung unserer Untersuchungen ist „be* obachtende Ausdauer, spionierende Unerschrockenheit“ in der Hoffnung, daß gerade die teilweise Anerkenntnis der Existenzberechtigung der negativen Mächte zu einer besseren Unterscheidung des Positiven vom Negativen führen möchte, sodaß zwar das Negative nicht absolut überwunden, wohl aber eingeschränkt werden könnte94.
Dies Verwandtschafts ^Gefühl zwischen Modernität und Negativem wird in frappanter Weise klar, wenn man etwa Schopenhauers und Amiels Pessimismus miteinander ver* gleicht. Der Deutsche steht am Anfang der intensiven Er* lebnisepoche der Dekadenz, und es gärt in ihm noch der
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christliche Restbestand der radikalen Abwehr alles Nega' tiven; ihm fehlt noch gänzlich die Distanz zu seinem eigenen Erlebnis der pessimistischen Wirklichkeit, er empört sich gegen seine Konstitution, als ob sie allgemeingültig wäre, und übersieht vollkommen die individuelle Eim geschränktheit seiner Lebensstimmung* Was in der Wirk' lichkeit nur teilweise herrscht, gewinnt in seinen verblem deten Augen den Anschein uneingeschränkter Herrschaft* — Wie ganz anders Amiel! Auch dieser steht erlebnishaft im Banne der Negation. Aber welche Zurückhaltung ver' mag er schon zu bewähren, wenn er über die Struktur der Wirklichkeit urteilt! Er weiß ganz genau, daß aller Pessimismus nur individuelles Schicksal, daß die Mehrzahl der Menschen von positiven Lebenskräften erfüllt ist* Schopenhauer bürdet die Last seines Lebens dem Welt' willen auf; Amiel trägt selbst sein Mißgeschick, nimmt gleichsam sein Leid in seine (ach, zu schwachen!) Hände, betrachtet es, interessiert und naiv wie ein Naturforscher* Darum behält er auch einen bedeutsamen Rest positiver Lebendigkeit, ist ein „treuer Freund“ und sucht die Rettung seines DaseinS'Rechtes im moralischen Tun — aber nicht so wie Schopenhauer sich auf abstrakte Wünsche und Forderungen beschränkend, sondern sie in konkreto er' füllend, soweit er es vermochte*
Es wird nun die Aufgabe späterer Generationen sein, diesen Prozeß der Annäherung des Positiven an das Ne' gative immer weiter zu treiben, das Negative immer ge' nauer kennenzulernen, um mit überlegtem und überlegenem Bewußtsein die Kräfte des positiven Lebens immer mehr zu verstärken, ohne doch das Negative zu vernichten.
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Es ist ja oft bemerkt worden, daß große Menschen auch große Schwächen zeigen oder — negativ ausgedrückt — daß ein überall normal und gleichmäßig Gebildeter keine Aussicht habe, auf irgend einem Gebiete Außerordentliches zu vollbringen* Der monumentalste Beweis für die Richtig' keit dieser Meinung ist im Christentum erbracht, denn es vereinigt die höchste Bejahung des religiösen Lebens mit der Verneinung aller anderen Kulturfunktionen. Und doch gewann es eine Macht, die Staaten und Individuen bezwang trotz allem Verzicht auf Reichtum und Weisheit* Es ist auch, gar nicht falsch oder herabsetzend: von Franz von Assisi und der hl. Theresia als von Hysterikern zu sprechen» Darum bleiben sie auf ihrem Lebensgebiete doch verehrungs* würdig. Denn physiologische Minderwertigkeit ist sehr häufig mit kultureller und seelischer Überwertigkeit ver* knüpft95. Nur das Greisentum auf fast allen Tatgebieten ließ jene in einer einzigen Hinsicht, in dem religiösen Leben nämlich, eine solche Weite und Intensität entfalten, daß noch heute nach Hunderten von Jahren unsere Seelen aus dem Staube protestantisierter Zeitläufte sehnsuchtsverzehrt zu ihnen aufschauen. Vergleichen wir mit jenem Zu* stände, der die Heiligen oft genug zur ekstatisch erlebten Nähe „Gottes“ gehoben hat, unsere neueren künstlerischen oder sittlichen oder gar protestantisch*religiösen Erlebnisse: welche Kluft zwischen beiden Reichen! Wie ist unser ganzes Leben in Mitteleuropa durch den weltfreudigen Protestantismus zu einem behaglichen Spießertum geworden. Wie gar sehr hat die „treue, wohlhabige, gemütvolle Bürger* lichkeit“ — die Hegel („Ästhetik“ III, S. 122) mit Recht als Kennzeichen des neueren Deutschtums aufstellte —
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unser Dasein und unser Lebensgefühl auf eine niedere Stufe des Menschenmöglichen herabgedrückt, wenn wir es an der erhabeneren Größe Tolstois messen! Man sieht hier das welthistorische Beispiel für das Verhältnis zwischen Absolutheit und Verneinung: weil der Heilige in dem einen seelischen Erlebnis des Religiösen die höchste Seligkeit fühlen will, gibt er sein positives Leben auf allen anderen Gebieten der Negation preis» Freilich ist das innere Ver¬ ständnis dieses Zusammenhanges durch historische Über¬ legungen getrübt» Denn das Erleiden von Kummer und Bedrückungen wird mit Rücksicht auf das Vorbild Christi gefordert; weil jener litt, sollen auch wir geduldig leiden. Es läßt sich nicht leugnen, daß dieser Gedanke der Nach¬ ahmung vielfach lebenserhöhend gewirkt hat, und wir brauchen nur die folgenden Stellen aus der „Nachfolge Christi“ zu lesen, um zu fühlen, wie hier ein historistischer Gedanke den Gutherzig-Mildesten zu Sätzen treibt, aus welchen grekohaft-leuchtende Blitze fahren: „♦ ♦ . was ist es Großes, wenn du, der du Staub und ein Nichts bist, um Gottes willen dem Menschen dich unterwirfst, da ich, der Allmächtige und Allerhöchste, der ich alles aus Nichts erschaffen, mich deinetwegen dem Menschen demütig unterworfen habe? Ich bin unter allen der Demütigste und Niedrigste geworden, damit du deinen Stolz durch meine Demut überwindest. Lerne gehorchen, du Staub, lerne dich demütigen und unter aller Menschen Füße beugen, du Erde und Lehm! Lerne deinen Willen brechen und dich in alle Unterwerfung schicken. — Entbrenne wider dich selbst und laß keinen Stolz in dir aufkommen, son¬ dern erzeige dich so untertänig und gering, daß alle über
dich hingehen und wie Gassenkot dich zertreten können/4 (III. Buch, XIII. Kap.) — „Das ganze Leben Christi ist ein Kreuz und Martertum gewesen, und du suchst für dich Ruhe und Frieden? Du irrest, du irrest, wenn du etwas anderes suchst als das Leiden der Trübsale, denn dieses ganze sterbliche Leben ist voll Elend und um und um mit Kreuzen bezeichnet. Und je mehr jemand im Geiste zu* genommen hat, desto schwerer sind oft die Kreuze, die er findet; denn die Pein seiner Verbannung wächst immer mehr mit der Liebe.44 (II. Buch, XII. Kap.) Diese irdische Unseligkeit ist nicht Selbstzweck, sie hat ihr Ziel: „Aber doch ist der so vielfach Bedrängte nicht ohne Erleichterung und Trost: denn er fühlt, daß ihm aus der Ertragung seines Kreuzes die beste Frucht erwachse. Denn indem er sich ihm unterwirft, wird die ganze Last der Trübsal in die Zuversicht des göttlichen Trostes umgewandelt. Und je mehr das Fleisch durch die Drangsal aufgerieben wird, desto mehr wird der Geist durch die innere Gnade gestärkt. Und weil er gerne Christo in seinem Kreuze gleichförmig werden möchte, so zieht er bisweilen aus der Neigung zur Trübsal und Widerwärtigkeit eine solche Stärke, daß er ohne Schmerz und Drangsal nicht sein möchte; denn er glaubt Gott um so angenehmer zu sein, je mehr und größere Leiden er für ihn erdulden kann ... Es ist nicht nach des Menschen Natur, das Kreuz zu tragen, das Kreuz zu lieben, den Leib zu züchtigen und in Unterwürfigkeit zu bringen, die Ehre zu fliehen, Beschimpfungen gerne zu ertragen, sich selbst gering zu achten und zu wünschen, gering geachtet zu werden, jede Art von Widerwärtigkeiten zusamt dem Schaden zu dulden und kein Glück in dieser
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Welt zu verlangen . ♦ . Vertrauest du aber auf den Herren, so wird dir Stärke vom Himmel herab gegeben, und es werden deiner Herrschaft die Welt und das Fleisch unter' worfen werden*“
Man sieht: Thomas von Kempen mahnt den Christen zur Aufgabe, ja Vernichtung seiner egoistischen Triebe, aber er verheißt ihm eine solche Fülle der Gnade und des Segens, daß jener Preis nur gering erscheint, verglichen mit diesem göttlichen Lohne* Der Christ erduldet die Antipathie seiner Mitmenschen, um die Sympathie Gottes zu fühlen. Aus der sittlichen und naturhaften Minder' Wertigkeit oder Dekadenz wächst die religiöse Überkraft heraus, von der die katholischen Heiligenleben zahllose Beispiele beschreiben; auf allen Lebensgebieten macht sich der Christ zum Greis, um in dem Einen alle Frische um mittelbarer Jugendkraft zu gewinnen*
Freilich ist dies originale Christentum ja nicht erhalten geblieben. Die Kraft der logisch reinlichen Schematik hat die ursprüngliche Konstruktion, die zwischen Absolutheit und Negation die segensreichste Vereinigung stiftete, so ab' geändert, daß das offizielle Christentum überall die absolu' tistische Abart des Lebens begünstigte; so neigt der Katholi' zismus zum staatlichen Absolutismus und zur finanziellen Konzentration* Die Aufgabe späterer Entwicklung wird es sein, der anfänglichen Einstellung, die im Werke Tolstois ihre neueste Rechtfertigung gefunden hat, wieder zur Geh tung, zur Anerkennung zu verhelfen* Und gerade eine Kultur, die durch die Dekadenz hindurchgegangen ist, wird fähig sein: das Gefäß neuer religiöser Offenbarungen zu werden. Denn indem der Stachel des Negativen so fühlbar
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wurde, ist auch die Sehnsucht nach Heilung — und das bedeutet hier: Heiligung — stark und stärker geworden. Freilich kann es sich nicht darum handeln, irgend eine Form des Christentums ohne weiteres zu akzeptieren. Die histo- rische Verankerung in zweifelhaften Wunderberichten ist doch zu bedenklich, um noch irgend wie fruchtbar zu sein. Aber es fragt sich, ob nicht sozusagen als Notbehelf, als Lückenbüßer dennoch das Christentum zeitweise in seiner bisherigen Gestalt zu ertragen und zu tragen sei, in der Hoffnung: daß aus neuer Sehnsucht und neuem Eifer ein neuer Inhalt sich erzeugen werde. Und in der Tat ist dies die einzige Möglichkeit, aus der spießbürgerlichen Lebens-' auffassung herauszukommen und den Weg zu neuer, er* starkter Innerlichkeit zu finden — oder wenigstens zu suchen. Welche Form des Christentums werden wir wählen? Oder vielmehr: bei welchem Christentum werden wir uns religiöse Handreichung und Hilfe erbitten? Es gibt nur ein Christentum, das zu bieten vermag was wir suchen: die Mystik des Katholizismus. Es ist eine außerordent- liehe Überraschung, die jedem zuteil wird, der aus pro- testantischer Geistigkeit her in die Schriften großer Katho- liken, etwa der hl. Theresia, einzudringen sucht. Er wird mit unbeschreiblichem Erstaunen gewahr, daß hier ein Leben feste Form gefunden hat, von dem man im offizi- eilen Protestantismus nicht das geringste weiß und wissen will96. Er merkt, daß hier eine unendliche Kraft mächtig ist, die aus einer Gottesnähe stammt, von der im kirch¬ lichen Protestantismus nicht das Mindeste zu merken ist. Die Erneuerung der religiösen Kraft, die wir suchen, kann also nur durch den Katholizismus vermittelt werden.
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Viele Probleme tauchen hier auf, die wir weder andeuten, noch erörtern können, denn unser Buch soll nicht die Über' windung der Dekadenz, sondern die Analyse der Dekadenz zum Gegenstände haben* Nur dies Eine darf und muß in diesem Zusammenhänge betont werden* Es kann sich nicht darum handeln, alle negativen Erscheinungen so ohne weiteres von sich fortzuschieben und nach einer völligen Reinigung oder Befreiung von ihnen sich zu sehnen, som dern es handelt sich darum: sie sinngemäß zu nutzen, um aus ihnen Elemente der erneuerten Macht und Herrlichkeit des menschlichen Lebens zu bilden* Nicht in dem Sinne: als sollte nun die Dekadenz eine abgeschlossene Epoche sein, zu der zurück nur noch historische Kenntnis und aktuelle Abneigung eine schwankende Brücke schlagen, sondern in diesem weit höheren Sinne, daß Elemente aus der deka* denten Lebenstendenz aufbewahrt werden, um mit ihrer Hilfe eine Kraft zu erlangen, die nun freilich ihrerseits vor und über aller Greisenhaftigkeit und Müdigkeit steht* Der Dekadente bedarf z. B* nicht der christlicNmittelalterlichen Askese; weil er von selbst von vornherein auf jenem Standpunkte steht, den der Asket erst nach vielfältiger An' strengung erreicht; er ist von vornherein ein solcher, der der Welt entsagt hat; er ist ein Asket ohne Willen zur Askese, und es kommt nun alles darauf an: daß er nicht ein Asket wider Willen sei* Es kommt nun alles und jedes darauf an, daß er seine Dekadenz zum Sprungbrett zur Seligkeit mache, daß er sie also nicht beseitige oder be' täube, sondern teilweise behalte und verstärke* Wer seine unfreiwillige Asketik gutwillig auf sich nimmt, öffnet sich dadurch der himmlischen „Gnade“* Die Dekadenz muß
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so zur Vermittlerin überirdischer Glückseligkeit gewandelt werden. Nicht bloß erhalten , sondern potenzieren muß sich zum Negativen hin der Dekadente — wenigstens auf einigen Gebieten der Kultur; das heißt: statt eine greisem hafte Attitüde zu zeigen, soll er der Welt partiell absterben. An die Stelle zum Beispiel der Neigung zur Prostitution muß die Enthaltung, an die Stelle der materiellen Be- scheidenheit das Nichts-Besitzen, das Bettlertum, treten; damit auf dem anderen Gebiete der Absolutismus um so stärker und reiner werde.
Eine solche Mischung zwischen absoluten und nega¬ tiven Elementen liegt der modernen Zeit nicht völlig fern; es handelt sich nur darum, sie zur Bewußtheit zu erheben. Sie liegt vor allem dem germanischen Bewußtsein nahe. Denn es ist ein überaus charakteristischer Unterschied zwischen deutscher und romanischer Auffassung des Helden¬ tums, daß die germanischen Heldensagen und Götter¬ mythologien das Heldenhafte verschwistern mit Minder¬ wertigkeit97: Wotan ist einäugig, Tyr einhändig, viele Recken sind blind oder stumm. Romanische Gesinnung ist es, welche vom Heros auf allen Lebensgebieten die gleiche Übermenschlichkeit fordert und den Klügsten der Götter verlacht, weil er hinkt.
Man darf dies jedoch nicht so verstehen, als ob hier von einem Naturgesetz in der geistlichen Welt die Rede wäre, das man so formulieren könnte: sei nur melancholisch veranlagt, sei von Angst und Wehmut befangen, und zu¬ gleich voll Sehnsucht nach absolutem Glück, und akzep¬ tiere gutwillig diese deine Charakteranlage — so wirst du als Entgelt der göttlichen Gnade teilhaftig werden ; tritt nur
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das Irdische mit Füßen , und schon trägt dich ein feuriger Wagen zum himmlischen Jerusalem hinauf! Dem ist nicht so! Denn — wie Kierkegaard es einmal ausdrückt: „ Furcht und Zittern ♦ ♦ . ist nicht primus motor im christ' liehen Leben, denn das ist die Liebe, aber es ist, was die
Unruhe in der Uhr ist — es ist die Unruhe des christlichen
%
Lebens*“ („Buch des Richters“, S* 110L) Oder anders ausgedrückt: es muß zwar Weltentsagung in ihrer negativen Stimmung und Handlungseinstellung vorhanden sein, es muß aber außerdem das, was die christliche Theologie als „Gnade“ bezeichnet, in seiner absoluten Leistung gleich' zeitig dazu kommen, um den Ausfall durch die Weltent' sagung durch seine andersartige Kraft wieder auszugleichen* Ein schönes Beispiel dieser Vereinigung von Weltent' sagung und ebenso tiefwurzelnder Begnadigung oder trieb' haftem Leben aus dem absoluten Sein heraus stellt sich in Soren Kierkegaards Lebensgang dar* Man braucht nur seine autobiographischen Notizen im „Buche des Richters“ durchzulesen, vor allem das Kapitel über seine Schwermut, um diese Komplikation seiner Wesensanlage zu bemerken, durch die er von vornherein zum Christen' tum prädestiniert war* Freilich ist das Negative seiner Lebensstimmung: Traurigkeit, Schwermut — das zeitlich Primäre gewesen, und erst späterhin tritt das andere Eie' ment seines Charakters hervor, und zwar als Folge der seelischen Erschütterung durch den Tod seines Vaters. Aber man kann wohl annehmen, daß von vornherein die Ten' denz zum Christentum in ihm geweckt wurde — ist ihm doch von frühauf die Mahnung seines Vaters zuteil ge' worden: „Sieh zu, daß du Jesus Christus recht lieb haben
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kannst!“ („Buch des Richters“, S. 71.) Und es ist dieser christliche Einschlag nicht wie ein Wunder über den Dänen herein gebrochen; eine Charakteranlage hat jener Um' Wandlung den Boden bereitet. Kierkegaard erwähnt seine „angeborene Virtuosität, jeden betrügen zu können, als wäre er Leben und Lustigkeit“, und diese seelische, ZU' nächst formale, Elastizität ist es gewesen, die dann vom Christentum mit seinem spezifischen Inhalte erfüllt wurde. So stehen sich zwei Grundrichtungen im Charakter Kierkegaards gegenüber: einerseits der heimliche Hinter' grund seines Lebens, gehüllt in die dunkelste Schwermut und in die Nebel des tiefsten, brütenden Elendes, immer unfroh, mutig: gegen alles zu kämpfen und an allem zu zweifeln, aber zu feig: etwas zu erkennen und etwas zu besitzen; wie ein Galeerensklave mit dem Tode zusammen' gekettet: so oft das Leben sich rührt, rasselt die Kette und der Tod verdirbt alles; und andererseits der Vordergrund seines Daseins, freudevoll anscheinend, als ob die leichten Genien der Fröhlichkeit ihn umschwärmten , äußerlich glücklich und froh wie ein Gott. Man merkt, wie diese Veranlagung jene Situation später ermöglichen wird, die wir als ideal für den Dekadenten hingestellt haben: Welt' entsagung und gleichzeitige Gotteskindschaft.
Wesentlich anders aber vollzieht sich die Dialektik des
Lebens, sobald das Christliche nicht Charakteranlage, som
dern gewissermaßen medizinisches Hilfsmittel ist. Also
dann, wenn der Mensch, von Melancholie gefesselt, meint:
wie wäre es, wenn ich Christ würde? vielleicht würde ich
dann von diesem unerwünschten Lebenshemmnis frei?! ••
Der Übergang zur Christlichkeit ist hier nicht durch die
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Anlage des Gemütes, wie bei Kierkegaard vermittelt, som dern durch rein intellektuelle Überlegungen, die verstandest mäßig die Gemütstendenzen zu korrigieren suchen* Es scheint, daß diese Hoffnung regelmäßig enttäuscht wird»
Es sind hier zwei Fälle möglich* Einmal hofft der De' kadente durch göttlichen Beistand eine „Weltfreudigkeit“ zu erlangen, die ihm sonst versagt bleibt» Diese Absicht ist gänzlich erfolglos; denn sie übersieht den Kern des Christentums, der in der Hülle der Weltentsagung steckt; sie möchte den göttlichen Geist in aller Raffiniertheit be* trügen* — Oder aber der Dekadente ist ehrlich und klar, will seine negative Gemütsanlage als auferlegte Last auf sich nehmen, erfleht nun aber sozusagen als Ausgleich jene Fröhlichkeit, von der Kierkegaard spricht, als göttliche Gnadengabe. Aber es scheint, als würde sie nicht ver' liehen, wenn nicht schon die Gemütsanlage die Grundlage dafür geschaffen hat. Anders ausgedrückt: aus der Traurig' keit über Mißerfolge im sozialen, künstlerischen und körpei*' liehen Dasein erwächst keineswegs durch noch so große persönliche und bewußte Anstrengungen jene unbeschreib' liehe und rätselhafte Freude an der Wirklichkeit überhaupt98, die wir als Freude schlechtweg bezeichnen können, — falls nicht die unbewußte Gemütsanlage schon zu solcher ab' soluten Freude hintreibt99*
Ein klassisches Beispiel für diesen Kampf zwischen be' wußter und unbewußter Einstellung — jener die nach Freude ringt, und dieser die von Traurigkeit gefesselt ist — haben wir in Amiels Leben vor uns. Er weiß, daß er nichts Starkes, Bleibendes schaffen kann; er weiß, daß er gar kein Machtbedürfnis und keine Sehnsucht selbst nach
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Beachtet ^Werden besitzt* Mit achtundzwanzig fahren fühlt er sich als Greis! Was er nur noch wünscht, ist dies: das Testament seiner Gedanken und seines Herzens schreiben — sonst nichts. Eine tödliche Resignation! Doch liegt über diesen Aufzeichnungen, in denen er jedes Phänomen seines intellektuellen Sterbens notiert, ein Etwas ausgebreitet, das die letzte und schärfste Bitterkeit dieser Qualen noch ver* stärkt: der stetige Aufblick zum höchsten Herrn, aus dessen Händen er seinen Charakter als auferlegte Last entgegen* nimmt, das Vertrauen auf die Vorsehung Gottes — und die stete Klage, daß solches Vertrauen keine Erleichterung seiner Melancholie, keine Fröhlichkeit nachwirkend in ihm erzeuge. Während dreißig langer Jahre steigt diese weich* liehe Harmonie von tatloser Schwäche, Willen zum Willen und von Gottergebenheit gen Himmel. Während dreißig langer Jahre kommt kein Schrei der Anklage, vergeltungs* süchtiger Empörung über seine Lippen! Immer nur Hilfe* rufe. Ohne Erhörung, ohne „Gnade“ zu finden. — „Laß Dir an meiner Gnade genügen!“ — Amiel hat kein höheres Streben, und doch wird sie ihm nicht zuteil.
Oder wurde sie ihm nur deswegen nicht zuteil, weil er einen Gott suchte, der längst verstorben ist — den judäischen persönlichen Gott? Wäre ihm nicht vielleicht ein anderes Schicksal beschieden gewesen, hätte er eine andere Religion erleben können? — Oder trieb ihn zum Gebet doch auch jene Hoffnung, von welcher wir früher redeten — die Hoffnung auf stärkere Lebensführung im Äußeren seines Daseins?
Beides freilich hätte genügt, um seiner Seele den Zutritt zur Seligkeit zu verwehren. Der Dekadente muß entsagen
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dem äußeren Erfolge seiner Aktivität* Er muß ferner eine moderne Religiosität finden, die ihn nicht in einen so starken Konflikt mit seiner Seele bringt, wie der Glaube an die Persönlichkeit Gottes* Sie zu erzeugen ist freilich nicht seine Sache, sondern die stärkerer Menschen, religiöser Genies. Es müßte eine Lebensweise sein, die sich ganz in sich zurückziehen und allein im Gefühle ihren Gehalt dar' stellen könnte. Erst dann wäre die Möglichkeit gegeben, daß aus dem Dekadenten würde hervorgehen können der große religiöse Charakter mit all seiner schroffen Einseitig' keit, aber auch Hoheit und Zartheit* Sie ausführlicher zu lehren, muß späteren Darlegungen Vorbehalten bleiben. Denn wenn auch ihr sozusagen propädeutischer Anfang im katholischen Mystizismus liegt, so wird ihr eigentlicher Inhalt doch ein ganz anderer sein100*
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ZUSÄTZE
I
HAMLET
In der Hamlet>Tragödie findet sich die ganze Phäno menologie der Hemmung des Handelns durch das deka^ dente LebensgefühL Ja, man kann sagen, ihr Inhalt sei die unter dem Druck des Leides immer mehr sich vertiefende Willenslähmung» Das Schauspiel beginnt mit hoffnungs* vollen und heroischen Akzenten* Der „Held“ übernimmt eine in der Tat heidenmäßige Aufgabe: die Bestrafung des mächtigsten Mannes seines Landes, — idyllisch'hoffnungS' frohes Nebenspiel bringt die Gestalt Ophelias herein* Eine doppelte Aufgabe ruht auf Hamlet, die innere: Ophelias Liebe zu gewinnen, die äußere: den Mord seines Vaters zu rächen* Daß er diese nicht erfüllte und jene verließ, ist oft der Anlaß zu eindringlicher Untersuchung gewesen* Sie scheinen uns beide aus derselben Quelle zu stammen: aus dem dekadenten Grunderlebnis der Nichtigkeit und Nichts^ Würdigkeit der Welt* Man hat nach dem Wesen der Willens^ hemmung gefragt und sie im „Kummer“ gefunden 101. Das ist ganz richtig* Nur muß noch hinzugefügt werden : nicht über einen bestimmten Umstand, sondern über die Weh> existenz überhaupt, deren Wertlosigkeit hier freilich durch
18»
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ein besonders drastisches Geschehnis offenbart ist: durch den Meuchelmord an seinem Vater, Dieses plötzlich herein* brechende Licht, das alles und jedes Weltgeschehen als nichtig erscheinen läßt, hat Hamlet, der sowieso als sehr nachgiebig erscheint 102, in einer überaus gedrückten, lebens* unmutigen Stimmung getroffen. Er schwankt von vorn* herein zwischen dem Wunsch nach Zersetzung und der Sehnsucht nach dem Selbstmord. Auf diesen schwachen melancholischen Charakter trifft die Botschaft des Vaters und der Befehl zum gefahrvollsten Unternehmen, Zwar übernimmt er die Pflicht, diesem Befehl zu gehorchen. Nun aber stellt sich die Willenshemmung ein. Die Grund* anlage Hamlets ist zwar weiche Nachgiebigkeit, aber nicht diese allein ist es, die den Konflikt zwischen Aufgabe und Charakter so schwer macht, denn als er sich vom König belauscht glaubt, tötet er Polonius ohne irgend welches Zögern, und als er den Tod in England vor Augen sieht, entfaltet er eine rücksichtslose und geschickte Willenskraft, Dort also, wo er sein eigenes Leben bedroht weiß, wo also nicht er, sondern Andere ihm eine ganz bestimmte Tat nur frei geben als einzige Lebensrettung — dort handelt er mit sicherer Energie und gutem Erfolg103. Wo er selber aus eigener Initiative der Geschichte ihren Weg vorschreiben müßte, nur dort versagt er.
Dieser Mangel an Initiative und Selbständigkeit enthüllt sich in seiner Wurzel als entsprungen aus dem Mißtrauen gegenüber der ganzen Welt, aus dem Leiden an der Existenz überhaupt. In dieser Stimmung und Willensrichtung kann man zwar das eigene Leben verteidigen, aber man kann nicht gewichtige Taten vollbringen und vor allem keinen
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definitiven Entschluß fassen; denn wenn die Welt sinnlos — wozu sie wieder einrenken wollen, falls sie aus ihren Fugen ist? Dieser ungeheure Zwiespalt zwischen einem Willen, der in dieser Lage die gesammeltste Energie er* fordert, und dem Willen, der allem in der Welt und sich selbst mißtraut und durch dies Mißtrauen sich selbst schwächt, dieser Zwiespalt ist dann freilich imstande, auch äußerlich den Menschen so zu zerrütten, wie Ophelia es beschreibt (II. Akt, 1. Szene). Umso schwerer lastet dieser Zwie* Spalt, als gerade die Voraussetzung der Forderung die Erfüllung der Forderung für belanglos erklären läßt. Man mag hier an Kants Ausspruch denken, daß es sich nicht lohne zu existieren, wenn keine Gerechtigkeit in der Welt lebt.
Aus dieser allgemeinen Enttäuschung über die Welt' Wirklichkeit entspringt dann folgerichtig Hamlets Ver* halten gegenüber Ophelia. Auch hier ist der Beginn früher mit vielen Liebesschwüren sehr heißblütig gemacht, aber auch hier stürzt gleichzeitig mit dem Vertrauen zur Weltgerechtigkeit das Vertrauen zu Ophelias Liebe zu* sammen, bestärkt in diesem Versagen durch Ophelias vorgetäuschte Sprödigkeit, die ihn zum aktiven Handeln zwingen müßte. Dieser allgemeine Lebenspessimismus raubt ihm an allem die Freude, selbst an der Natur (II. Akt, 2. Szene).
Der Vertiefungsprozeß dieser Lebensschwäche ist der Inhalt des Dramas. Die Versenkung in den Gedanken von der Nichtigkeit der Welt, in den Monologen und Kirchhofsszenen so betont, endet schließlich in der resL gnierenden Hoffnung: „daß eine Gottheit unsere Zwecke
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formt, wie wir sie auch entwerfen“ (V. Akt, 2» Szene), und in der Meinung: „es waltet eine besondere Vor* sehung über dem Fall eines Sperlings* Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft; geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt, geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunft“ (V* Akt, 2. Szene).
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TH* GAUTIERS
„MADEMOISELLE DE MAUPIN"
Sehr schön formuliert in Theophile Gautiers Roman „Mademoiselle de Maupin“ eine Beschreibung des deka* denten Helden der Geschichte durch seine Geliebte die problematische Konstitution des typisch dekadenten Cha' rakters (S. 158): „In den ersten Tagen unseres Verhält' nisses hat er in mir nur das Banale gesehen, und ich denke, die Gewißheit: keinen Widerstand zu finden, hat zu seiner Entschließung viel beigetragen. Er schien große Sehnsucht nach einem Abenteuer zu haben; und ich glaubte zuerst, es wäre nur ein zu volles Herz, das nur überströmen wollte, so eine vage Liebe, wie man sie in der Jugend im Mai fühlt und die einen zur Umarmung von Baumstümpfen anstatt der Frauen treibt und zum Küssen der Blumen und Gräser. — Aber das war es nicht: — er durchdrang mich nur, um zu irgend etwas Anderem zu gelangen. Ich war ein Weg für ihn, und nicht ein Ziel. — Unter der an' scheinenden Frische seiner zwanzig Jahre, unter dem ersten Flaume der Jugend, verbarg er eine tiefe Verderbtheit. Sein Herz war wurmstichig — es war eine Frucht, die nur Asche umschloß. In diesem jungen und kräftigen Körper bewegte sich eine Seele, die so alt ist wie Saturn — eine Seele, so unheilbar unglücklich, wie jemals eine war. — Ich gestehe
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es Ihnen, Theodor, daß ich entsetzt war und daß der Schwindel mich fast ergriff, als ich mich über die schwarzen Tiefen dieses Daseins beugte* — Ihre und meine Schmerzen sind nichts im Vergleich mit seinen* — Hätte ich ihn stärker geliebt, so hätte ich ihn getötet. — Irgend etwas zieht ihn an und ruft ihn mit unbezwinglicher Kraft, das nicht zur irdischen Welt gehört und sich nicht in ihr befindet, und er kann nicht Ruhe finden bei Tag und Nacht; und wie Heliotrop in einem Keller, so dreht er sich hin und her, um sich zur Sonne zu wenden, die er nicht sieht* — Er ist einer der Menschen, deren Seele nicht völlig in den Lethestrom getaucht wurde, bevor sie mit seinem Körper verbunden ward, und die des heimatlichen Himmels Er¬ innerungen an ewige Schönheit bewahrt, die sie abmühen und quälen, da sie sich entsinnt, daß sie einst Flügel ge- habt hat und nun nur Füße besitzt.“ — Und ganz richtig und nicht in die gutmütige Schöngeistigkeit der Frau ver¬ fallend, fügt jener Theodor, dem sie diese Beschreibung und Analyse gibt, hinzu (S* 164): „Die wahrhaft, einzig unheilbar Unglücklichen sind die, deren wahnsinnige Um¬ armung das ganze Universum umfaßt, — die, welche alles und nichts wollen, und die der Engel oder die Fee bestürzt und stumm fänden, wenn sie herabstiegen und ihnen plötz¬ lich sagten: , Wünsche dir irgend etwas und du wirst es besitzen!'“
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REUELOSIGKEIT DER EIGENTLICHEN VERBRECHERNATUREN
Dostojewski erklärt in „Memoiren aus einem Totenhaus“, er habe nie die geringsten Gewissensbisse bei den Ver- brechern bemerkt (Reclam- Ausgabe, S. 22); er hörte Schil¬ derungen der entsetzlichsten Handlungen mit dem unbe¬ fangensten Lachen geben (S. 23) ; der Schmuggler, so fand er, treibt sein Geschäft aus Leidenschaft, als Beruf, durch¬ aus nicht aus Gewinnsucht (S. 28); einen der Hauptver¬ brecher charakterisiert er so: „Er war offenbar völlig er¬ haben über das Fleischliche, und es war augenscheinlich, daß seine Selbstbeherrschung keine Grenzen kannte. Er verachtete jegliche Qual und Züchtigung und fürchtete nichts in der Welt. Man sah in ihm nur allein eine end¬ lose Energie, einen Durst nach Rache, das Streben, ein ge¬ stecktes Ziel zu erreichen. Unter anderem überraschte mich auch in ihm ein gewisser seltsamer Hochmut ♦ . ♦“ (S. 78).
Ein Verbrecher, dessen Analyse des Verbrechens publi¬ ziert ist104, charakterisiert den Verbrecher folgendermaßen: er begeht klar, bewußt und vorsätzlich das Verbrechen des Verbrechens wegen; wie der gute Mensch nur seiner inneren Überzeugung folgend nur Gutes tut, so der schlechte Mensch, d.h. der Verbrecher, aus dem gleichen Grunde nur Schlechtes, worin er die Befriedigung seiner Seele findet (S* 328 f.) ;
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der Verbrecher gehört zu den festen, in sich gefesteten Charakteren, die stets Herren ihrer Leidenschaften und Be* gierden sind und sich eine subjektive Kälte bewahren, durch welche sich die ruhige und sachliche Vorbereitung der ver* brecherischen Handlungen erklärt (S. 239) ; die Triebfeder seiner Taten ist Menschenhaß, Grausamkeit und ihr Ziel: die Befriedigung des Hasses gegen die Allgemeinheit, haupt* sächlich die besitzenden Klassen, sowie die öffentliche Ord* nung und deren Diener.
Seyfarth berichtet in „Hinter eisernen Gittern“ (1898): „Da sind viele, von deren Stirne der Gottheit Siegel ver* schwunden ist. Ohne jedes Verständnis für das Verwerfe liehe, das sie getan, nähren sie in ihrem Herzen nur die Bitterkeit darüber, daß sie ihrer Freiheit beraubt sind und ihr zügelloses Leben nicht fortsetzen können; sie machen in ihrer Verworfenheit und Roheit einen geradezu dämo* nischen Eindruck, und ihr Herz gleicht dem unfruchtbaren Acker, auf dem kein gutes Samenkorn aufgeht. Dem psycho* logischen Beobachter tritt bei ihnen teils eine vollkommene Stumpfheit für alle sittlichen Gefühle entgegen, teils ge* radezu ein glühender Haß gegen alles, was nach den Ge¬ setzen der Religion und der Moral den Menschen für heilig gelten sollte. Nicht Gott, nicht Familie, nicht Freundschaft, nicht Vaterland haben irgend welchen Zauber für sie, einsam stehen sie mitten in dem Weltverkehr, nur eine Lust ist es, die in ihrem Herzen lebt — die Lust, Böses zu tun,,105.
E. A. Poe spricht in seiner Novelle „Der Dämon der Perversität“ von dem Drange, Böses zu tun, als von einer radikalen, elementarischen Bewegung, als einem Motiv, das nicht motiviert ist; „unter seinem Einflüsse handeln wir
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ohne ein verständliches Ziel, oder . . . weil wir nicht so handeln dürften. Theoretisch betrachtet gibt es keinen größeren Widersinn, aber in Wirklichkeit gibt es keine stärkere Begründung. Für gewisse Geister, in gewissen Lagen, wird sie absolut unwiderstehlich.“
Schließlich mag noch Augustinus zu Worte kommen, der in seinen „Bekenntnissen“ seinen jugendlichen Obst' diebstahl analysiert und als dessen Motiv findet „den Ekel vor der Gerechtigkeit und die Gier nach Ungerechtigkeit,“ „boshaft war ich, nur um boshaft zu sein.“ (II. Buch, Kap. 4, S. 52—58, Reclam' Ausgabe.)
Es könnten noch andere Zeugnisse herangezogen werden106, aber die eben zitierten werden wohl genügen, um — ent' gegen der Behauptung Fichtes — die These zu begründen : es gäbe Naturen, deren bewußter Lebenszweck die reuelose Vernichtung der Kulturwerte sei.
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DIE STELLUNG BAUDELAIRES ZUM PROBLEM DER DEKADENZ
Sie ist zunächst nicht ganz klar» Vielleicht fehlte ihm die erkennerische Distanz in dieser Frage, zu der er zwei«* mal Stellung genommen hat»
Seine Einleitung zum zweiten Bande seiner Übersetzungen E* A» Poes beginnt mit den Worten: „Literatur der Deka* denz! — Leere Worte, die wir oft mit dem sonoren Ton eines emphatischen Gähnens vom Munde jener rätsellosen Sphinxe fallen hören, die vor den heiligen Toren der klassL sehen Ästhetik Wache halten» Jedesmal, wenn der um widerlegliche Orakelspruch widerhallt, kann man behaupten, daß es sich um ein Werk handelt, das vergnüglicher ist als die Ilias» Ganz gewiß handelt es sich um ein Gedicht oder einen Roman, dessen sämtliche Teile geschickt auf Überraschungen eingestellt sind, dessen Stil prächtig und schmuckhaft ist, wo alle Hilfsmittel der Sprache und des Versmaßes von einer fehlerlosen Hand benutzt sind. So^ bald ich dies Urteil dröhnen höre — das, im Vorbeigehen sei es gesagt, gewöhnlich einen Lieblingsdichter trifft — werde ich immer von der Lust ergriffen, zu antworten: , Halten Sie mich für solch einen Barbaren, wie Sie einer sind, und meinen Sie, ich sei fähig, mich auf ebenso traurige Weise zu vergnügen, wie Sie es tun?' ♦ ♦ ♦ Ich glaube, ich darf diese wohlweisen Männer einmal fragen, ob sie die ganze EiteL
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keit, die ganze Nutzlosigkeit ihrer Weisheit wohl versteh en. Das Wort: Literatur der Dekadenz, enthält die Voraus- Setzung, daß es eine Stufenleiter von Literaturen gibt, eine lallende, eine kindliche, eine jünglingshafte usw. Dieser Ausdruck, meine ich, unterstellt irgend etwas Schicksal¬ haftes und Vorsehungsmäßiges, wie ein undurchdringliches Dekret; und es ist völlig ungerecht, uns den Gehorsam gegen das mysteriöse Gesetz zum Vorwurf zu machen. Alles, was ich von dem Ausspruch der Akademiker ver¬ stehen kann, ist die Behauptung: es sei schamlos, jenem Gesetze mit Vergnügen zu gehorchen und wir begingen eine Sünde, falls wir uns über unsere Schicksalsbestimmung freuten ♦ . . Aber woran die vereidigten professoralen Sach¬ verständigen nicht gedacht haben, ist die Tatsache, daß sich in der Bewegung des Lebens eine solche Kombination, eine solche Komplikation einzustellen vermag, die ihrer Schulweisheit gänzlich unerwartet kommt. Und alsdann fehlt ihrer Sprache der Ausdruck, wie zum Beispiel dann, wenn ein Volk mit der Dekadenz beginnt und anfängt mit dem, womit die Anderen aufhören — ein Phänomen, das sich vielleicht mit Abweichungen öfters einstellen wird.“
(W. W. VI, S. 1-3.)
In einem Briefentwurf, der zur Verteidigung Heinrich Heines bestimmt war, wehrt er noch schärfer das ominöse Wort ab: „Es ist ein bequemes Wort, so recht für den Gebrauch unwissender Pädagogen, ein unbestimmtes Wort, hinter dem sich unsere Faulheit und Ihre mangelnde Kenntnis des Gesetzes verbirgt.“ (E. Crepet I, S. 63.)
Ganz klar sind beide Äußerungen nicht. Sie haben im Grunde nur den Sinn, die moderne Kunst in Schutz zu
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nehmen vor den Angriffen der klassizistischen Ästhetiker und dem Anspruch der neueren Zeit auf eine Schönheit, die eine Bizarrheit enthält, gerecht zu werden* In einem Bei' spiel erläutert er seine Auffassung. „Diese Sonne, welche vor einigen Stunden alle Dinge mit ihrem geraden und weißen Lichtstrahl durchdrang, wird bald den westlichen Horizont mit vielerlei Farben überschwemmen. In den Spielen dieser sterbenden Sonne werden manche poetischen Geister neue Entzückungen finden; sie entdecken dort strahlende Säulengänge, Kaskaden aus geschmolzenem Metall, Paradiese aus Feuer, einen traurigen Glanz, die Wollust des Bedauerns, alle Magie des Traumes, alle Er' innerungen des Opiums. Und der Sonnenuntergang wird ihnen tatsächlich erscheinen wie die wundervolle Allegorie einer Seele, die beladen mit Leben hinter dem Horizonte mit einem prunkenden Schatz von Gedanken und Träumen niedersteigt.“ (W. W. VI, S. 2.)
Hiernach schiene die Dekadenzrichtung doch zum min' desten ein Niedergang zu sein. Wie sollen wir Beides ZU' sammenbringen: jenen früheren Anspruch auf höheren Wert und dieses Zugeständnis der Minderwertigkeit? das Lob' lied auf die Moderne und ihre Kennzeichnung als Nieder' gang? — Es scheint nur eine Möglichkeit der Vereinigung zu geben, indem man sagt: die moderne Epoche ist eine höhere Stufe als die Antike, weil in ihr die Dekadenz' erscheinungen auftreten, und diese Höherwertung findet ihren oberen Grund in der Auffassung, daß die Welt der Vernichtung entgegengeht. Weil die Welt dem Nichts zu' strebt, darum ist die Dekadenz — als die Vorläuferin des Nichts — ein höheres Stadium als die lebensfrohe Antike.
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HERMANN BANGS „DIE VATERLANDS LOS EN"
Stellen wir uns die Heimatlosigkeit der Seele kunsthaft umschrieben vor, so werden wir sie ganz mit allen juristischen Formalitäten absperren von den Völkern, werden ihren Träger denken als Sohn eines internationalen Artisten oder, um seine seelische Dynamik besser durchleuchten zu können, als Nachkommen eines alten Geschlechtes, das früher irgend woher verbannt aus irgend einer Volksgemein' schaft ausgestoßen sich auf eine fremde Insel flüchtete, die zwischen mehreren Ländern liegt in Ungewißheit ihrer Staats* angehörigkeit* Diesen Menschen statten wir schicksalhaft aus mit aller erdenklichen Feinfühligkeit der Seele und des Körpers, lassen ihn von minderwertigen Erziehern ohne Leitung gelassen seinen Grübeleien nachhängen, lassen dieses einsame Reflektieren sich erfüllen mit der durch* denkenden Nachfühlung der Abneigung, die ihm überall bei den umwohnenden Menschen der anderen Völker ent* gegentritt — lassen ihn dann nach solcher Vorbereitung in das Leben eintreten, schon früh vom Bewußtsein seiner Vaterlandslosigkeit und von der Sehnsucht nach Volks* gemeinschaft und durchbluteter Wurzelhaftigkeit gepeinigt,— wie wird sich sein Leben gestalten, da seine Seele schmäch* tig bleibt?
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Dies ist das Problem, welches dem Roman von Her* mann Bang „Die Vaterlandslosen“ zu Grunde liegt als psychologisches Thema. Irgend wo also im ungarischen Reiche, zwischen von Serben, Rumänen, Ungarn bewohn* ten Landstrichen liegt der Stammsitz der Grafen Ujhazy: die Insel der „Verbannten“, bei Orsowa, wohl im Flusse der Donau. Der Letzte dieses irgend woher verbannten Geschlechtes ist der, dessen Schmerz dies Buch erfüllt; seine Mutter ist eine Dänin, die in der Fremde an Heim* weh stirbt, seine Lehrer sind Griechen, Franzosen, in Paris wird er zusammen mit Indern, Dänen, Magyaren erzogen; musikalische Begabung leitet ihn zum Geigenspiel hin: er wird aristokratischer Virtuose.
Man sieht, wie vielfältig hier alle Einflüsse durchein* ander und aufeinander prallend strömen. Und niemals tritt das Positive der Geburt richtungweisend auf; vielleicht liegt hier das Konstruierte der Gestalt zu klar am Lichte — denn selbst ein Schwacher, wie Alfred de Müsset, wurde vom Bewußtsein der Adligkeit hochgehalten. Als ein völlig Passiver gleitet Ujhazy durch die Welt, nur dann und wann peitscht ihn plötzliche Verzweiflung zu unüberlegter Tat — selber ein Nichtling, wirbelt er mit im Chaos des Salon* Zigeunertums.
Von seiner Jugend her liegt auf seiner Seele der Druck des Nicht*Wissens: wohin er gehöre. Sein Leben ist nur die Auswirkung der Kindheitserlebnisse; sie häufen sich in seiner zu schwächlichen Seele, werden zu selbständiger Macht und lähmen alle Tatkraft; ein Hamlethaftes erfüllt ihn.
Die Schilderung dieser verdorbenen Kindheit ist vielleicht das Beste im vortrefflichen Buche Bangs. Das Erlöschen
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der Mutter, das Fernsein des Vaters; und dann die Zu* sammenstöße mit der Jugend des festländischen Stromufers; wenn er hinüber fährt, sammelt sich die Jugend der Ein" gesessenen, und von allen Seiten schwirren die Rufe: „Der Vaterlandslose !“ wie giftige Pfeile. Dies Erleben weist seiner vereinsamten Grübelei den Weg; er erkennt den Grund des Grames seiner Mutter und der Hoffnungslosigkeit seines Vaters und der eigenen Schwächlichkeit.
Das Milieu der Professionals, in welches ihn seine Künstlerlaufbahn führt, verstärkt solch Gefühl der Heimat" losigkeit. Hier aber tritt ihm eines Tages der kosmopolitisch empfindende Künstler entgegen, der das Heimatliche als Hemmung fühlt: „Aber Vaterland? Meine Mutter gebar mich unter dem Äquator, und mein Vater war die Hebamme, die ihr half. Ein Vaterland? das ist eine zehndoppelte Kette, die unsere Vorfahren uns um Hals und Füße schmiedeten. ♦ ♦ .Vaterland — Vaterland ist ein Gefängnis und ein Brunnen.“
Beschwert von der Erinnerung an diese übermütige Kraft" natur, fährt Ujhazy nach Dänemark, der Heimat seiner Mutter — vielleicht daß ihm hier Wurzelung im Boden ge" linge. Es scheint zunächst, als gelänge sie ihm. Die Liebes" Sehnsucht einer jungen Dänin widerhallt in seiner Seele. Aber — in dem Augenblick, in welchem er hätte handeln sollen und können, überwältigt ihn alte Erlebnis"Erinnerung, reißt ihn halb bewußt und halb wider Willen los vom mütterlichen Land. Die Erzählung seiner Fahrten läßt alles ursprünglich Chaotisch"Internationale in ihm empor" gären : er redet von Guy de Maupassant und Paul Hervieu, von Versailles, von Festen im herzoglichen Haus, von
19 v. Sydow, Dekadenz
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Berlin, wo alle Türen des Lebens offen stehen, wo man Asiens Männer sähe und die Frauen Amerikas — und mitten in diesem Erzählen werden plötzlich in ihm alle Erinne^ rungen seines Lebens wach und mächtig, und nach der kurzverfliegenden Stimmung der Erfüllung seines Wunsches und der Auslöschung seines Heimwehs überfällt ihn die alte Trostlosigkeit des Einsamseins: ausgestoßen, er, zwL sehen lauter Fremden, Ernüchtert sieht er die Kluft zwL sehen sich und den Eingesessenen sich auch hier wiederum auftun. Entkräftet legt er seine Geige beiseite und sucht auf der „Insel der Verbannten“ die Stätte für Altern, Sterben und Grab,
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HUYSMANS' ROMAN „A REBOURS“
Huysmans' Roman ist seit langem als eine der klassi* sehen Darstellungen eines dekadenten Lebens bekannt Vielleicht ist sein Ruhm über die Gebühr hinaus gesteigert worden. Denn sicherlich kann er sich an Lebhaftigkeit und Farbigkeit nicht mit den „Buddenbrooks“, nicht an Ausdehnung und Kraft mit Zolas Romanen messen, nicht in tiefdringendem Mitgefühl mit Bangs „Hoffnungslosen Geschlechtern“ wetteifern. Eine gewisse Trockenheit und Kühle, eine Stimmung objektiver Präparation liegt in diesem Buche, die wohl daraus fließen, daß alle dekadenten Eigen-' tümlichkeiten in einer einzigen Gestalt zusg.mmengefaßt sind; an die Stelle der menschlichen Vielfältigkeit ist die wissenschaftliche Analyse und Konstruktion getreten. Alle Belebungsversuche erhalten darum den Schein der Äußer* lichkeit, weil dies Leben nicht — wie in der Wirklichkeit — aus der Komplikation verschiedenartiger Tendenzen quillt, sondern deduziert ist aus einem philosophischen Prinzip. Darum sollte man „A Rebours“ nicht eigentlich einen Roman, sondern eine charakterologische Studie nennen. Freilich überspringt er auch dies eng begrenzte Schema: denn er enthält weitläufige Ausführungen über die dekadente Literatur des späten Römertums und der Neuzeit, Rezepte für die Anfertigung von Parfümen usw. Es ist dies ein
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Fehler, der fast allen Büchern Huysmans' innewohnt: die Belebung der künstlich-konstruierten Personen durch die mannigfaltigen Kenntnisse des Autors. Hat man sich aber einmal an diesen Mangel gewöhnt, und Interesse gewonnen an solcher Mittelstufe zwischen Kunstwerk und wissen- schaftlicher Schematik, so kann man dies Buch mit großem Nutzen und einigem Genüsse lesen.
In seinem Mittelpunkt steht als einzige Person der Mar- quis des Esseintes. Die Kraft seiner Vorfahren ist im Laufe der Zeiten immer schwächer geworden durch Ver- wandten-Heiraten und untätiges Leben. Seine Jugend war von vielen Krankheiten umringt und entkräftet; kritisierende Frühreife zeichnet ihn aus. Der Eintritt in die Gesellschaft und ihr Leben enttäuscht ihn ungemein; in allen Schichten und Zirkeln findet er nur Dummheit und Bosheit, auch das Weib entbehrt ihm jeder Anziehungskraft — sein Ge¬ nießen ist wesentlich intellektueller Art und zerstört sein schon anfänglich schwaches Nervensystem.
Müde, enttäuscht und mutlos zieht er sich in die Ein¬ samkeit zurück, um ungestört seinen Träumen nachzu¬ hängen. Im Weichbild von Paris baut er sich ein Haus, in welchem er völlig geschieden von der Menschheit leben will.
Die Einrichtung der Gemächer dieses Hauses ist ein¬ gehend beschrieben. Alle Möbel und Tapeten sind farbig abgestimmt, sind so getönt, daß ihre Nuancen bei Lampen¬ licht eine reizvolle Harmonie bilden — denn des Esseintes will nicht am Tage leben, sondern in der Nacht beim Schein der Lampen und Kerzen.
Bibliothek und Eßzimmer werden zu den wichtigsten Räumen dieses Hauses. In voller Abgeschiedenheit von der
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Welt, nur von zwei uralten Dienstboten versorgt, verbringt hier der Marquis seine Nächte in genießerischer Ruhe. Falls man von Ruhe hier reden darf — denn dies äußerlich so stille Dasein ist innerlich heftigst erregt: durch die Lektüre der römischen und modernen französischen Dekadenzlitera' tur, durch den Genuß aufregender moderner Gemälde und Zeichnungen, durch die Erinnerung an so manche som derbare Begebenheit seines früheren Lebens, und schließlich durch das Wachstum der Neurasthenie und ihrer Anfälle, die wie die Realisationen Baudelairescher Gedichte wirken. Um sich zu zerstreuen, umringt er sich mit merkwürdigen und exotischen Blumen; fleischfressende Pflanzen sind ihm die liebsten. Aber bald findet er kein Gefallen mehr daran, den betäubenden, dumpfen Geruch dieser Pflanzen' weit zu atmen. Andere Zerstreuungsversuche mißlingen; alle Reizmittel versagen. Die Parfüme, die er selbst in raffiniertester Abwägung herstellt, betäuben ihn zu stark; die alkoholischen Getränke, in deren verschiedenartigem Geschmack er gleichsam musikalische Genüsse findet, er' regen ihn zu sehr. Die neurasthenische Anlage seines Wesens findet keine Ablenkung und Milderung mehr. Träume quälen ihn. Bis endlich sein Arzt ihn zwingt: wieder Paris aufzusuchen und die menschliche Gemein' schaft.
Man darf diesen hier kurz skizzierten Roman nicht als Dekadenzwerk im eigentlichen Sinne bezeichnen. Denn es fehlt dem Marquis jene Sehnsucht, die wir als eines der Kennzeichen der Dekadenz notierten; er ist lediglich ein Schwächling, ohne Milderung.
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E. TARDIEUS „L'ENNUI“
Die umfangreichste Analyse des Weltschmerzes hat Emile Tardieu in seinem Buche „L'Ennui“ gegeben* Er stellt folgende Definition auf: „Der Ennui ist ein Leiden, das von unbewußter Mißstimmung bis zur überlegten Verzweiflung geht; bedingt durch die verschiedensten Ursachen, aber in der Hauptsache begründet in einer bemerklichen Verlang' samung unserer Lebensbewegung* Er ist vor allem subjektiv und äußert sich durch solche Seelenzustände, wie Überdruß, Entmutigung, Kraftlosigkeit, schlechte Laune, empörte Wut.“ Tardieus Studien, die die psychologische Phänomenologie des Ennui in aller Ausführlichkeit ausbreiten, verfolgen dies Ge-* fühl in allen Bedingungen seiner Entstehung, seiner Existenz in den verschiedenen Lebensaltern, Berufen undGeschlechtern, in seiner Bedeutung für das menschliche Geistesleben in mannig' fachen Kultursphären; besprechen die besondere Art des modernen Ennui, skizzieren das Porträt des Ennuierten, geben einige Notizen über die literarische Darstellung des Ennui, und schließen mit ein paar zweifelnd vorgebrachten Rat' Schlägen für die Überwindung der Stimmung* Was immer wiederkehrt in diesen Analysen ist das Bekenntnis zur pessk mistischen Weltauffassung und das Geständnis psychischer und körperlicher Schwäche: das Leben hat weder Grund noch Ziel, der Mensch erschöpft sich und leidet ununterbrochen.
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In kurzen Stichworten werden die Gestalten der Mme du Deffand, Chateaubriands, Mussets, Flauberts, Baudelaires, Maupassants und mancher anderen Umrissen zur Veram schaulichung dieser Auffassung. Dies Buch berührt also das Problem in allen wichtigsten Beziehungen, läßt das Schillernde seines W esen s vortrefflich zum Ausdruck kommen und gibt (ohne den Ehrgeiz: alle und jede Inhaltlichkeit er*- schöpfen zu wollen) eine Menge vortrefflicher Fingerzeige zur weiteren psychologischen und historischen Vertiefung der Untersuchung. In der Anlage ist es geradezu meisten haft; im Deutschen haben wir kein Buch, das wir ihm irgendwie an die Seite stellen könnten. Der einzige Fehler ist vielleicht die Übertreibung der Wichtigkeit des Ennui als Lebenselement; es geht doch nicht an, ihn zum Schöpfer der Wissenschaften, der Götter und vieler anderer Dinge zu stempeln. Aber diese Einseitigkeiten korrigiert der Autor selbst, wenn auch viel zu kurz, in seinem letzten Kapitel. — Schon Barbey d' Aurevilly überschätzte dies Gefühl : „Fennui est le fonds de tout et pour tous“ („Du Dandysme et de G. Brummei“ [1845], S. 69 A). — Freilich ist das, was als Ennui bezeichnet wird, eben doch zu vieldeutig, als daß nicht die Analyse aufs Unbestimmte hinauslaufen müßte, — was denn auch in Tardieus Buch oft genug passiert; gibt doch das Dict. de FAcademie franc. (1884) dies Folgende als Inhalt des Ennui an: „Lassitude, langueur, fatigue d'esprit, causee par une chose depourvue d'interet, monotone, de^ plaisante ou trop prolongee. — II se dit aussi, particuliere^ ment, de cet abattement de Tesprit qui feint qu'on est las de tout, qu'on ne trouve de plaisir ä rien. — II signifie en- core inquietude, chagrin, deplaisir, souci.“
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ANMERKUNGEN
BIBLIOGRAPHISCHE ANMERKUNGEN ZU CHARLES BAUDELAIRE
„CEuvres compfetes", 7 Bände, 1868—1870, Paris, Cal* man*Levy; sie werden zitiert als: W.W. — Die beste Aus* gäbe seiner „Fleurs du mal“ ist im Verlage von K. Wolff, München, als ein Drugulindruck erschienen» Wir zitieren jedoch auch dieses Werk nach der Ausgabe der „Oeuvres“, weil hier die ausgezeichnete Vorrede Th. Gautiers voran* gestellt ist und der Anhang eine Reihe der wichtigsten Kri* tiken des Buches enthält. Diese Ausgabe ist übrigens die dritte der „Fleurs“ (die erste 1857, vom Dichter selbst korrigiert; — die zweite 1861, desgleichen; — jene dritte erschien 1869 nach Baudelaires Tode); sie ist durch Druck* fehler und eigenmächtige V eränderungen des V erlegers (!) leider sehr entstellt. Zur Textkritik vergleiche Alexandre Ourou* sof: „Le Tombeau de Charles Baudelaire. Ouvr. publ. avec la collaboration de St. Mallarme . . ♦ prec. d'une etude sur les Textes de „Les Fleurs du mal“, 1896, Paris. — Die wesentlichste Verdeutschung der „Blumen des Bösen“ rührt von Stefan George her (2. Aufl. 1908); sie wird zitiert als: St. G.
„CE>uvres posthumes ", 1908, Verlag des Mercure de France, Paris. Hierin sind die „Journaux intimes“ („Fusees“ und „Mon coeur mis ä nu“) mit ihren vollständigen Texten
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enthalten; wir zitieren sie jedoch lieber nach ihrer ersten Ausgabe durch E. Crepet, weil sie dort numeriert sind.
„CEuvres posthumes" in Eugene Crepet: „Charles Baudelaire, oeuvres posthumes et correspondances inedites“, 1887, Paris (zitiert als: E. Crepet L); in 2. erweiterter Auflage herausgegeben von seinem Sohne JacquesCrepet, 1906, Paris.
„Lettres", 1907, Paris, Verlag des Mercure de France.
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Skizzen von Ch. Baudelaire, Photographien, Ge^ mälde, Skulpturen nach ihm veröffentlichte in größerer Zahl Feli Gautier in „Ch. Baudelaire“, 1904, Brüssel, bei E. Deman.
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1 (S. 30.) Dieses und das folgende Zitat nach Tardieu „Ennui“, S. 146 ff.
2 (S. 31.) „Reveries“, S. lOOf. — Goethe hat einen ähm liehen Zustand im Auge, wenn er von „problematischen Naturen“ spricht: „Es gibt problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug tut. Daraus entsteht ein ungeheurer Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt.“ In „Sprüche in Prosa, Maximen und Reflexionen“.
3 (S. 34.) So z. B. Ed. Scherer „Etudes sur la literature contemporaine“ (II. Bd., 1 865, III. Bd., 1 866), Bd. III, S. 1 98 ff.
4 (S. 35.) Vgl. Baudelaires „Lettres“, S.212 und 51. Er fügt hier hinzu: „diese Sprache, kann ich Ihnen versichern, ist nicht emphatisch, ich schreibe Ihnen ohne irgend eine nervöse Überreizung.“
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5 (S. 36«) Eb., S. 302; über B/s Selbstmordversuch, s. J. Crepet „Ch. Baudelaire“, S. 61 A.
6 (S.38.) „Journal“ I , S. XLI (1856); vgl. ganz ähnlich I, S. 141 (1859); vgl. auch die Beschreibung von Symonds bei James -Wobbermin „Die religiöse Erfahrung ♦ ♦ ♦“ (1907), S. 361.
7 (S. 43.) „Journal“ I, S. 98. — Auch L. Tieck läßt im „William Lovell“ (I, S. 30), den Melancholiker Balder „über dem düsteren Abgrund“ seiner Seele brüten.
8 (S. 45.) In S. Kierkegaards „Begriff der Angst“ und W. Steckeis „Nervöse Angstzustände“ (2. Aufl. 1912) liegen zwei gleichmäßig interessante, geistvolle und einseitige Mono* graphien vor.
9 (S. 48.) „Journal“ II, S. 147; ganz ähnlich muß Jules de Goncourt sein Leben empfunden haben, das Dasein galt ihm als „un cauchemar entre deux neants“ („Lettres de J. de G.“, S. 1).
Auch Chopin scheint von dieser weltschmerzlichen Stimmung tief ergriffen gewesen; wenigstens berichtet Liszt von einer Äußerung des großen Polen: er sei in der Tat schwermütig, „denn ob er auch vorübergehend heiter er- scheine, sei er doch nie von einem Gefühl befreit, das ge¬ wissermaßen den Grund seines Empfindens bilde, und für v/elches er nur in seiner eigenen Sprache den Ausdruck finde, da keine andere ein analoges Wort besitze für das polnische „Zal“. Er wiederholte es in der Tat häufig, wie wenn sein Ohr gierig diesem Klange lausche, der für ihn die ganze von einer herben Wehklage erzeugte Skala der Gefühle von der Reue bis zum Haß — gesegnete oder giftige Früchte derselben bitteren Wurzel — umschloß ♦ ♦ . Zal! . . ♦
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Verschiedenen Beziehungen unterworfen, umfaßt es alle Rührung und demütige Ergebung eines resignierten und klag* losen Schmerzes, wenn es direkt auf Tatsachen und Dinge angewandt wird ♦ ♦ ♦ das Gären des Hasses, den Aufruhr der Vorwürfe ♦ ♦ ♦ die Drohung, die unversöhnlich im Inneren grollt» ln Wahrheit färbt dies Zal alle Arbeiten Chopins mit einem bald milden, bald glühenden Widerschein* Es spricht selbst aus seinen süßesten Träumereien“ (Fr. Liszt, „Fr* Chopin“, S. 1 7 f.).
10 (S. 49.) Die Zweifelsfrage wendet sich häufig zur ein¬ facheren Negation; aus der Frage: Wozu ist die Welt? wird dann die Antwort: Die Welt ist sinnlos, ist ein schlechter Witz! So formuliert sich dann Friedrich von Schlegels Klage: „Meine Kräfte sind weit größer als meine Tätigkeit, denn noch immer kämpfe ich mit dem Gedanken „Es ist alles um¬ sonst“. Fürchterlicher Abgrund I Zu stolz, das „Etwas besser“ der Mühe für wert zu achten, sich danach zu bücken, sinken wir von der höchsten Einsicht, mit den schwächsten Men¬ schen, immer tiefer in Trägheit und Selbstverachtung » , . Aber alles ist mir unbefriedigend, leer und ekelhaft — Du selbst — ich selbst“ („Briefe an seinen Bruder Aug. Wilhelm“, S» 70).
11 (S. 51.) E. Crepet (1. Ausg.), S. 6. — Dieselbe Sehn¬ sucht spricht aus Wolf von Kalkreuth in „Gedichte“, S. 31.
12 (S. 53.) Studien über Haschisch und Opium, Wein und Opium im IV. Bd. seiner W.W.; „Fleurs du mal“, Nr. 50, 128—132; „Petits poemes . . .“, Nr. 33; „Fusees“, Nr. 17, 18; WAV. II, S. 243.
13 (S. 54.) Es ist gewiß nicht unsere Sache, hier (wo es sich primo loco um die Analyse der Struktur der Dekadenz handelt) die Typologie des Heroismus zu schreiben. Aber
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da dieser Gedanke eine so große Rolle in Baudelaires Leben spielt (vgl J. Crepet, „ Charles Baudelaire“, S. 43 ff») und von so vielen Seiten fälschlich als konstitutives Element der Dekadenz gewertet wird, können einige Worte über diesen Typus der Klärung unserer eigentlichen Problematik nur dienlich sein,
14 (S, 55,) W.W. III, 91-96, Wohl angeregt durch das Büchlein Barbey d'Aurevillys „Du Dandysme et de G. Brummei“, in welchem Barbey eine Analyse des Dandytums zu geben sucht; es wird hingestellt als die Folge des Kampfes zwischen „con venance“ und „ennui“ (S, 1 3), „le Dandysme ♦ , , se joue de la regle et pourtant la respecte encore“ (S, 15), „le Dandysme entroduit le calme antique au sein des agitations modernes“ (S. 29); man sieht: Baudelaire ist in der Grund' auffassung des Dandy abhängig von Barbey d'Aurevilly.
15 (S, 62.) Hierauf hat Alfred Adler hingewiesen.
16 (S. 63.) „Fleurs du mal“, Nr. 105:
Je suis de mon coeur le vampire,
— Un de ces grands abandonnes Au rire eternel condamnes,
Et qui ne peuvent plus sourire!
17 (S. 65.) Vgl. die Notiz bei Ribot „Psychologie des sentiments“, S. 295 A 2 (1896). — Diese Charakteristik gilt nur für eine der verschiedenen Verbrecher<Kategorien: die „geborenen Verbrecher“; vgl. den Zusatz „Reuelosigkeit der eigentlichen Verbrechernaturen“.
18 (S. 65.) Die Verbrecher sehen über sich ein Fatum, welches sie zum Verbrechen treibt. Sie sagen: „Ich habe es getan, daran ist nichts zu ändern ... Ich wollte, ich hätte
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es nicht getan, nicht tun müssen“ (Kleemann in H. Groß' Archiv, 39» Bd., S. 275),
19 (S. 67*) »Lettres“, S. 267 f.; der Brief ist an Flaubert gerichtet, der nach dem vorhergehenden Satze dieser Epistel zu urteilen, offenbar Baudelaires Meinung teilte»
20 (S. 69») So ist denn die zunächst ganz absurd klingende These: Baudelaire, „der Sänger der heißesten Wollüste“, sei unberührt gestorben, nicht so psychologisch grundlos, wie man anfangs denken möchte — wenn sie auch falsch ist»
21 (S» 70») Vgl. die Abhandlung von Zappert „Über den Ausdruck des geistigen Schmerzes im Mittelalter“ (1854).
22 (S. 78.) Z. B. „Nachfolge Christi“, II. Buch, 9. Kap», übersetzt von A. Pfister (kathol. Ausg.). — Hl» Theresia „Die Seelenburg“ (Anfang des IV. Kap. der siebenten Wohnung) in „Sämtliche Schriften“, Verlag Pustet, Regensburg.
23 (S. 81.) Auch Goethe weist dem Triebe des Nega* tiven das Dunkel als Wohnung an, indem er davon spricht, daß der Mensch eine dunkle Sehnsucht nach dem Genüsse der Schmerzen habe.
24 (S. 82.) Vgl. W. Michel „Das Teuflische und Groteske in der bildenden Kunst“, S. 4 1 ff. ( 1 9 1 1 , V erlag R. Piper & Co», München).
25 (S. 83.) Daher kommt es, daß die reinen Transzen* dentalphilosophen wie Fichte und Kant kein irgend wie in* times Verhältnis zur Natur gewonnen haben und daß die neuere Kritizistik die „Landschaft“ (im gefühlsmäßig erfa߬ baren Sinne gemeint) als ein rein ästhetisches Produkt ver* standen wissen will.
26 (S. 84.) }♦ Crepet, „Ch. Baudelaire“, S. 160 A; wie das Programm dieser Antipathie klingt ein Satz der Gon*
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courts: „Wer die Natur wahrhaft haßt, muß so veranlagt sein, daß er Gemälde der Landschaft vorzieht und Konfi* türen den Früchten“ („Idees etsensations“); vgh auch Baude* laire „Lettres“, S* 72 f*
27 (S. 85*) In seiner bekannten Vorrede zu den „Fleurs“, S* 40: „Le style de cette piece brille comme un marbre noir poli.“
28 (S* 89*) „Journal“ II, S. 1* — Das Drückende der Zeit bezeugt auch der Marquis Astolphe de Custine: „Trotz meinen achtzehn Jahren drückt mich die Zeit, als ob ich ein Sechziger wäre“ („Memoires et voyages“ [2 Bände, 1830], I, S* 167)* Sein Vergleich besteht zu Recht, denn dem Greise scheint die zeitliche Existenz eine schwere Last*
29 (S* 92*) Vgl* im einzelnen E* v* Sydow „Der Gedanke des Idealreiches * * *“ (1914)*
30 (S* 92*) Vgl* Baudelaires W*W* II, S* 218—221*
31 (S* 93*) Vgl* Baudelaires Skizze des bourgeoishaften Zukunftsstaates in seinen W.W* V, S* 7.
32 (S* 94*) Vgl* den Zusatz „Baudelaires Stellung zum Problem der Dekadenz“.
33 (S* 96.) „Correspondance“ I, S* 283: „C'est ä force de travail que j'arrive ä faire taire ma melancholie native* Mais le vieux fond reparait souvent, le vieux fond que per* sonne ne connait, la plaie profonde toujours cachee*“ — Vergleiche auch die wohl autobiographisch zu interpretieren* den Schilderungen des „Novembre“.
34 (S. 97.) „Mon cceur * * ♦“, Nr* 60 ; er fügt hinzu :„C'est bien le fait d'un paresseux nerveux“, S* 31f.
35 (S. 97.) Vgl. Laquer „Eugenik und Dysgenik“ (1914).
20 v. Sydow, Dekadenz 305
36 (S. 100.) Vgl. Byron „Der verwandelte Mißgestaltete“ (1. Szene).
37 (S. 105.) „Mademoiselle de Maupin“, S. 92 f. (1859); vgl. auch den Zusatz: Th. Gautiers „Mademoiselle de Maupin“.
38 (S. 110.) „Petits poemes . ♦ ♦“, S. 103. Er dachte wohl
an sein eigenes Schicksal, als er („Lettres“, S. 430) Shelleys
Worte zitierte: „Je sais que je suis de ceux que les hommes
n'aiment pas, mais je suis de ceux dont ils se souviennent.“
••
39 (S. 110.) Uber Baudelaires Neigung zu Mystifikationen siehe J. Crepets Buch „Charles Baudelaire“, S. 65 A.
40 (S. 111.) Vgl. A. de Custine „Aloys ou le religieux du Mont S.'Bernard“, S. 107 (2. Aufl., 1829).
•41 (S. 112.) „Lettres“, S. 522 (18. II. 1866). — Es ist einigermaßen schwer, das Unverständnis vor allem von Baudelaires Freunden begreifen zu können ; möchte man sie nicht für blind und taub und einfältig halten ? — abgesehen von dem einzigen Barbey d'Aurevilly, der in seiner Kritik der „Fleurs du mal“ den Drehpunkt des Buches erfaßte: „Son livre actuel est un drame anonyme, dont il est Facteur universel . . .“ (im „Appendice“ der „Fleurs . . .“, S. 369).
42 (S. 118.) Veröffentlicht in „G. W. Fr. Hegels Sämt- liehen Werken“, herausgeg. von G. Lasson, VII. Bd. (1913).
43 (S. 122.) Grohmann „Die Vegetarier- Ansiedlung in As- cona und die sogen. Naturmenschen im Tessin“ (1904) und verschiedene Aufsätze in der „Medizin, neurol. Wochen¬ schrift“.
44 (S. 124.) Man könnte hierbei auf die von Kurella notierte Tatsache hin weisen, daß „Abkömmlinge alter Eltern sehr viel häufiger als die jugendlicher ein reizbares oder
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melancholisches Temperament haben“ („Naturgeschichte des Verbrechers“, S ♦ 150 [1893]).
45 (S. 126.) Literatur hierüber s. u. a. in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie“, 1911, S. 893—912.
46 (S. 131.) „Mon coeur ♦ ♦ Nr. 28; vgl. die Frage im „Farnfalo“: „Mit was für einem magisch leuchtenden Reiz umhüllt das Laster gewisse Geschöpfe?“ (W.W. IV, S. 409).
47 (S. 131.) Die Goncourts schreiben: „ . . . diese Mädchen mißfallen mir durchaus nicht, sie durchbrechen die Eintönig' keit, die Korrektheit, die Ordnung der Gesellschaft; sie bringen etwas Tollheit in die Welt, treiben ihr Spiel mit den Banknoten und sind die nackte und freie und siegreiche launische Willkür, die ausgelassen eine Welt von Notaren mit ihren wohlüberlegten und berechneten Freuden durch' kreuzt“ („Journal“ II, S. 19).
48 (S. 140.) Ihr Bild in J.Crepet„Ch. Baudelaire“, S. 120 f.; vgl. über sie eb. S. 144ff. ; die Titel der ihr von B. gewidmeten Gedichte, s. eb. S. 1 1 7 A 2 ; ferner als wichtige Darstellung der Aufsatz von Leon Seche „La Presidente“ im „Mercure de France“, 1910, IV., S. 218 ff. ; sodann Notizen im „Journal“ der Goncourts und in den Briefen Jul. de Gon' courts (S. 175). — Baudelaires Briefwechsel, s. in seinen „Lettres“ und in kürzerem Bericht in J. Crepet „Ch. Baude' laire“, S. 1 17 ff. — Frau Sabatier starb 1890, nach F. Gautier „La vie amoureuse de B.“.
49 (S. 144.) Den Typus der Vestalin hier näher zu an aly' sieren, liegt außer dem Bereiche unseres Themas, denn er gehört durchaus der absoluten Sphäre an, entspricht auf der Seite der Weiblichkeit dem männlichen Platoniker. Die Charakterologie hat sich mit diesemTypus kaum beschäftigt;
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glücklicherweise ist der einzige uns bekannte Versuch der Analyse, den Bahnsen (aus seinem Nachlaß herausgegeben von R. Louis in dem Buche „Wie ich wurde, was ich war“) gemacht, eine meisterhafte Leistung* — Es steckt in Baude' laire diese antinomisclvsexuelleTendenzierung: Neigung zur Welt der Venus vulgivaga und Sehnsucht zur Vestalin* Diese treibt ihn zu Frau Sabatier hin, und jene reißt ihn wieder von ihr los: er mißtraut ihr! Aus dem Platoniker wurde er wieder zum dekadenten Lebemann*
50 (S* 145.) Einseitige Gläubige der Freudschen Doktrinen möchten versucht sein, Baudelaires Wankelmut gegenüber Frau Sabatier anders zu erklären und könnten auf diese Notiz des Dichters hinweisen: „Der frühzeitige Geschmack für Frauen* Ich vermischte den Geruch des Pelzes mit dem Duft der Frauen. Ich erinnere mich ♦ ♦ ♦ Also liebte ich meine Mutter ihrer Eleganz wegen. Ich war ein frühreifer Dandy“ („Mon coeur . * .“, Nr* 21); um sie in gewissen Zusammen** hang zu bringen mit der folgenden kurzen, brieflichen Aus' einandersetzung, in welcher sich die Erkenntnis der „infam tilen libido“ zeigt: „Was liebt denn das Kind so leidem schaftlich an seiner Mutter, an seiner Kinderfrau, an seiner Lieblingsschwester? Bloß das Wesen, welches das Kind nährt, kämmt, wäscht und es wiegt? Es ist ebenso be* deutungsvoll die sinnliche Liebkosung und die Wollust. Für das Kind drückt sich diese Liebkosung, wider Willen der Frau, durch alle graziösen Dinge der Frau aus. Das Kind liebt also seine Mutter, seine Schwester, seine Amme wegen des angenehmen Kitzels des Atlas und des Pelzwerks, des Duftes des Busens und der Haare, wegen des Klirrens der Edelsteine, wegen des Spieles der Bänder
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usw» — wegen dieses ganzen mundus muliebris, der bei dem Hemde beginnt und sich selbst durch die Möbel ausdrückt, worauf die Frau den Stempel ihres Geschlechtes drückt** („Lettres**, S» 230) ; vielleicht angeregt durch eine Stelle in Flauberts Roman „Novembre** (deutscheÜbersetzung, S. 1 1 ) ? — Zeichnungen Baudelaires nach J» Duval, s. in F» Gautier ,,Ch» Baudelaire**»
51 (S. 146») Das sogen» Schuldgefühl, welches die unter jenen Umständen leicht auftretende Neigung zur Selbst¬ befriedigung oft begleitet, ist wohl meist nichts anderes, als das maskierte Gefühl der Unzulänglichkeit»
52 (S» 147») Vgl» Feli Gautier ,,Ch» Baudelaire**, S» XI»
53 (S. 154, 156») Vortreffliche Abhandlungen über diesen Gegenstand liegen vor: Dugas „Timidite** (1898), Paul Hartenberg „Les Timides et la Timidite** (1901)»
54 (S» 157») Eine sehr ausführliche Analyse einer besonderen Form der Schüchternheit, des „Lampenfiebers**, siehe bei Hartenberg; vgl» auch die Einleitung zu Mossos „Furcht**»
55 (S» 158») So der Ausdruck Gautamo Buddhas, in ICE» Neumanns „Buddhistischer Anthologie** (1892) zitiert»
56 (S» 159») Kierkegaards „Begriff der Angst** (übersetzt von Chr» Schrempf [1912]), S» 67, stellt in der Tat diese zu allgemeine Behauptung auf: die Angst läge in jedem erotischen Genuß»
57 (S* 159») Es soll natürlich nicht bestritten werden, daß eine derartige Verwirrtheit dann zu einer dauernderen Er¬ scheinung und zur Wurzel mannigfacher sekundärer neuroti¬ scher Unbequemlichkeiten werden kann, wie sich dies nach¬ zuweisen die Freud-Schule bemüht hat; nur scheint mir der Kausalzusammenhang ein umgekehrter, als bei Freud, zu
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sein« Das heißt: mir will scheinen, daß nur auf Grund einer schon vorhandenen Schwächlichkeit der Seele die permanente Ratlosigkeit und Neurasthenie in sexualibus auftritt, deren unerkannt gebliebene Basis dann dem (noch dazu vielleicht theologisch belasteten) Menschen das Gefühl der Sündhaftig* keit eingeben kann; nicht also die Problematik des Ge* schlechtslebens ist m« E. das Primäre, sondern die Schwäche der Seele, durch die erst das Verzwickte des sexuellen Ver* haltens als eine untergeordnete Folgeerscheinung herbei* geführt wird«
58 (S« 159.) Die mit dem Beginn des Geschlechtslebens verbundene Angst ist demnach nichts anderes, als eine Sonderart der Angst, die jeden schöpferischen Trieb in dem Anfang seiner Realisation umgibt: der Geist merkt die ihn umdrohende Abgründlichkeit, deren Leere ihm den Abgrund zeigt, in welchen ihn sein Schwachwerden stürzen muß. Jede produktive Tat umrändert sich mit Angst und hin und wieder auch Sorge. Sobald aber der Geist die Festigkeit seiner Lebenshaltung gewinnt, verliert sich dieser negative Gefühlseinschlag.
59 (S. 165.) Alfredv. Winterstein hatin einem Aufsatze „Zur Psychoanalyse des Reisens“ („Imago“, I. Bd.) eine geistreiche, aber durch die Freudsche Theoretik vereinseitigte Analyse der Reiselust versucht, soweit sie ohne deutliche Motivierung auftritt« Er sucht nachzuweisen, daß als un* bewußt bleibende Motive hauptsächlich sexuelle Wünsche wirksam werden« Wir können uns dieser Auffassung in ihrer genetischen Erklärung nicht an schließen, geben gern zu, daß die Weltenbummler oft genug einen Schaden in ihrer sexuellen Sphäre tragen — nämlich neben ihrer Abneigung
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gegen das Festsitzen auf der Scholle — glauben aber beide Ne' gativitäten genetisch getrennt voneinander wirksam zu finden.
60 (S. 168.) In „Les ceuvres et les hommes“, IV. T., S. 339 ff.; vgl. }. Crepet „Ch. Baudelaire“, S. 329 f. — Auf eine Anti'Kritik der kritisierenden Thesen Barbey d'Aure' villys brauchen wir uns hier nicht einzulassen ; wir merken nur dies an: daß die Boheme nicht im Individualismus, sondern in der Dekadenz wurzelt.
bl (S. 171.) „Mon coeur ♦ ♦ ♦“, Nr. 30; der deutsche StU' dentenjargon spricht von „Budenangst“.
62 (S. 172.) Ein Brief an Baudelaire im Appendix der „Fleurs du mal“; eine Notiz über ihn bei Ch. Baudelaire, W.W. III, S. 410.
63 (S. 172.) „Lettres du Marquis A. de Custine ä Varn' hagen d'Ense et Rahel Varnhagen d'Ense“ (Brüssel, 1870; [nicht erwähnt von v. OppelmBronikowski]).
64 (S. 173.) S. 26; „dies innere Sprühen in einem solchen begabten Geiste brachte die merkwürdigen Züge einer der eigentümlichsten Naturen hervor, die es je gegeben hat und über die sich gewiß nicht leicht aburteilen läßt“ sagt Varn' hagen von Ense in der Einleitung.
65 (S. 174.) Die Geschichte dieser Verlobung hat er in seiner Novelle „Aloys ♦ . ♦“ eingehend beschrieben.
66 (S. 178.) „Memoires . . .“, I, S. 209; vgl. I, S. 26:
„ich gefalle mir in monotoner und schweigsamer Traurig'
keit, die mich verzehrt; und ich verabscheue alles, was mich
von ihr abzieht. Ich hätte nie geglaubt, daß ein Kranker so
••
sehr an seinem Übel hängen könnte.“
67 (S. 179.) Natürlich ist mit alledem nicht gesagt, daß Custine Recht hat und daß jedem Reisenden das Schicksal
311
der Entwertung der Um' und Innenwelt bevorstünde; solche Folge trifft nur den „Bummler“, in dem jenes dekadente Gefühl unbewußt vor dem Beginne seiner Fahrten steht — ein Gefühl, das erst durch das Reisen zur subjektiven Ge' wußtheit erhoben wird, so daß, was eigentlich Ursprung ist, nun als Folge erscheint; bei Psychopathen aller Art ist das „Davonlaufen als einfachste Reaktion auf VerstimmungS' zustande“ häufig zu notieren. (M. Seige, „Das Landstreicher' tum“ in H. Groß' Archiv, 50. Bd., S. 102.)
68 (S* 180.) Vgl. P. Pollitz „Die Psychologie des Ver' brechers“ (2. Aufl., 1916), S. 85; K. Wilmanns „Zur Psy' chopathologie des Landstreichers“ (1906); M. Seige „Das Landstreichertum“.
69 (S. 183.) Vgl. }. B. Scaramelli „Geistlicher Führer auf dem christlichen Tugendwege“ (5. Aufl., 1911), I, S. 378 ff.; „Denn welchem Menschen irdische Dinge nicht eine schwere Last sind, der kann vor Gott nicht ein rechter, geistlicher Mensch heißen“, — Denifle „Das geistliche Leben“ (6. Aufl., 1908) S. 297, übrigens eines der schönsten Bücher christ' licher Kontemplation.
70 (S. 191.) „Fusees“, Nr. 12; vgl. W.W. VI, S. 1. — Für Baudelaires Ästhetik wichtig W.W. II, S. 83 ff., 103, 194, 215f., 263 ff., 329; III, S. 5, 54 f.; VI, S. 1, 17.
71 (S. 196.) Vgl. E. Wasmannsdorf „Die Trauer um die Toten bei den verschiedenen Völkern“ (in der Virchow' Holtzendorffschen Sammlung gern ein verständl. Vorträge, 1885).
72 (S. 196.) Bei Greisen findet sich oft „eine sozusagen unmenschliche Unreinlichkeit“ (F. W. Müller „Leben und Tod“, S. 51).
312
73 (S. 197») So Th. Gautier in seiner Einleitung zu den „Fleurs du mal“, S. 27; vgl. in den „Fleurs“, Nr. 55, 2: , ,J'ai vu parfois au fond d'un theatre banal — Un etre, qui n'etait que lumiere, or et gaze, — Terrasser Fenorme Satan.“
74 (S. 202.) Vielleicht wird man einen Hinweis auf die Kunst der Gotik vermissen, deren Wesensschau Worringer in seinem Buche „Formprobleme der Gotik“ dargelegt hat; sie ist dort in der Tat so sehr auf das Dekadente eingestellt, daß Hamann in einer Besprechung von „Literatenhysterie“ als der Deutung des gotischen Lebensgefühles durch W orringer sprechen mochte. Sicherlich hat Worringer nicht völlig um recht; das Welt'Flüchtige der Gotik ist ja längst erkannt und unterscheidet sie von dem Barock, das mit mächtigerer Gebärdung auch das Irdische zu Gott emporzuheben ver^ sucht. Aber es ist doch einseitig, bloß auf das Negative des Gotischen so viel Gewicht zu legen; das Wesentlichste bleibt die ekstatische Ergreifung des Transzendenten, also das Religiös'Übersteigerte des Lebens. Der in der Tat vor^ handene Weltschmerz des Mittelalters hatte eben ein starkes absolutistisches Gegen* und Übergewicht!
75 (S. 202.) Analysen der Architektur der Kapelle s. bei Riegl „Die Entstehung der Barockkunst in Rom“ (1908), S. 32f., 45; Schmarsow, „Barock und Rokoko“, S. 73f.
76 (S. 203.) Wir beziehen uns bei der folgenden Darstellung auf folgende Bücher oder Abhandlungen: Rom. Rolland, „Paris als Musikstadt“ (in der Serie „Die Musik“, heraus* gegeben von R. Strauß, 1904), S. 65 ff.; „Musiciens d'au* jourd'hui“ (1908), S. 197 ff., 272 ff. — R. Rolland gibt hier eine äußerst instruktive Gegenüberstellung der Kunst Wagners und Debussys. — „Allgemeine Musik * Zeitung“, herausg.
313
von O. Lessmann, 1906, S. 234 f.; 1907, S . 328; 1908, S. 45; 1913, S. 215f. — L. Laloy „Claude Debussy“ im „Mercure musical“, 1905, S. 233 f. — E. Burlinghame'Hill „L'Oeuvre de piano de C* D.“ im „Mercure musical“, 1906,
II, S. 247 ff. (kurze Skizze seiner Entwicklung).— Vincenzo Tommasini „C. D. e l'impressionismo nella musica“ in Boccas „Rivista Mus. ItaL“, 1907, S. 157 — 167. — Hildebr. Pizetti eb. 1908, S. 350 ff. — Giac. Setaccioli „Debussy“, übers, von Fr. Spiro, 1911. — Dan. Chenneviere „C. D. et son oeuvre“, 1913.
77 (S. 206.) Zitiert bei Seidl „Vom Musikalisch'Erhabenen“ (2. Aufl.), S. 141.
78 (S. 207 ♦) Vgl. Herrn. Esswein „Alfred Kubin“ (Georg Müller, München, 1910); Kubinheft des „Ararat“, 2. Jahrg. (1921), 2. Heft (Goltzverlag, München).
79 (S. 211.) Vgl. überhaupt Romain Rolland „Michel' Ange“ (deutsche Ausgabe 1919 bei Rütten & Loening, Frankfurt a. M.).
80 (S. 215.) A. Riegl „Die Entstehung der Barockkunst in Rom“, S. 35 ff.; vgl. auch Schmarsow „Barock und Rokoko“, S. 59 f.; vor allem Thode „Michelangelo ♦ ♦
III, 2, S. 413 ff.
81 (S. 215.) Vgl. die Abhandlung im I. Bande der „Imago“.
82 (S. 218.) Vgl. hierzu u. a. Th. Piderit „Grundsätze der Mimik und Physiognomik“ (1858), S. 19, 43 f., 54 f. ; J.G. J. Engel „Ideen zu einer Mimik“, I, S. 292 ff., 356; Zappert „Über den Ausdruck des geistigen Schmerzes im Mittel' alter“ (1854; Denkschrift der Kais. Akademie der Wissen' schäften); C. Michel „Die Gebärdensprache, dargestellt für Schauspieler...“ (2. Aufl., 1886), I, S. 24, 86f„ 95, 118ff.,
314
II, Taf. I, II, V, VIII, XVIII ff,; Th. Ziehen „Psychiatrie“ (3. Aufl., 1908), S. 148 ff.
83 (S. 219.) Die Beschreibung der Trauer über den Tod Buddhas: „Als der Erhabene erloschen war, haben da gar manche Mönche, von Verlangen nicht genesen, die Hände gerungen, sind wie gebrochenen Fußes hingestürzt, heran" geschwankt und hinweggeschwankt“ (K. E. Neumann „Die Reden Gautamo Buddhas ♦ ♦ ♦“ [2 Bde., 1912], II, S. 208).
84 (S. 222.) Zitiert in Tardieus „Ennui“ aus M. du Camp, „Souvenirs literaires“, S. 65.
85 (S. 222.) Eine für einzelne Punkte ganz instruktive, aber im Kern wohl verfehlte Analyse des Buches, s. in der „Imago“, I, S. 197 ff.; vgl. auch Kubins eigene Bemerkung in „Sansara“.
86 (S. 234.) „Lettres“, S. 323; es handelt sich um die zweite Auflage der „Fleurs“.
87 (S. 234.) Es gehören der zweiten Auflage der „Fleurs du mal“ die folgenden Gedichte an (wir nennen die Nummer der „Oeuvres com.“): II, XXI, XXII, XXIV, XXXVI, XXXVIII, XXXIX, XLI, LVII, LVIII, LIX, LX, LXVI, LXXIII, LXXXI, LXXXII, LXXXIII, LXXXIV, CVII, CVIII, CXIII-CXVIII, CXXI, CXXII, CXXVI, CXLIX bis CLI ; die Einordnung dieser Gedichte ist noch von Baude" laire selbst vorgenommen. Es gehören der 3. Auflage (1869) des Buches die folgenden an: XVI, LXXXV — CIV, CX, CXI, CXXXIII; diese Gedichte wurden den 1866 in Brüssel erschienenen „Epaves de Charles Baudelaire“ entnommen, und die Verantwortung für ihre Einordnung in den Zu" sammenhang der „Fleurs“ trägt der damalige Verleger. Die Nummern der infolge der Verurteilung ausgeschiedenen Ge"
315
dichte der 1. Auflage sind: XX („Les Bijoux“), XXX („Le Lethe“)* XXXIX („A celle qui est trop gaie“), LXXX („Lesbos“), LXXXI („Femmes damnees, Delphine et Hip¬ polyte“), LXXXVII („Les Metamorphoses du vampire“); sie sind gemäß der vom Dichter selbst gebilligten zweiten Fassung abgedruckt in „Charles Baudelaire, Oeuvres post¬ humes“ (1908). Für die Fragen nach den Varianten, ersten Abdrücken in verschiedenen Zeitschriften usw. vgk Spoel- berch de Lovenjouls „Les lundis d'un chercheur“, S.249ff. (hier findet sich auch die Chronologie der Werke B.s), ferner AL Ourousofs „Le Tombeau de Charles Baudelaire ♦ ♦ ein Exemplar des zweiten Werkes findet man auf der Staats¬ bibliothek in Berlin, während das erstgenannte Buch häu¬ figer in den Bibliotheken vertreten ist.
88 (S. 235.) Der Titel in der Gesamtausgabe „Preface“ ist eine der Verböserungen, die sich der Verleger unerhörter¬ weise erlaubt hat! — Die Auffassung Stefan Georges, es sei „dem Sinne nach , Segen1 das Einleitungsgedicht der , Blumen des Bösen' und nicht das fälschlich , Vorrede' genannte“ — so sagt George in dem Prosavorwort zu seiner Verdeut¬ schung der „Fleurs“ — ist daher unrichtig.
89 (S. 235.) Wir legen dieser Analyse die 2. Ausgabe (1861) zugrunde.
90 (S. 237.) Vgl. „Mon coeur . . ♦“, Nr. 57 („Glorifier le culte des images“ [ma grande, mon unique, ma primitive passion]).
91 (S. 238.) Sie ist neuerdings mit einer Schauspielerin Daubrun identifiziert worden; vgl. Jacques Crepets „Ch. Baudelaire“, S. 427 A.
92 (S. 242.) „Lettres“, S. 434, 532, vgl. dazu S. 321: „Ich tue mir endlich darauf etwas zugute, daß in ihnen
316
irgend etwas Neues liegt, in Empfindung oder Ausdruck“; Titel' Projekte, s. S. 320, 321, 322, 446, meist „Le Spleen de Paris“ genannt* Einige Prosagedichte waren Ursprünge lieh Entwürfe für Gedichte der „Fleurs“, vgl „Lettres“, S. 221, 249, 253*
93 (S. 244.) E. Crepet „Ch* B. Oeuvres posth*“, S. 9; vgl* }. Crepet „Ch* Baudelaire“, S. 246 ff. und die Vorrede Th* Gautiers zu den „Fleurs du mal“, S. 46.
94 (S. 259.) Der moderne Mensch will allseitig sein und zugleich individuell; darum sehnt er sich nach der Einheit seiner Lebenskraft und ihrer Negativität in seiner indivi* duellen Konstellation dieser Tendenzen.
95 (S* 261.) Vgl. den Schluß von Birnbaums Buch,, Patho* logische Persönlichkeiten“ (1909).
96 (S. 265.) Dies Urteil gilt nicht von den christlichen „Gemeinschaften“.
97 (S. 267.) Vgl. die von Adler (in seiner „Studie über Minderwertigkeit von Organen“, S. 71) zitierte Stelle aus Grimms „Deutscher Mythologie“.
98 (S. 270.) Vgl. Kierkegaards „Buch des Richters“, S. 71 f.
99 (S. 270.) Anders gesagt: die christliche Lebenseinstellung ist nicht, wie dies Kierkegaard glaubte (vgl. „Begriff der Angst“, S. 1 13), eine Sache des bewußten menschlichen „guten Willens“, sondern eine aufgezwungene Charakter* anlage, die das Bewußtsein zur Gewußtheit emporhebt.
100 (S. 272.) Vgl. auch das Kapitel über „Dekadente und primitiv*expressionistische Lebensrichtung“ in Eckart von Sydows „Deutsche expressionistische Kultur und Malerei“ (Berlin, 1920).
317
101 (S. 275*) Vgl. G. Friedrich „Hamlet und seine Ge- mütskrankheit**(1899);dieFreud-WulffenscheIncest-Theorie bedarf wohl keiner Erörterung mehr.
102 (S. 276.) Vgl. I. Akt, II. Szene: wiewohl er den König haßt und seine Mutter verachtet, bleibt er auf ihre einfache Bitte in Dänemark, geht er nicht nach Wittenberg.
103 (S. 276.) Man hat diese Energie als unvereinbar mit der seelischen Schwäche hingestellt, um nach anderen Er* klärungen zu suchen; aber K. Oesterreich bestätigt jene Tat' kraft Hamlets als durchaus nicht überraschend, da er in seiner Studie „Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt und die Depersonalisation in der Psychasthenie“ („Journal für Psychologie und Neurologie", 7. — 9. Band, VIII, S. 231) darauf hinweist, daß die Psychastheniker eine intensive Kon- zentration und Leistungskraft zeigen, sobald es sich um ihren eigenen Zustand handelt.
104 (S. 281.) Mitgeteilt von Fliegenschmidt „Was ein Ver¬ brecher unter, Verbrechen* versteht“ in Groß' Archiv, 32. Bd. (1908), S. 232 ff.
105 (S. 282.) S. 28; vgl. S. 51 ff. den Bericht über seine Erfahrungen mit einer solchen dämonischen Verbrecher- natur.
106 (S. 283.) Z. B. E. Hurwicz „Die intellektuellen Ver- brechensmotive“ in H. Groß' Archiv, 60. Bd. ( 1 9 1 4), S. 1 06 f. — Rud. Senf „Geschlechtstrieb und Verbrechen**, eb., 48. Bd., S. lff. — Baudelaires Gedicht „Le Rebelle“ in den „Fleurs du mal**, Nr. 95. — Vgl. die Referate in Wulffen „Psy¬ chologie des Verbrechers** (2Bd„ 1908), 1, 161,261, 335 ff., 353 ff. — Koch „Die psychopathischen Minderwertigkeiten** (1891), S. 122. — Vgl. auch Wassermanns antisemitische
318
Äußerung: „Wir kennen sie ja ♦ . ., die alle Fundamente benagen, weil sie selbst ohne Fundament sind; die heute verwerfen, was sie gestern erobert, heute besudeln, was sie gestern geliebt, denen der Verrat eine Wollust, Würdelosig' keit ein Schmuck und Verneinung ein Ziel ist“ (aus dem Sammelbuch „Vom Judentum“)* — H. Kurelia: „wie er (der Verbrecher) nach einem Morde behaglich ißt, trinkt, schläft, ... so bleibt er unter den bunten Wechselfällen seines Lebens jovial oder doch gleichmäßig stoisch und zynisch zugleich“ („Naturgeschichte des Verbrechers“ (1893), S. 1 14, vgl. S. 235).
319
PERSONEN- UND SACHREGISTER
Abgrund 41 ff.
Adler 303, 317.
Amiel 36 ff., 43, 47, 57, 59 f., 87 f., 89, 111, 115, 166 f., 259 f., 270 f.
Augustinus 283.
Bahnsen 308.
Bang 287 ff.
Barbey d'Aurevilly 167 ff., 295, 306.
Barockkunst 216 f., 313.
Barres 1 1 5 f.
Baudelaire
Biographisches: Arbeitskraft 163.
Gleichgültigkeit gegen die Mit' menschen 107 f. Homosexualität 1 46 f.
Kindheit 97, 110, 308. Lebensstimmung 107, Naturgefühl 84 ff.
Reise 171.
Reuestimmung 66 f., 134 ff. Sehnsucht nach Schlaf 51. Selbstmordversuch 35 f. Toilettengeschmack 197. Verhältnis zu den ,,Fleurs du mal“ lllf.
Verhältnis zu Frau Sabatier 140 ff.
Werke (Bibliographisches) 299 f., 315 f.
Zeichnungen 300, 309. Zeitgefühl 88 f.
Analyse seiner Werke: „Fleurs du mal“ 233 ff.
„Petits poemes en prose“ 241 ff.
Seine Äußerungen über: Ästhetik 188 ff., 242, 244, 312. Böses 67.
Dandysmus 54 ff.
Dekadenz 45, 284 ff.
Dirnentum 131 ff.
Ennui 33.
Fortschrittstheorie 94.
Frauen 85 f., 131.
Freude am Schmerz 72.
Gefühl des Abgrunds 41 ff. Gefühl für die Menge 151. Lachen 117.
Infantile Libido 308. Produktivität 164.
Zigeunertum 169 ff.
Berlioz 58.
Birnbaum 317.
Brentano 54.
Buddha 309, 315.
Bürgertum 1 6 f., 261. Burlinghame^Hill 314.
Byron 306, du Camp 222. de Chateaubriand 96, 222. Chenneviere 314.
Chopin 301.
21*
323
Constant 157.
Crepet 300.
de Custine 172 ff., 305. Dämonisches 28, 36, 65, 67, 71, 101, 129, 146 ff., 189 f., 233, 257, 281 ff., 303 f.
Daubrun 316.
Debussy 203 ff. du Deffand 81.
Denifle 312.
Don Juan 128.
Dostojewski 281.
Dugas 156, 309.
Duval 145, 309.
Endres 152.
Ennui 28 ff. v. Ense 172 ff.
Esswein 314.
Fichte 91 f., 293.
Flaubert 30, 33, 43, 47, 56, 72, 95 f., 107, 109, 129 f., 139 f., 167 f., 193 f., 304. Fliegenschmidt 318.
Freud 158, 160, 308 ff., 318. Friedrich 318.
Gautier 30, 105, 141, 279 ff., 300. George 172, 299, 316.
Goethe 161, 259, 300, 304. de Gon court 83 f„ 139, 141, 148, 301, 304 f., 307.
Gorki 227 ff.
Gotik 313 Grabbauten 200 ff.
Greisentum 45 f., 68, 74, 79, 81, 220 f., 231, 257, 305 f., 312. Grohmann 122. de Guerin 111, 164.
Hamann 313.
Hamlet 51, 97, 228, 275 ff.
Hartenberg 156f., 309.
Hegel 35, 118, 149, 261.
Herz 1 80.
Historismus 90 f., 151.
Hurwicz 318.
Huysmans 80, 125 f., 165, 1 93 f., 291 ff.
Impressionismus 194 f., 198. JameS'Wobbermin 301.
Jodl 79.
Graf Kalkreuth 302.
Graf Keyserling 57, 126. Kierkegaard 61, 159, 161, 259, 268 f., 301, 309, 317.
Klinger 206 f.
Koch 318.
Kubin: als Schriftsteller 222 ff., sein Welterlebnis 98 ff., seine Zeichenkunst 207 ff. Kurella 306, 319.
Laloy 314.
Landstreicher 1 79 f.
Laquer 305.
Leopardi 30 f., 60 f., 126.
Louis 308.
Graf Spoelberch de Lovenjoul 316. Maeterlinck 205, 230 ff. Maskierung 8 1 f. de Maupassant 57.
„Mademoiselle de Maupin" 105 ff., 279 f.
Michel 304, 314.
Michelangelo 101, 202, 210 ff. Müller 312.
Munch 86, 207. de Müsset 97, 126.
Mussorsky 206.
Novalis 54.
Oesterreich 318.
324
Graf Ourousof 299, 316. „Künstliche Paradiese“ 52. Piderit 314.
Pizetti 314.
Poe 167 f., 282 f., 284.
Pollitz 312.
Pubertät 21 f., 72 f.
Rahel s. v. Ense.
Renan 255.
Ribot 69, 71.
Riegl 215.
Rimbaud 192,
Rolland 203 ff., 313 f. Rousseau 160.
Ruinen 198 ff.
Frau Sabatier 140 ff., 307 f. „Salomos Weisheit“ 29 f. Scaramelli 312.
Scheler 101.
Scherer 25 6«
v. Schlegel 109f., 152f., 302. Schmarsow 198.
Schminken 86. Schönaich-Carolath 46. Schopenhauer 80, 88, 259 f. Seidl 314.
Seige 312. de Senancourt 31 f.
Senf 318.
Setaccioli 314.
Seyfarth 282.
Shelley 306.
Spencer 69, 71.
Steckei 301.
Stendhal 138. v. Sydow 255, 305, 317.
Tarde 129.
Tardieu 34, 294 f. hl. Theresia 68, 261, 265, 304. Thomas v. Kempen 262 ff., 304. Tieck 301.
Tommasini 314.
Totentanz 217 f.
de Toulouse-Lautrec 101, 124, 148. Trauerkleidung 1 96 f.
Verbrecher, s. Dämonisches Vestalin 144, 147f« de Vigny 234.
Wasmannsdorf 312.
Wassermann 318 f.
Weininger 127 ff., 131.
Werner 177.
Wilmanns 312. v. Winterstein 3 1 0 f.
Worringer 313.
Wulffen 318.
Zappert 304.
Ziehen 315.
325
ANDERE ARBEITEN VON ECKART V. SYDOW
Die Entwicklung des figuralen Schmucks der christlichen Altar^Antependia und Retabula.
(Straßburg, Verlag I. E. Heitz)
Cuno Amiet, eine Einführung in sein malerisches Werk* (Straßburg, Verlag I. E. Heitz)
Schinkel als Kunstgewerbler. (Kunst u. Künstler, 191 9)
Schinkel als Landschaftsmaler* (Monatshefte für Kunstwissenschaft, 1921)
Deutsche expressionistische Kultur und Malerei* (Berlin, Furche- Verlag, 1920)
Erich Heckei als Graphiker. (Cicerone, 1921)
Exotische Kunst (Afrika und Ozeanien). (Klink-
hardt & Biermann, Leipzig, 1921)
★
Kritischer Kant'Kommentar, zusammengestellt aus den Kritiken Fichtes, Schellings, Hegels. (Halle a. S., M. Niemeyer)
Der Gedanke des IdeaLReiches in der idea^ listischen Philosophie von Kant bis Hegel.
(Leipzig, F. Meiner)
Abriß der Ästhetik. (Verlag Weimann, Leipzig, 1921)
Metaphysik der Lebens-Verneinung. (In Vorbereitg.)
*
Mosses Todestag. (Privatdruck, 1920)
Maurice de Guerins „Bacchantin“. (Übertragung, , Feuer', 1921)
SPAMERSCHE BUCHDRUCK E-R EI IN LEIPZIG
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